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Menschenrechte als universelles Navigationssystem?

Artikel vom 28.05.2015

Foto: Christoph Rau

„Der Senat der Schader-Stiftung hat mein Nachdenken zur Kenntnis genommen, mein Nachdenken über Ost und West, über ein Europa, das geteilt war, als ich jung war und das sich auch nach Überwindung der ideologischen Teilung immer noch schwer tut, zusammenzuwachsen, ein Europa, in dem ich es mir zur Lebensaufgabe gemacht habe, Brücken des Verstehens zu bauen, Brücken von West nach Ost ebenso wie von Ost nach West.“ Vortrag von Angelika Nußberger anlässlich der Verleihung des Schader-Preises am 28. Mai 2015

Kompassnadeln für Individuum, Staat und Gesellschaft

Einst waren es die zehn Gebote, heute sind es die Menschenrechte.

„Du sollst nicht töten“ – „Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt.“

„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Du sollst nicht ehebrechen.“ – „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens …“

„Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ -  „ Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit…“

Auf einem noch höheren Abstraktionsniveau ist kulturübergreifend die „Goldene Regel“ überliefert, die eine Richtschnur für moralisches Verhalten in der Gesellschaft vorgibt.

Zu allen Zeiten werden so Werte definiert und in griffige Formeln gefasst, die Gesellschaften und Staaten ebenso wie Individuen Orientierung zu bieten bestimmt sind. Gebraucht wird eine ideologische Klammer, ein innerer Zusammenhalt. Modern gesprochen: gebraucht wird ein Navigationssystem, das bestimmte Ziele zur Auswahl stellt, klare Anweisungen wie „Biegen Sie in 100 Metern rechts ab“ oder „Fahren Sie geradeaus“ gibt, sich dann, wenn man den Anweisungen nicht Folge leistet, neu justiert und doch, wenn die Abweichung allzu groß wird, mit zurückhaltender und doch deutlich fordernder Stimme erklärt: „Kehren Sie, wenn möglich, um.“ Wunschbild wäre, dass der Einzelne wie auch Gesellschaft und Staat sich auf diese Weise in einem unsichtbaren Koordinatensystem bewegen und sich trotz der sanften Steuerung frei fühlen, auch wenn sie wissen, dass sie dann, wenn sie gegen die Anweisungen handeln, ihr Ziel verfehlen oder gar gegen die Wand fahren.

Gibt es im 21. Jahrhundert ein derartiges Navigationssystem? Sind die in den Verfassungen und völkerrechtlichen Verträgen niedergelegten Menschenrechte dafür die „software“? Hat ein derartiges Navigationssystem einen universellen Geltungsanspruch? – Dies sind die Fragen, über die ich nachdenken will. Und damit hoffe ich zugleich, die in bisherigen Schader-Preis-Festreden angelegte metaphorische Tradition – Stephan Leibfried etwa sprach vom „Staatsschiff“ und Wolf Lepenies vom „Himmelrichtungsstreit“ – fortführen zu können. 

Abstrakte Zielvorgaben

Gleich ob man einen Neustart plant oder unterwegs die Richtung ändern will, immer ist ein Ziel einzuprogrammieren. Hinweise dazu finden sich – geht es um die übergeordneten Einheiten, Staaten und Gesellschaften – in Präambeln zu Verfassungen ebenso wie in völkerrechtlichen Verträgen. Wiederkehrend werden dort die Trias „Einhegung von Konflikten“, „Sozialer Zusammenhalt“ und „Individuelle Gerechtigkeit“ genannt.

Einhegung von Konflikten

„Frieden“ ist ein großes Ziel. In der Präambel zur Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 beruft man sich auf die Menschenrechte, die „die Grundlagen der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ darstellen. Ähnliche Formulierungen finden sich in einer Vielzahl anderer Menschenrechtskodifikationen.

Blicken wir zurück auf mehr als ein halbes Jahrhundert Erfahrung mit entsprechenden völkerrechtlichen Dokumenten. Konnten sie zum Frieden beitragen?

Zunächst einmal: sie waren Zeichen, Boten des Friedens. Nach den Gräueln eines der schrecklichsten Kriege in der Menschheitsgeschichte vermochten es im Jahr 1948 56 Staaten mit der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ ein gemeinsames Dokument auszuarbeiten und im Konsens anzunehmen, auch wenn die Tatsache, dass die Kolonialgebiete nicht beteiligt waren und sich acht Staaten, darunter auch die Staaten des sich neu formierenden Ostblocks, der Stimme enthielten, bereits deutliche Schatten vorauswarf. Als man den Schritt von den unverbindlichen Formulierungen zu echten völkerrechtlich bindenden Verträgen versuchte, ließ sich die Kluft zwischen den ideologischen Lagern nicht mehr überwinden. Die Auseinandersetzung um die Texte der Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen, formelhaft verengt auf einen Streit über die Priorität sei es der Freiheitsrechte, sei es der sozialen Rechte, dauerte Jahrzehnte. Für die dunkelste Zeit des Kalten Krieges waren die Menschenrechte keine verbindende Klammer, hatten keine friedensstiftende Wirkung, sondern vertieften den ideologischen Graben, und dies sogar dann, wenn hüben und drüben dieselben Worte verwendet wurden. Im Westen Europas dienten die Menschenrechte als Grundlage für einen engeren Zusammenschluss, immer auch mit der historischen Mission, sich von den als diktatorisch verstandenen Systemen im Einflussbereich der Sowjetunion abzugrenzen.

Es war erst die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in deren Rahmen die Menschenrechte wieder eine Kraft zur Einhegung von Konflikten entwickeln und die friedliche Wende vorbereiten konnten. Die Kaskade der Beitritte zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die eine Sogwirkung entfaltete und alle Staaten Europas außer Weißrussland und dem Vatikanstaat einschloss, erzeugte die Illusion, Frieden sei auf Grundlage gemeinsamer Werte möglich.

Aber wir können es uns nicht ersparen, genauer hinzusehen. Trotz der gemeinsamen Klammer der Europäischen Menschenrechtskonvention zeigte der Krieg auch in Europa seine hässliche Fratze. Es stimmt zwar, dass die Kriegsparteien in Jugoslawien während der kriegerischen Auseinandersetzungen und damit gerade in der Zeit, in der Menschenrechtsschutz am wichtigsten gewesen wäre, nicht an die Konvention gebunden waren. Aber wie war es in Tschetschenien? Wie war es mit dem Krieg zwischen Georgien und Russland? Wie ist es mit dem gegenwärtigen militärischen Konflikt in der Ukraine? Waffen wurden und werden auch trotz der völkerrechtlich bindenden Einigung über die Geltung der Menschenrechte eingesetzt.

Das bedeutet nicht, dass die Menschenrechte geleugnet würden. Aber vielleicht ist es schlimmer, wenn sie pervertiert werden, wenn sie von den Konfliktparteien verwendet werden, um militärische Angriffe zu rechtfertigen.
 
Der Gerichtshof in Straßburg ist in einer Vielzahl von Fällen mit der Problematik befasst gewesen, insbesondere bei zwischenstaatlichen Beschwerden. Im Konflikt zwischen Zypern und der Türkei hat er die Türkei zu einem Schadensersatz von 90 Millionen Euro verurteilt.1 Die militärischen Operationen hatten im Jahr 1974 stattgefunden, das Urteil des Gerichtshofs erging im Jahr 2014, die Forderung wurde von der Türkei negiert, es wird weiter gestritten. In einer Unzahl von Tschetschenien-Fällen wurde die Russische Föderation wegen der Verletzung des Rechts auf Leben, etwa aufgrund des Bombardements von Flüchtlingsströmen, oder wegen der Verletzung des Folterverbots verurteilt;2 wieder und wieder wurde die Verantwortung Russlands für das spurlose Verschwinden von Menschen festgestellt.3 Russland hat die Kompensationsforderungen zwar bezahlt, sich aber nie effektiv um die Aufklärung der Verbrechen bemüht oder einer Wiederholung vorbeugende Maßnahmen getroffen. Zum Ukrainekonflikt sind eine Vielzahl von Einzel- und vier Staatenbeschwerden vor Gericht anhängig. Eine Entschärfung der Feindseligkeiten scheint dies nicht zu bewirken.

Ist all dies Grund für Pessimismus, rechtfertigt die Erfahrung, den Beitrag der Menschenrechte zur Friedenssicherung in Frage zu stellen?

Es zeigt, dass es naiv wäre anzunehmen, abstrakte Ziele wie die Einhegung von militärischen  Konflikten ließe sich mit einem Navigationssystem „Menschenrechte“ einfach ansteuern. Es wäre so, als wollte man, wenn man in Darmstadt in der Goethestraße steht, als Ziel einen Kontinent eingeben, vielleicht Afrika, vielleicht Asien. Es ist kaum zu erwarten, dass man ankommt. Das Ziel wäre zu vage. Aber, und dies will ich doch festhalten, auch bei einem derart vagen Ziel würde man grundsätzlich in die richtige Richtung geschickt.

Sozialer Zusammenhalt

Vage ist auch das Ziel, über den Schutz der Menschenrechte den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu fördern. Das, was wir unter „Sozialstaatlichkeit“ verstehen, ist in der Freiheitsrechten gewidmeten Europäischen Menschenrechtskonvention fast vollständig ausgeklammert. Es findet sich das Recht auf Eigentum, aber dies schützt grundsätzlich diejenigen, die etwas haben und verlieren können. Bloße Chancen und Hoffnungen werden dagegen, wie der Gerichtshof in einer Vielzahl von Urteilen bestätigt hat, vom Eigentumsrecht nicht geschützt. Immer wieder hat sich der Gerichtshof dennoch bemüht, etwas soziales Öl in das gesellschaftliche Gefüge zu gießen, etwa, indem er Flüchtlingen ein Überlebensminimum zuerkannt hat4 oder indem er – über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinaus – auch gesetzlich festgelegte Ansprüche im sozialen Bereich eigentumsrechtlich abgesichert hat.5 Gegen die radikalen Sparmaßnahmen etwa in Griechenland6 – unter der alten Regierung – und in Portugal ist er dennoch nicht eingeschritten;7 bei Anspruchskürzungen in Ungarn hat er dagegen Grenzen aufgezeigt.8 Spannungsreich sind die Fälle in den post-kommunistischen Staaten, in denen die neuen Eigentümer mit den alten Mietern von sozialistischem Wohnungseigentum über Mietanpassungen streiten. Werden die Einnahmen so sehr reduziert, dass man das Eigentum nicht einmal mehr erhalten kann, kann dies ebenso einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention darstellen wie die Anhebung der Mieten, wenn damit die Mieter ihren einstmals rechtlich abgesicherten Status verlieren.9 

Trotz all dieser Einzelentscheidungen ist nicht zu verkennen, dass die Durchsetzung von Freiheitsrechten nur sehr bedingt zu sozialem Ausgleich beitragen kann. Soziale Grundrechte sind zwar gleichfalls umfassend in völkerrechtlichen Verträgen normiert.10 Aber ihre Interpretation und Anwendung auf den Einzelfall sind in aller Regel unverbindlich, um das dem Parlament vorbehaltene Budgetrecht nicht anzutasten. 

Individuelle Gerechtigkeit

David gegen Goliath

So bleibt die individuelle Gerechtigkeit als drittes abstraktes Ziel. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es dem Einzelnen nicht möglich, sich vor einer internationalen Instanz gegen seinen Heimatstaat zu wehren. Staaten waren „black boxes“, in denen mit Untertanen nach Belieben verfahren werden konnte. Willkür wurde nicht geahndet, gleich ob man nachts von einem schwarzen Volga abgeholt oder für eine kritische Bemerkung in einem Konzentrationslager eingesperrt wurde. Dies hat sich mit den nach 1945 ausgearbeiteten internationalen Menschenrechtskonventionen grundlegend geändert. Staaten wurden in gläserne Kästen verwandelt, in die man nicht nur hineinschauen kann, sondern die man wegen dem, was man im Innern sieht, auch zur Rechenschaft ziehen kann. „David gegen Goliath“ ist die grundlegende Konstellation bei Menschenrechtsbeschwerden: diejenigen, die Dostojewski die „Erniedrigten und Beleidigten“ nannte, können auf Augenhöhe ihre Rechte einfordern, finden außerhalb ihrer Heimatstaaten Gehör. Lassen Sie mich spektakuläre David-gegen-Goliath-Fälle ins Gedächtnis rufen: die Altenpflegerin Brigitte Heinisch, die Missstände bei der Pflege in einem Berliner Seniorenheim angemahnt und mit ihren Forderungen nach Veränderung gegen Mauern gelaufen und schließlich entlassen worden war, gewann gegen die Bundesrepublik Deutschland.11 Ebenso erfolgreich waren der wegen Mordes verurteilte John Hirst, der sich gegen den Entzug des Wahlrechts während der Haft wandte und damit seinen Heimatstaat Großbritannien in eine noch immer andauernde demokratietheoretische Grundsatzdiskussion stürzte12 und die ETA-Terroristin Inés del Río Prada, die einforderte, dass sie nach dem Ablauf der gesetzlich vorgesehenen Haftstrafe auch tatsächlich auf freien Fuß gesetzt würde und erreichte, dass der Gerichtshof Spanien wegen einer Konventionsverletzung verurteilte.13

Wahrung gesellschaftlicher Grundwerte

Nun bedeutet dies natürlich nicht, dass beim Wettstreit zwischen den Rechten des Einzelnen und den Rechten der Gesellschaft immer der Einzelne obsiegen müsste. Vielmehr kann auch das gegenteilige Ergebnis erreicht werden; auch Goliath kann erfolgreich sein. So heißt es der berühmten, im Sommer vergangenen Jahres ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs zum in Frankreich geltenden Burka-Verbot, dies sei eine „choice of society“, eine bewusste Wahl der Gesellschaft, die der Einzelne zu akzeptieren habe.

“Pluralismus und Demokratie müssen auch auf Dialog und Kompromissbereitschaft gegründet sein, die notwendigerweise verschiedene Zugeständnisse von Seiten der Individuen und Gruppen von Individuen erforderlich machen. Sie sind gerechtfertigt, um die Ideale und Werte einer demokratischen Gesellschaft aufrechtzuerhalten und zu fördern.“

In all den Fällen, in denen es um individuelle Gerechtigkeit ging, wurden verbindliche Antworten auf konkrete Fragen gegeben. Hier mag das Navigationssystem nun besser funktionieren. Man mag eine konfliktträchtige Konstellation einprogrammieren und auf der Grundlage von vielen Tausenden von Urteilen klare Richtungsangaben für die Entscheidungsfindung bekommen.

Philosophisch-moralische Grundfragen

Aber kann man einem derartigen Navigationssystem einfach vertrauen? Bedarf es nicht einer Plausibilitätsprüfung, um sicher zu gehen, dass die konkreten Einzelanweisungen auch wirklich in die richtige Richtung führen, dass das System sich nicht irrt? Ist es nicht klug trotz aller Technologiegläubigkeit eine klassische Landkarte zur Hand zu nehmen und sich einen Überblick über die Straßenführung zu verschaffen?

Ja, es lohnt sich, die Prämissen zu prüfen und kritisch zu sein.

Spricht man etwa vom „Recht auf Leben“, so baut man auf der ungeprüften Prämisse auf zu wissen, was „Leben“ ist. Wie aber, wenn diese vorgelagerte Frage gerade im Zentrum der Entscheidung steht? Im Fall Lambert v. Frankreich, der gerade die französische Gesellschaft spaltet und vor dem EGMR anhängig ist,14 geht es darum zu entscheiden, ob man einen Menschen, der sich seit Jahren im vegetativen Zustand befindet, weiter künstlich ernähren und hydrieren soll, oder ob es der Würde des Menschen mehr entspricht, wie es wörtlich heißt, „de laisser la mort faire son oeuvre“, den Tod sein Werk vollenden zu lassen. Die Ehefrau von Vincent Lambert, die ihn jahrelang gepflegt hat, fordert, ihn sterben zu lassen, seine Eltern stellen sich dagegen. Kann ein Gerichtshof auf der Grundlage eines offen formulierten „Rechts auf Leben“ eine derartige moralisch-philosophische Frage entscheiden ohne sich zu einem bestimmten Verständnis dessen, was Leben ist, zu bekennen?

Anders als die eingangs zitierten „zehn Gebote“ ist Menschenrechtsschutz radikal diesseitig, knüpft am Sichtbaren an und schneidet alle Fragen nach dem „Woher“ und „Warum“ ab. Es bleibt ein großer offener Raum, in dem das Navigationssystem auf der Oberfläche agiert.

Zudem operiert es auf der Grundlage einer weiteren problematischen Prämisse: Im Zweifel entscheidet die Mehrheit. Sprechen sich von 17 Richtern neun Richter für eine Lösung aus, so ist dies „das Recht“; die Meinung der bei der Abstimmung unterlegenen acht Richter wird als „Mindermeinung“ abqualifiziert. So entscheiden Parlamente und Völker bei Referenden. Auch Gerichte – aber ist dies haltbar? Geht es um die Auslegung des Rechts, dessen, was „Menschenrechte“ bedeuten, oder mehr noch, um die Beantwortung vorausliegender philosophisch-moralischer Fragen, greift keine Vermutung für die Richtigkeit dessen, was eine Mehrheit bestimmt.
 
Nicht, dass ein besserer Mechanismus in Sicht wäre. Aber es lohnt, die Frage zu stellen. Die Verwirklichung von Menschenrechten ist nicht wie das Ergebnis mathematischer Gleichungen, bei denen es „richtig“ und „falsch“ gibt. Man kann uneins und zur Abstimmung gezwungen sein. Aber das Ergebnis ist dann eben auch nicht mehr als der Befund: so sieht es die Mehrheit.

Raum und Zeit als entscheidende Faktoren für die Änderung von Zielvorgaben

„Ihr habt eine Erklärung gewollt für alle Menschen, für alle Nationen. Das ist die Verpflichtung, die ihr im Angesichte ganz Europas übernommen habt. (…) man darf hier nicht davor zurückschrecken, Wahrheiten für alle Zeiten und für alle Länder auszusprechen.“

So argumentierte der Abgeordnete Duport bei der Ausarbeitung der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im August 1789.15 Dem Pathos der Französischen Revolution entgegengesetzt gibt es aber – so die Erfahrung nach 60 Jahren Menschenrechtsrechtsprechung – keine „Wahrheiten für alle Zeiten und alle Länder“. Vielmehr sind Raum und Zeit entscheidende Faktoren für ihre Änderung der Menschenrechte.

Änderung von grundlegenden Wertvorstellungen in historischer Perspektive

Dabei wirkt das Bekenntnis zu einer dynamischen Entwicklung der Menschenrechte auch in einer dem Fortschritt zunehmend skeptisch gegenüberstehenden Zeit fort. Die „neue“, die weitergehende Interpretation der ursprünglichen Rechtsverbürgungen gilt als per se besser. Lassen Sie mich drei Beispiele geben: Körperlichkeit und Erziehung, Verbrechen und Strafe und die Änderung des Verständnisses von Familie.

In dem wegweisenden Urteil Tyrer v. Großbritannien16 hat der EGMR im Jahr 1978 entschieden, dass die auf der Isle of Man in Schulen noch praktizierte Prügelstrafe gegen die Konvention verstieße. Damit hat er bewusst ein eigentlich als „absolut“ verstandenes Recht, das „Verbot der erniedrigenden Strafe“, dem Wandel der Zeit unterworfen. Die Wertung einer bei Ausarbeitung der Konvention im Jahr 1950 noch allgemein akzeptierten Erziehungsmethode wurde knapp 40 Jahre später zu einem menschenrechtlichen „no go“ erklärt.

Für die schlimmsten Verbrecher wurde Mitte des letzten Jahrhunderts noch die Todesstrafe vorgesehen; auch nach dem ursprünglichen Text der Konvention ist sie erlaubt. Damit wird akzeptiert, dass derjenige, der ein Verbrechen begangen hat, aus der Gemeinschaft für immer auszuschließen sei. Mit der Todesstrafe ebenso wie mit einer unabänderbar lebenslangen Strafe geht zudem ein vollständiger Verlust aller sonstigen Rechte einher. Diesem grundsätzlich auf Vergeltung aufbauenden Gedanken entgegengesetzt wurde in der Folge nicht nur das Verbot der Todesstrafe zu einem Teil der europäischen Identität entwickelt, sondern auch die Haftstrafe dominant auf Resozialisation ausgerichtet, so dass – abgesehen von der Einschränkung der Freiheit – alle Rechte grundsätzlich erhalten bleiben sollen, etwa auch das Wahlrecht17 oder das Recht, Kinder zu zeugen.18 Der Verbrecher ist, anders als nach früherem Verständnis, nicht mehr der Ausgestoßene, sondern bleibt Mitglied der Gesellschaft.

Als drittes Beispiel mag das geänderte Familienverständnis dienen, das in den 50er Jahren den Ausschluss und die Diskriminierung all jener, die die Kernfamilie in ihrem Bestand gefährdeten,  insbesondere der nicht-ehelichen Kinder und der biologischen Väter, guthieß. Heute sind die Familienbande lose geworden und es geht um Einzelfallgerechtigkeit, wobei die besten Interessen des Kindes im Mittelpunkt stehen sollen. Dies kann etwa auch die Anerkennung der Leihmutterschaft erforderlich machen.19 

Dies bedeutet, wie im echten Leben, dass das Navigationssystem laufend angepasst werden muss. Wer nicht regelmäßig einen „update“ erhält, fährt in die falsche Richtung. Zugleich führt es aber auch zu einer Relativierung der auf Menschenrechte gegründeten Vorgaben. Sollten nicht Grund- und Menschenrechte sich, im Gegensatz zum täglich geänderten Gesetzesrecht, gerade dadurch auszeichnen, dass sie die Zeiten überdauern und Standards vorgeben, an denen – gleich welcher Zeitgeist dominiert – nicht zu rütteln ist?

Kulturell-territoriale Bedingtheit von Wertvorstellungen

Der Annahme der Universalität der Menschenrechte steht zudem auch ihre kulturell-territoriale Bedingtheit entgegen. Wieder mögen drei Beispiele genügen. Blasphemie war zum Schutz der Ehre Gottes – rechtsgeschichtlich betrachtet – in den meisten Rechtsordnungen eine Straftat. Aus menschenrechtlicher Sicht ist es eine Meinungsäußerung, die als solche Schutz verdient. Hier werden die Grenzziehungen sehr unterschiedlich definiert, man denke nur an die Mohammed-Karikaturen. Die europäische Liberalität wird von anderen Rechtskulturen mit Feindseligkeit betrachtet. Der „clash of cultures“ ist hier nicht zuletzt auch durch die Diesseitigkeit des europäischen Menschenrechtsschutzsystems bedingt. Die Rechte „der einen“ stehen den Rechten der „anderen“ gegenüber; hier gilt es abzuwägen. Gott dagegen hat keine Rechte, ein Schutz der „Ehre Gottes“ kann in einem diesseitigen System nicht vorgesehen sein. Hier verläuft die kulturelle Trennlinie im Übrigen nicht nur zwischen Nord und Süd und grenzt muslimisch geprägte Rechtskulturen ab, sondern auch zwischen Ost und West, man denke an Fälle wie „Pussy Riots“ oder „Ostorožno Religija“ (Vorsicht Religion), bei denen die orthodoxe Kirche die Bestrafung derer, die in ihren Augen Frevler gegen Gott waren, als conditio sine qua non für ein gedeihliches Zusammenleben in der Gesellschaft erachtete.

Ähnliche tiefgehende kulturelle Unterschiede zeigen sich etwa beim Umgang mit dem weiblichen Körper. Forderungen nach Verschleierung und Entschleierung wechselten im Laufe der Kulturgeschichte, waren immer auch unmittelbar mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft verbunden. Ist die Vollverschleierung der Frau in Frankreich um ihrer Menschenwürde willen verboten, wird sie in außereuropäischen Ländern aus eben diesem Grund für unerlässlich erachtet.

Dies gilt schließlich auch für das Recht, seine Religion zu wechseln, das in muslimisch geprägten Ländern  explizit ausgeschlossen wird, während es nach der EMRK ein anerkanntes Menschenrecht darstellt.

Damit haben Menschenrechte in ihrer konkreten Auslegung nicht nur etwas Verbindendes, sondern auch etwas Trennendes. In Fällen der extraterritorialen Anwendung, aber auch bei Ausweisungen und Auslieferungen kann dies zu unmittelbaren Zusammenstößen unvereinbarer Wertvorstellungen und damit zu schwer lösbaren Problemen im zwischenstaatlichen Rechtsverkehr führen. Gräben werden hier sogar zwischen Europa und den USA aufgerissen, wenn die Auslieferung mutmaßlicher Terroristen wegen eines anderen Verständnisses von Schuld und Strafe gestützt auf die Menschenrechte verboten wird.20

Stabilität des Systems

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Stabilität des gegenwärtigen Systems zum Schutz der Menschenrechte in Europa. Konkrete Gefährdungen bilden politische Bestrebungen in verschiedenen Mitgliedsstaaten, die Konvention zu kündigen. Man stellt zwar nicht den Schutz der Menschenrechte in Frage, kritisiert aber das bestehende System und wirft dem Gerichtshof vor, eine undemokratische Regierung zu sein und mit seinem Mikromanagement zu tief in den Entscheidungsfreiraum der nationalen Gesellschaften einzudringen. Die Feindseligkeit der britischen UKIP, aber auch der Tories ist bekannt. In Frankreich ist gerade ein Gesetzesentwurf der UMP und UMI gescheitert, mit dem dem Gerichtshof die Kompetenz, Entscheidungen im Umfeld terroristischer Bedrohung zu fällen, abgesprochen werden sollte. In der Schweiz sammelt die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei SVP Unterschriften für die Initiative „Schweizer Recht statt fremde Richter“, da die Tätigkeit des Gerichtshofs, so der Initiator des Referendums, ein „Programm der politischen Linken“ sei.  Auch sprachliche Neubildungen zeigen Negativeinschätzungen, so der französische Ausdruck „droit de l’hommisme“, was in etwa „Menschenrechterei“ bedeutet, oder die Verballhornung im Russischen, wenn vom Europäischen Gerichtshof“ als vom „Гейропейский суд” gesprochen wird; aus „Eu“ wird „Gay“, Europa ist der Kontinent der „gay people“, nur für sie ist der Gerichtshof da.

Nicht zu verkennen ist schließlich auch das Spannungsgefüge zwischen internationalem, supranationalem und nationalem Menschenrechtsschutz, wenn Gerichte wie das Bundesverfassungsgericht oder der EuGH in Luxemburg mit dem EGMR um das „letzte Wort“ bei der Auslegung der Menschenrechte streiten. Wer programmiert das Navigationssystem?

Mehrwert eines auf den Menschenrechten aufbauenden universellen Navigationssystems

So bleibt zum Schluss die Frage nach dem Wert oder, vielleicht konkreter „Mehrwert“ eines auf den Menschenrechten aufbauenden Navigationssystems, das den Anspruch erhebt, universell gültig zu sein.

Ich sagte eingangs, Gesellschaften ebenso wie Staaten brauchten einen ideologischen Kitt, der sie zusammenhält. Menschenrechte waren und sind ein derartiger Kitt. Sie mögen nicht dazu getaugt haben, Krieg vollständig zu bannen oder allseits soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Aber sie haben dennoch vermocht, die Richtung zu dem Ideal einer gerechten Gesellschaft in einer Zeit der Orientierungslosigkeit zu weisen. Wenn bei moralischen an den Einzelnen gerichteten Forderungen wie jenen feierlich auf den Steintafeln des Moses niedergeschriebenen Geboten der Glaube an das Numinosum wegbricht oder zumindest nicht mehr fraglos von allen geteilt wird, wenn Lebensentwürfe nicht mehr an Traditionen ausgerichtet, sondern auf dem Reißbrett der Möglichkeiten entworfen werden, ist es an der Zeit, die dadurch im gesellschaftlichen Gefüge entstehenden Lücken mit etwas Neuem zu füllen. Dies ist – ausgehend von der Aufklärung – mit der Aufzeichnung der Menschenrechte in Verfassungen und völkerrechtlichen Verträgen geschehen. Über sechs Jahrzehnte hat man sie nunmehr in Europa Gerichtsentscheidungen zugrunde gelegt und sich bemüht, Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen. Das Experiment war erfolgreich. Das ist keine Garantie für die Zukunft. Das Navigationssystem hat sich bewährt. Und dennoch steht es auf dem Prüfstand.

Die Autorin: Prof. Dr. Dr. h.c. Angelika Nußberger ist Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und Direktorin des Instituts für osteuropäisches Recht und Rechtsvergleichung der Universität zu Köln. Sie ist Preisträgerin des Schader-Preises 2015.

1EGMR Urteil vom 12.5.2014, Zypern v. Türkei, Beschwerde Nr. 25781/94.
2 EGMR Urteil vom 24.2.2005, Isayeva, Yusupova un Bazayeva v. Russland, Beschwerde Nr.
57947/00, 57948/00, 57949/00.

3 Vgl. z.B. Urteil vom 18.12.2012 Aslakhanova und andere v. Russland, Beschwerde Nr. 2944/06, 8300/07, 42509/10, 50184/07 and 332/08.
4EGMR Urt. v. 21.1.2011 M.S.S. v. Griechenland und Belgien, Beschwerde Nr. 30696/09.
5 EGMR, Entsch. v. 8.10.2013, António Augusto da Conceição u. Lino Jesus Santos Januário v. Portugal, Beschwerde Nr. 62235/12 und Nr. 57725/12.
6EGMR, Entsch. v. 07.05.2013, Koufakiet Adedy v. Griechenland, Beschwerden Nr. 57665/12 und Nr. 57657/12.

7EGMR, Entsch. v. 8.10.2013, António Augusto da Conceição u. Lino Jesus Santos Januário v. Portugal, Beschwerde Nr. 62235/12 und Nr. 57725/12.
8 EGMR, Urt. v. 14.5.2013 N.K.M. v., Ungarn, Beschwerde Nr. 66529/11; EGMR, Urt. v. 25.6.2013,
Gáll v. Ungarn, Beschwerde Nr. 49570/11, EGMR, Urt. v. 2.7.2013, R. Sz. v. Ungarn, Beschwerde
Nr. 41838/11.
9 EGMR, Urt. v. 19.6.2006, Hutten-Czapska v. Polen, Beschwerde Nr. 35014/97, EGMR Urt. v. 12.6.2014 Berger-Krall v. Slowenien, Beschwerde Nr. 14717/04, EGMR, Urt. v. 3.7.2014 R & L, S.R.O. v.  Tschechische Republik, Beschwerde Nr. 37926/05 25784/09 36002/09 44410/09 65546/09.
10 Parallel zur EMRK gibt es im Rahmen des Europarats die Revidierte Europäische Sozialcharta, auf internationaler Ebene den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte.
11 EGMR, Urt. v. 21.7.2011, Heinisch v. Deutschland, Beschwerde Nr. 28274/08, RJD 2011.
12 EGMR Urt. v. 6.10.2005 (GK), Hirst v. Großbritannien, Beschwerde Nr. 74025/01.
13 EGMR Urt. v. 21.10.2013 (GK), Del Rio Prada v. Spanien, Beschwerde Nr. 42750/09.
14 Das Urteil wird am 5.6.2015 verkündet.
15 Zitiert nach Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat, S. 7, München 2009.
16 EGMR Urt. v. 25.4.1978 Tyrer v. Großbritannien, Beschwerde Nr. 5856/72.
17 EGMR Urt. v. 6.10.2005 (GK), Hirst v. Großbritannien, Beschwerde Nr. 74025/01.
18 EGMR Urt. v. 4.12.2007 (GK) Dickson v. Großbritannien, Beschwerde Nr. 44362/04.
19 EGMR Urt. v. 26.6.2014, Mennesson v. Frankreich, Beschwerde Nr. 65192/11.
20 EGMR, Urt. v. 4.9.2014, Trabelsi v. Belgien, Beschwerde Nr. 140/10.
21 SZ vom 2./3.5.2015, S. 5.

 

 

 

 

 

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