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Transformation fair gestalten – gewerkschaftliche Perspektiven

Artikel vom 22.03.2021

Die digitale Veranstaltung „Transformation fair gestalten“ wurde von der Schader-Stiftung gemeinsam mit der IG Metall Darmstadt und dem DGB Region Südhessen durchgeführt. Dr. Gösta Ganter von der Universität Heidelberg hat in seinem Schlusswort bei der Tagung die Relevanz des Themas hervorgehoben und zeigt mögliche weitere Schritte auf.

Transformation regional denken und demokratisch gestalten

Von Gösta Gantner[1]

 

Große Veränderungen sind das Normalste inmitten moderner, kapitalistischer Gesellschaften. Denken sie nur an den Prozess der De-Industrialisierung, den etwa Lutz Raphael in seiner Studie „Jenseits von Kohle und Stahl“ eindrücklich beschrieben hat: Der Rückbau der Schornsteine und der Übergang von einer vollbeschäftigten, boomenden Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft in Westeuropa.[2] Dieser Übergang führte zu einer Prekarisierung ganzer Bevölkerungsschichten, der Ausweitung des Niedriglohnsektors, zu weitreichenden kulturellen Veränderungen und vielem mehr.

Bezeichnenderweise werden diese vor 50 Jahren losgetretenen Umbrüche selten mit dem Begriff der Transformation, gar der „Großen Transformation“ belegt. Selbst wenn die De-Industrialisierung seit den 1970er Jahren eine Vorbedingung und auch ein Vorbote für Kommendes sein mag, so scheint sie sich zu unterscheiden von der „Großen Transformation“, die uns noch – in ihren Ausmaßen teils gewiss und teils ungewiss – bevorsteht.

Oder anders ausgedrückt: das Zauberwort unserer Zeit heißt „Transformation“. Es ist ein Begriff der Zukunft, eine Bezeichnung für Veränderungen, die erst im Werden begriffen sind. Wer darunter einen tief greifenden, die Gesamtgesellschaft in ihren verschiedenen soziokulturellen Ausprägungen betreffenden Wandel versteht, spricht von der „Großen Transformation“, in Anlehnung an das gleichnamige Buch von Karl Polanyi (1944), in dem er die Umbrüche seit dem 18. Jahrhundert in England hin zur modernen Marktgesellschaft beschreibt.[3]

Wer heute, im 21. Jahrhundert, von einer „Großen Transformation“ spricht, hat also bevorstehende Umbrüche solchen epochalen Ausmaßes vor Augen. Es sind tief greifende gesamtgesellschaftliche Umformungen gemeint, die nicht nur einzelne Sektoren betreffen, nicht nur ökonomische Konsolidierungen, rechtliche Novellen oder politische Reformen umfassen. Vielmehr tangiert die „Große Transformation“ unser Denken, Handeln und Hoffen insgesamt.[4] Die Art, wie wir arbeiten, konsumieren, lieben, kooperieren und leben wollen, wird sich drastisch verändern. Die Weise, wie wir mit der belebten und unbelebten Natur umgehen, wird eine andere sein. Zumindest sind diese Veränderungen impliziert, wenn von einer „Großen Transformation“ die Rede ist.

Das Bemerkenswerte: Das Paradigma der „Großen Transformation“ bezeichnet eine Umformung, die kommen wird. Doch geschehen die damit verbundenen Umbrüche oder werden sie gemacht? Mein Eindruck derweil: Es hat den Anschein, dass die „Große Transformation“ mehr und mehr bloß noch geschehen wird. Das betrifft die Klimakatastrophe (Stichwort: Kipppunkte) ebenso wie den Strukturwandel im postfossilen Kapitalismus globalen Ausmaßes: Die „Große Transformation“ überrollt uns. Wir Menschen werden, so paradox das klingen mag, im Anbeginn des Anthropozäns nicht mehr als Subjekte, sondern als Objekte der vor uns liegenden Geschichte wahrgenommen. Im Szenario der „Großen Transformation“ scheinen die maßgeblichen Kräfte von systemischer Art zu sein: das Klima, der Kapitalismus, die Digitalisierung. Wenn der Eindruck entsteht, dass es sich dabei um quasi naturhafte, kaum mehr gestaltbare Prozesse handelt, denen die Betroffenen weltweit ohnmächtig ausgeliefert sind, dann stehen die Verlierer*innen bereits fest. Eigentlich wir alle.

Wenn man demgegenüber die heutige Debatte, wenn man das Ansinnen hinter den Darmstädter Tagen der Transformation ernst nimmt, dann geht es darum, die Akteure eines sozial-ökologischen Umbruchs sichtbarer werden zu lassen, sie zu würdigen und sie letzten Endes dabei zu unterstützen, handlungsfähiger zu werden: Sich aus der Rolle der Objekte des Wandels in die Rolle der Subjekte zu begeben.

Hierbei sind politische Institutionen ebenso wichtig wie zivilgesellschaftliche Organisationen. Die Bedeutung der wissenschaftlichen Akteure, die Bedeutung einer transformativen Wissenschaft brauche ich im Kontext der Schader Stiftung eigentlich kaum noch hervorzuheben. Umso erstaunlicher, dass häufig den Gewerkschaften und Arbeitnehmer*innen keine herausragende Rolle als Treiber der Transformation zugesprochen wird. Denken sie an die jährlichen Treffen in Davos: Eher noch werden transformative Potentiale den dort versammelten Wirtschaftsvertreter*innen bis hin zu Hedegfonds-Konzernen zugestanden. Die gewerkschaftlichen Perspektiven geraten ins Hintertreffen. Das ist unter demokratischen Gesichtspunkten fatal. Es verstellt auch die positiven Möglichkeiten von Arbeitnehmer*innen und Gewerkschaften bei der Umgestaltung von Gesellschaften, im Sinne der Enkeltauglichkeit und im Sinne eines guten Lebens. Die bestehenden Potentiale einer sozial-ökologischen Transformation geraten nur unscharf in den Blick, wenn die gewerkschaftliche Sicht und die Gestaltungsmöglichkeiten – die Macht – von Arbeitnehmer*innen ignoriert werden. Aber hier bedarf es eben auch größerer Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Betrieben: Eine zunehmende Demokratisierung ist die Voraussetzung, um die Beschäftigten in die Transformationsprozesse besser einzubeziehen. Zugleich müssen die Beschäftigten durch die Gewerkschaften besser eingebunden werden in die transformativen Reflexionsprozesse. Mein Eindruck ist, dass auf Ebene der Funktionäre kluge und helle Köpfe, wie wir sie heute auch erleben durften, entsprechende transformative Perspektiven entwerfen. Aber wie ist es um die Weitsicht in den einzelnen Betrieben und einen über die eigenen betrieblichen Belange hinausgehenden Gestaltungswillen bestellt? Gibt es da womöglich ein „visionäres Gefälle“ zwischen Funktionären auf der einen Seite und den Gewerkschaftsmitglieder*innen in den Betrieben andererseits? Wenn die Gewerkschaften zu einer stärkeren Kraft der sozial-ökologischen Transformation werden wollen, geht es auch um die – pathetisch ausgedrückt – Arbeit an der Utopie: Vor Ort, in den einzelnen Betrieben. Gerade dort, wo aufseiten der Arbeitgeber*innen Perspektivlosigkeit herrscht.

Apropos vor Ort: Vielleicht haben Sie den Artikel am letzten Freitag in der Berliner taz gelesen, der aus Anlass dieser Darmstädter Tage der Transformation erschienen ist. Er beschreibt die Art des regionalen Umdenkens in Darmstadt. Wie das Thema Nachhaltigkeit mehr und mehr in Forschung und Politik einwandert. Wie es von dort aus die Stadtgesellschaft ergreifen könnte. Wie im Klimaschutzbeirat der Stadt Darmstadt um die richtigen regionalen Maßnahmen gerungen wird.[5]

Doch so wichtig Klimaschutz auch ist: Eine sozial-ökologische Transformation auf regionaler Ebene umfasst mehr, etwa auch die Zukunft von Arbeit und Produktion. Das war der ursprüngliche Impuls zur heutigen Tagung und er stammt von Hans-Jürgen Urban, Vorstand der IG Metall. Ihm zufolge wäre es erstrebenswert, regionale Transformationsräte ins Leben zu rufen. Urban hat diese Räte in einem Interview vor zwei Jahren einmal so umschrieben:

„Ja, wir denken an Transformationsräte vor Ort, wo Leute zusammenkommen und diskutieren, wie die Transformation in ihrer Region aussehen sollte. Was wäre nötig, um den ÖPNV auszubauen, welche Ansiedlungen, auch industrielle, sind gewünscht und wie sind Umweltinitiativen und Belegschaften einzubinden? Unternehmensentscheidungen, die das Leben ganzer Regionen prägen, müssen sich gesellschaftlich rechtfertigen.“[6]

Bei solch einem Transformationsrat ginge es darum, die transformativen Kräfte und Potentiale zu bündeln, regionale Herausforderungen zu analysieren und Visionen zu entwickeln, um sich eben nicht den bevorstehenden Umbrüchen blindlings auszuliefern, sondern sie fair und demokratisch zu gestalten.[7] Letztlich geht es um die „Kleinen Transformationen“. Hierfür müssten überall regionale Transformationsräte gegründet werden zur Arbeit an der Utopie im Hier und Jetzt. Die Beantwortung der Frage, wie wir leben wollen im Angesicht der bevorstehenden klimatischen und technologischen Veränderungen, muss auch regional und gemeinsam diskutiert werden: In regionalen Transformationsräten mit starker Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitnehmer*innen. Sie wären von dem Anspruch beflügelt, nicht nur auf Systemzwänge zu reagieren, sondern angesichts der vor uns liegenden Umbrüche positive emanzipatorische Perspektiven zu eröffnen.

 


[1] Überarbeiteter Beitrag für die Tagung „Transformation fair gestalten – gewerkschaftliche Perspektiven“ im Rahmen der 3. Darmstädter Tage der Transformation, Montag, 15. März 2021, online aus dem Schader-Forum Darmstadt.

[2]  Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2018, Berlin: 2019.

[3] Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt: 1973.

[4] Dahinter verbergen sich die drei großen Fragen der Vernunft nach Kant: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B832f.

[5] Manfred Ronzheimer, Darmstadt – die hessische Wissenschaftsstadt ergrünt, in: taz.die tageszeitung vom 12.03.2021, S. 22.

[6] Interview mit Hans-Jürgen Urban, in: Der Freitag vom 26.09.2019.

[7] Der Vorschlag von Urban wurde, wenn ich es recht sehe, noch nicht aufgegriffen. Mal wird, wie bei dem Bündnis für Transformation Region Heilbronn-Franken, die Perspektive der Unternehmer*innen fokussiert, mal wird, wie in Rheinland-Pfalz, ein solcher Rat gleich auf Länderebene angesiedelt. Siehe zum Bündnis in Heilbronn: https://buendnis-fuer-transformation.de/ und zum Rat zur Gestaltung und Begleitung des Strukturwandels (Transformationsrat): https://www.rlp.de/de/service/pressemeldungen/einzelansicht/news/News/detail/ministerpraesidentin-malu-dreyer-rheinland-pfalz-gemeinsam-zum-gewinner-des-digitalen-wandels-der-ar; aufgerufen am: 19.03.2021.

 

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