Das Recht der Kinder auf Beteiligung
Artikel vom 21.07.2015
Kinder sollen ihre Meinung sagen dürfen, wenn es um Angelegenheiten geht, die sie betreffen. Das halten inzwischen viele Menschen für richtig. Das war nicht immer so, und Vorbehalte und Einwände gibt es immer noch. Vortrag von Prof. Dr. Lothar Krappmann für den Kongress „Kinder mischen mit! Das Recht des Kindes auf Beteiligung verwirklichen“ am 21. und 22. Juli 2015 im Schader-Forum.
Mitsprache: ein Kinderrecht, kein Zugeständnis
Kinder sollen ihre Meinung sagen dürfen, wenn es um Angelegenheiten geht, die sie betreffen. Das halten inzwischen viele Menschen für richtig. Das war nicht immer so, und Vorbehalte und Einwände gibt es immer noch. Im Wort „dürfen“ klingt noch etwas von der früheren Einstellung nach. „Kinder dürfen ihre Meinung sagen“ erweckt den Eindruck, als ob es ein moralisches Zugeständnis sei: Wer Kindern wohl gesonnen ist, lässt sie ihre Meinung sagen.
Die Kinderrechtskonvention, ein Vertrag des Völkerrechts, dem bis heute fast alle Staaten der Erde beigetreten sind, erklärt die Mitsprache der Kinder anders: Im Artikel 12 dieser Konvention sichern die beigetretenen Staaten, darunter auch Deutschland, „dem Kind ... das Recht zu, [seine] Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern“. Es geht also nicht um wohlwollendes Verhalten dem Kind gegenüber, sondern um ein Recht der Kinder. Kinder sind nach diesem Vertrag übrigens alle jungen Menschen bis zum Alter von 18 Jahren.
Der sich anschließende Satz des Artikels ist mindestens ebenso wichtig: Den Kindern wird zugesagt, dass „die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife“ berücksichtigt wird. Im englischen Originaltext der Konvention wird es besonders klar ausgedrückt. Wörtlich übersetzt steht da: Den Meinungen des Kindes ist „angemessenes Gewicht zu geben“.
Es gibt keine Altersgrenze für das Mitspracherecht der Kinder
Die Konvention nimmt durchaus wahr, dass Kinder sich entwickeln, ihre Fähigkeiten zunehmen und ihre Erfahrungen sich erweitern. Die von Kindern geäußerten Meinungen spiegeln wider, inwieweit ein Kind einen Sachverhalt oder ein Problem durchschaut und Konsequenzen abschätzen kann. Dennoch setzt die Konvention keine Altersgrenze für die Berücksichtigung der Aussagen von Kindern fest. Und das hat seinen guten Grund.
Das Recht darauf, seine Meinung beitragen zu können, ist ein Menschenrecht; und ein Menschenrecht steht allen Menschen ohne Abstriche zu - unabhängig davon, wie alt ein Mensch ist, welches Geschlecht er hat oder ob er mit einer Behinderung leben muss. Wenn ein Mensch sich noch keine Meinung bilden kann, kann das nicht gegen ihn oder sie verwandt werden. Stattdessen muss er oder sie unterstützt werden. „Unterstützen“ bedeutet nicht, diesem Menschen die Entscheidung wegzunehmen. „Unterstützen“ bedeutet, diesem Menschen alles zur Verfügung zu stellen, was er oder sie braucht, um sich selber eine Meinung zu bilden.
Dies gilt für Erwachsene und Kinder, aber für Kinder in besonderer Weise. Sie müssen sich ja erst viele Informationen, Zusammenhänge und Begründungen erarbeiten. Sie haben aber nicht erst dann einen Anspruch, ihre Meinung beitragen zu können, wenn sie endlich alles durchschauen. Wer durchschaut je alles! Vielmehr tragen Kinder bei, was und wie sie es sehen und empfinden. Auch wenn sie damit möglicherweise nicht die Lösung für ein Problem haben, so geben sie auf diese Weise oft Hinweise, die für das weitere Vorgehen wichtig sind.
Wenn Erwachsene Kindern wirklich zuhören (und den Äußerungen der Kinder „Gewicht“ geben), werden sie ihnen antworten. Sie werden ebenfalls ihre Meinung sagen, Auskünfte geben, Gründe nennen. Dann können Kinder ihre Meinung überdenken oder besser erklären, was sie wollen. Es entsteht ein Gespräch. Im Allgemeinen sind Kinder durchaus bereit, zuzuhören, Gesichtspunkte anderer zu berücksichtigen und Vorschläge, in die sie sich einbezogen sehen, anzunehmen.
Es gibt Situationen, in denen Eltern und andere Verantwortliche das letzte Wort haben müssen. In vielen Fällen entscheiden sie wohlbedacht, manchmal allerdings auch nicht. Bei aller Unaufmerksamkeit und auch Fehlentscheidungen, die Eltern unterlaufen, ist jedoch schwer vorstellbar, eine grundsätzlich andere Regelung einzuführen. Wir erwarten, dass Eltern und andere, die Entscheidungen über Kinderangelegenheiten treffen, sich an dem orientieren, was in Öffentlichkeit und Fachdiskussion für angemessene Kinderbehandlung gehalten wird.
Kinder müssen Beschwerdemöglichkeiten haben
Leider gibt es immer wieder schwere, ja grauenvolle Verletzungen der Kinderrechte. Wenn die Kinderrechtskonvention den Kindern Gehör und Berücksichtigung ihrer Meinung garantiert, dann schließt das ein, dass Kinder auch das Recht zur Beschwerde haben. Die Staaten müssen Beschwerdemöglichkeiten schaffen, und die Kinder müssen diese Beschwerdemöglichkeiten auch kennen.
Zudem hat der Staat auch ein Wächteramt. Er muss einschreiten, wenn Eltern und andere Beteiligten ihre Rechte missbrauchen. Wieder setzt die Konvention den Maßstab: Bei allen Kinder betreffenden Entscheidungen und Maßnahmen müssen die Rechte der Kinder beachtet werden. Diese Bestimmung bezieht sich nicht nur auf massive Eingriffe in Kinderleben, sondern auch auf alltägliche Entscheidungen, mit denen das gemeinsame Leben gestaltet wird.
Die Mitsprache der Kinder als dialogischen Prozess begreifen
Noch einmal zum Gespräch, in dem Erwachsene und Kinder miteinander bereden, wie sie mit einem Problem, einem Vorschlag oder einer Idee umgehen wollen. Was auch immer das Ergebnis dieses Meinungsaustauschs sein wird, eine gute Lösung, ein Kompromiss oder Verdruss: Die Kinder waren einbezogen, haben vielleicht Neues erfahren und etwas hinzugelernt, und die Erwachsenen im Übrigen sicherlich auch. Immer haben die Gespräche, Aushandlungen und Entscheidungen zwei Ebenen: Zum einen nehmen Kinder Einfluss auf für sie wichtige Handlungen. Zum anderen sind es gerade diese Prozesse, in denen Kinder Kenntnisse erwerben, Urteilsfähigkeit entwickeln und erfolgreiche Strategien entdecken, wie man Anliegen vertritt, wie man andere überzeugt und wann man besser einlenkt.
Es ist wichtig, das Recht des Kindes darauf, seine Meinung beizutragen, als einen dialogischen Austausch zu begreifen. Zu kurz greift die Auffassung, dem Kind müsse irgendwann im Entscheidungsprozess Gelegenheit gegeben werden, seine Meinung vorzutragen. Das liefe dann so ab: Das Kind wird aufgefordert, sich zu äußern; Eltern, Lehrer, Erzieher hören das Kind an und halten seine Ansicht für richtig oder falsch und akzeptieren oder nicht. Fertig. Wie viel Enttäuschung, Empörung und Rückzug wird durch solches Vorgehen erzeugt!
Die meisten Probleme des menschlichen Zusammenlebens fordern als Antwort gar nicht ein Ja oder Nein. Vielmehr geht es darum, einen fairen, gerechten und liebevollen Ausgleich zu finden, der Interessen, Beziehungen und Gefühle berücksichtigen muss. Auch unausgereifte Meinungen und vorläufige Ideen müssen einbezogen werden, um jedem Beteiligten zu zeigen, dass er/sie ernst genommen wird, Einfluss hat und für das Ergebnis mitverantwortlich ist.
Auch wenn Kenntnisse und Erfahrungen fehlen, gilt das Recht auf Mitsprache
Manchmal hört man das Argument, Kinder müssten beteiligt werden, weil sie „Experten in eigener Sache“ sind. Sicher können Kinder manches beitragen, was nur sie sehen, erleben und empfinden. Aber dennoch ist dies nicht die ausschlaggebende Begründung für die Beteiligung der Kinder. Auch wenn sie wenig Kenntnis haben, auch wenn ihnen Erfahrungen fehlen oder ihr Urteil versagt, haben sie das Recht, ihre Meinung beizutragen. Sie sind Menschen, und Menschen steht es zu, ihr Zusammenleben im Kleinen und im Großen gemeinsam zu gestalten. Auch wenn sie noch jung sind und vielleicht nur Teile einer Lösung beitragen können.
Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass Kenntnis und Erfahrung auch Erwachsenen des Öfteren fehlen. Für manche Probleme gibt es Autoritäten, denen man folgen kann. Aber das Grundmodell menschlichen Zusammenlebens ist gemeinsames Überlegen, Aushandeln und Entscheiden, und dabei ist jeder Mensch, der betroffen ist, mit seinen Interessen, Rechten und Zielen und auch mit den jeweiligen Schwächen einzubeziehen, auch Kinder.
Kinder, die neu in diese Zusammenhänge hineinwachsen, sind in einer besonderen Lebenslage. Sie stehen noch in der Aufbauphase ihrer Entwicklung. Bei vielen Fragen brauchen sie Unterstützung. Die Konvention besteht darauf, dass noch nicht voll ausgebildete Fähigkeiten nicht zum Ausschluss der Kinder führen, sondern dass sie in Stand gesetzt werden, ihre Meinung zu bilden und zu sagen. Beteiligung ist der wichtigste Weg dieser Unterstützung. Diese Unterstützung ist zumeist eine zweiseitige Beziehung: Auch der Unterstützende profitiert, denn die „Neuen“ sind in gewohnte Denk-und Handlungsweisen nicht voll eingesponnen. Sie reagieren noch nicht eingepasst und regen die „Älteren“ an, noch einmal neu nachzudenken.
Sorgerecht der Eltern schließt Selbstbestimmung der Kinder nicht aus
Bei aller Beteiligung und Mitgestaltung gemeinsamen Lebens bleibt bestehen, dass wohl alle Staaten den Kindern volle Verantwortung für sich und ihr Leben erst ab dem Alter von 18 Jahren zugestehen (daher gilt die Konvention für junge Menschen bis zum Alter von 18). Für die rechtliche Verantwortung der Eltern, für Leben und Entwicklung ihrer Kinder zu sorgen, gibt es einleuchtende Gründe; sie müssen dabei allerdings die Rechte der Kinder beachten. Dieses Sorgerecht schließt aber nicht aus, dass Eltern und andere Mitverantwortliche Kindern manche Entscheidungen überlassen, auch wenn die letzte Verantwortung bei ihnen bleibt.
Es ist sogar wichtig, dass sie es tun, und zwar auch in Bereichen, in denen es ein gewisses, allerdings abschätzbares Risiko gibt. Wie sollten Kinder anders notwendige Erfahrungen mit dem Umgang mit Problemen sammeln? Wie anders sollten sie Verantwortung für ihr Handeln entwickeln? Eltern und andere Verantwortliche sollten Entscheidungen von Kindern anerkennen, die sich Kinder gut überlegt haben. Auch wenn sie selber es anders für besser halten würden, solange nicht zu erwarten ist, dass Schaden oder Nachteile für die Kinder entstehen.
Es gibt aber auch Fragen, bei denen Eltern heute begreifen, dass sie Entscheidungen von noch nicht volljährigen Kindern akzeptieren müssen, obwohl sie sorgeberechtigt sind und es anders für richtiger oder besser halten: Beispiele sind medizinische Behandlungen mit lebenslangen Folgen für den jungen Menschen, sexuelle Beziehungen und Antikonzeptiva, Schul- und Berufsentscheidungen, Eintritt in politische oder weltanschauliche Organisationen. Eltern sind allerdings verantwortlich, dass ihren jugendlichen Kindern alle Informationen gegeben und alle Konsequenzen durchgesprochen wurden. Aber am Ende werden sie die Entscheidung des jungen Menschen respektieren müssen, wenn sie ihre Beziehung nicht gefährden oder gar verlieren wollen.
Kindern eigene Entscheidungen zu überlassen, fällt dann am leichtesten, wenn es den Dialog von Eltern und anderen Erwachsenen und Kindern bereits von früh an gibt. Die Konvention setzt nicht Rechte der Kinder gegen Rechte der Erwachsenen, sondern verlangt das Gespräch zwischen den Generationen. Ein Gespräch, in dem nicht um Macht gekämpft wird, sondern Meinungen, Werte und Handlungsziele von Erwachsenen und Kindern respektiert, geklärt und berücksichtigt werden.
Viele Kinder sind mit ihrer Mitsprache in der Schule unzufrieden
Aktuelle Umfragen zeigen übrigens, dass eine Mehrzahl von Kindern sich von ihren Eltern mit ihrer Meinung akzeptiert fühlt. Unzufrieden sind dagegen viele Kinder und Jugendliche über ihre Mitsprache in der Schule. Die Schule steckt voller Aufgaben und Themen, die sowohl Lehrende als auch Lernende betreffen - von der Individualisierung der Lernprozesse, Beschämung bei Misserfolg, Randstellung von Kindern, Fragen der Disziplin oder Mobbing im Klassenzimmer. Zu sehr hängt von einzelnen Personen ab, ob Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrerinnen und Lehrern Leben und Lernen in der Schule gemeinsam gestalten. Erst allmählich breiten sich Gesprächsrunden oder Klassenräte in den Schulklassen aus, in denen Kinder auf Lernen und Sozialleben in der Schule Einfluss nehmen.
Beteiligung der Kinder ist nicht nur ein Kinderproblem. Unsere Demokratie braucht mündige Bürger, die sich miteinander über gute Lösungen für viele Probleme und auch bedrohliche Entwicklungen verständigen können. Klimawandel, Energie, Erhaltung der Natur, Nahrung für alle, weltweite soziale Ungleichheit, Krieg und Terror sind Probleme, die nicht nur mit Wissenschaft und Technik gelöst werden können, sondern immer auch nach veränderten Verhaltensweisen der Menschen verlangen. Gerechtere und solidarischere Lebensweisen müssen ausgehandelt werden. Beteiligung der Kinder von den ersten Lebensjahren an trägt dazu bei, dass heranwachsende Kinder die dafür dringend benötigten Fähigkeiten erwerben und erproben.
Professor Dr. Lothar Krappmann war von 2003 bis 2011 Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes. Zuvor erforschte er am Berliner Max-Planck-Institut die Entwicklung sozialer Fähigkeiten der Kinder in Spiel-, Freundschafts- und Lerngruppen in Kindertagesstätten, auf Spielplätzen und in der Schule.
Artikel 12, Abs. 1 der Kinderrechtskonvention:
(1) Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.
Die Kinderrechtskonvention wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 verabschiedet. In Deutschland trat die Konvention nach ihrer Ratifikation durch den Bundestag am 5. April 1992 in Kraft.