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Kulturelle Differenz in liberalen Demokratien – die Errungenschaften und Herausforderungen des kanadischen Multikulturalismus

Artikel vom 19.10.2017

Am Abend des 5. Oktober 2017 öffnete die Schader-Stiftung ihre Türen für eine öffentliche Auseinandersetzung mit kanadischer Migrationspolitik. Zu diesem Anlass referierte Prof. Dr. Oliver Schmidtke von der University of Victoria.

Errungenschaften und Herausforderungen des kanadischen Multikulturalismus

Der Vortrag fand im Rahmen der Fachtagung „Innovation und Legitimation in der aktuellen Migrationspolitik“ statt, zu der die Schader-Stiftung am 5. und 6. Oktober 2017 in Kooperation mit dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration, der Heinrich Böll Stiftung Hessen, dem Arbeitskreis Migrationspolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW), der Fachgruppe Politik Sozialer Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA), der Fachhochschule Kiel und der Evangelischen Hochschule Freiburg eingeladen hat. Die Panel-Tagung zielte darauf ab, die Erfahrungen der migrationspolitischen Akteure mit politikwissenschaftlichen und transdisziplinären Perspektiven der Wissenschaft der Sozialen Arbeit in den Austausch zu bringen.

Der Multikulturalismus blickt in Kanada auf eine lange Tradition zurück. Seit den 1970er Jahren ist dieser verfassungsrechtlich verankert. Dieses kanadische Verständnis von Multikulturalismus steht jedoch im Gegensatz zu dem europäischen Diskurs über Multikultilarität. Besonders in Deutschland wird der Begriff des Multikulturalismus kontrovers diskutiert und dabei eher als ein unverbindliches Nebeneinander als ein Miteinander verstanden. Im Sinne einer Zustandsbeschreibung oder einer groben politischen Idee, fehlt diesem Konzept die Form des Prozesshaften. Kanada wiederum konzipiert Multikulturalismus als Gleichberechtigung. Hierbei, so die kanadische Gesetzgebung, soll ein vollständiger und gleicher Zugang zur Partizipation in der kanadischen Gesellschaft für alle Staatsbürgerinnen und -bürger gewährleistet werden. Einbindung von Zuwanderern, ebenso wie Partizipation durch diese, entspricht hier einem dynamischen Aushandlungsprozess, der von beiden Seiten getragen wird. Diese staatliche Verankerung des Multikulturalismus führte zu einer fundamentalen Veränderung der kanadischen Gesellschaft.

Angesichts eines Bevölkerungszuwachses von einem Prozent pro Jahr durch Migrantinnen und Migranten kann heutzutage nicht mehr von einer Mehr-heitsgesellschaft in Kanada gesprochen werden, dazu sind die jeweiligen Migrationshintergründe zu divers. Die kontinuierliche Aufnahme von Zugewanderten bedingt weiterhin die Einbindung von Migrationspolitik in alle Bereiche parlamentarischer Politik. Weder Gesundheits- noch Arbeitsmarktpolitik können in Kanada unter Ausschluss migrationspolitischer Fragestellungen verhandelt werden.

Viel stärker betont Oliver Schmidtke allerdings die lebensweltlichen Effekte der kontinuierlichen Zuwanderung nach Kanada. Hier ist eine positive Konnotation von Migration von Seiten der Bevölkerung spürbar geworden. In dieser neuen Wahrnehmung ist ein Pragmatismus im Umgang mit gesellschaftspolitischen Fragen um Einwanderung eingekehrt, der Dramatisierungen und affektgesteuerten Auseinandersetzungen vorbeugt. Integration der Zugewanderten geschieht über Programme, die maßgeblich durch die Bürgerinnen und Bürger Kanadas getragen werden. Diese zivilgesellschaftliche Verankerung des Multikulturalismus weist auf die  Implementierung des interkulturellen Dialogs in den Alltag hin. Oliver Schmidtke verdeutlicht die Akzeptanz des Multikulturalismus anhand von Umfragen, in denen kulturelle Differenzen als positiver Referenzrahmen für die nationale Identität von kanadischen Bürgerinnen und Bürgern angegeben werden.

Die Entwicklung Kanadas zu einer Einwanderungsgesellschaft ist eng mit dem kanadischen Punktesystem der Einwanderungspolitik verbunden. Bereits 1967 eingeführt, stellt dieses ein staatliches Instrument zur Regulierung von Migration dar. Wer in Kanada eingebürgert wird und wer nicht, hängt substantiell von Eignung und Qualifikation der betreffenden Personen ab. Im Vordergrund steht die Frage nach dem volkswirtschaftlichen Nutzen von Migration. Dieses utilitaristische Modell entzieht der Selektion von Migrantinnen und Migranten das ethnische Fundament und ersetzt es durch ökonomisches Kalkül. Es ist diese Nivellierung ethnischer Herkunft, die für die kanadische Bevölkerung identitätsstiftend wirkt und darüber hinaus zu einer neuen Narration über Einwanderung geführt hat.

Natürlich ist Kanada kein Utopia des friedlichen Miteinanders vielfältiger kultureller Hintergründe. So berichtet Oliver Schmidtke von einer Konjunktur rassistischer Entwicklungen, die nicht nur Europa und die USA heimgesucht haben. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist jedoch eine Entwicklung hin zu einer affirmativen Haltung gegenüber ethnischer und kultureller Diversität seit der verfassungsrechtlichen Verankerung des Multikulturalismus sichtbar. Prekär ist allerdings die Situation für  jene, die aufgrund eines Arbeitsangebots nur temporär in Kanada bleiben dürfen. Diese Personengruppe genießt nicht die weitreichenden Privilegien klassischer Migrantinnen und Migranten, da sie keine Staatsbürgerschaft beantragen können. Das daraus resultierende soziale Gefälle führt zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, so Oliver Schmidtke. Zwar wird das Einwanderungssystem Kanadas auch im Ausland oft als vorbildlich eingestuft, bei näherer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass lediglich hochqualifizierte Zuwanderer vom System profitieren können. Gering qualifizierte Gastarbeiter müssen ohne einen sicheren Aufenthaltsstatus im Land leben.

Kann Kanada vor dem Hintergrund dieser Überlegungen als ein Vorbild für Deutschland dienen? Deutschland befindet sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt in einer Situation, die der Kanadas in den frühen 70er Jahren, als der Multikulturalismus Einzug erhielt, sehr ähnlich ist. Zuvor war das Selbstbild Kanadas, ebenso wie das Deutschlands, von einem nationalstaatlichen Denken geprägt. Die nationale Identität Kanadas erfuhr dann eine neue Codierung. Deutschland ist mit seiner Vergangenheit des Nationalsozialismus besonders dazu aufgefordert, die exkludierenden Effekte nationaler Identität neu zu überdenken und sich einer Migrationspolitik zu öffnen, die Integration als Gestaltungsaufgabe betrachtet. Ein Bejahen kultureller Differenz unterstreicht dabei eine deutliche und geeinte Haltung gegen rechten Populismus.  

In der Diskussion werden weitere kritische Punkte hervorgehoben. Ein Teilnehmer gibt zu bedenken, dass die Anforderungen in dem Punktesystem Kanadas sehr hoch sind. Oliver Schmidtke bestätigt dies mit der Feststellung, dass der Großteil der migrierten Menschen besser ausgebildet ist als der Durchschnitt der in Kanada Geborenen. Das wiederum entspricht nicht den Erfahrungen, die Deutschland bisher mit Migration gesammelt hat. Eine weitere Teilnehmerin spricht die Situation der indigenen Bevölkerung Kanadas an. Diese Menschen werden in dem Konzept des Multikultura-ismus nicht bedacht und wollen sich auch nicht darin verorten. Ihre Bedürfnisse und Forderungen konzentrieren sich stattdessen maßgeblich auf Landrechte. Eine kritische Selbstreflexion des Kolonialismus und des strukturellen Rassismus, den die indigene Bevölkerung erfahren hat und noch erfährt, wird seit Neuestem durch die kanadische Bevölkerung vorangetrieben, so Oliver Schmidtke. Problematisiert wurde weiterhin das Phänomen des Brain Drain. Hierbei verursacht der Auszug Hochqualifizierter große Defizite für die Volkswirtschaften der Ausreiseländer, während Aufnahme-staaten von der guten Ausbildung der Migrierten profitieren.
Es zeigt sich, dass auch eine multikulturelle Gesellschaft nicht ohne Konflikte auskommt. Der Vortrag veranschaulicht aber die Notwendigkeit einer öffentlichen Auseinandersetzung damit, wie Nation im Verhältnis zu Migration gedacht wird. Der kanadisch gedachte Multikulturalismus kann dazu eine Orientierung bieten.

Der Referent: Prof. Dr. Oliver Schmidtke ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Centre for Global Studies an der University of Victoria in Kanada. Er promovierte am European University Institute in Florence und war daraufhin in der Humboldt Universität in Berlin und der Universität Harvard tätig. Seit 1999 arbeitet er als Professor in der University of Victoria und hat seit 2006 den Jean-Monnet-Lehrstuhl für europäische Geschichte und Politik inne. Seine Forschungsinteressen in der vergleichenden Politik- und Geschichtswissenschaft sind Migration und Integration.

Kooperationspartner

Heinrich Böll Stiftung Hessen

 

 

Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA)

 

 

Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW)

 

 

Fachhochschule Kiel

 

 

Evangelische Hochschule Freiburg

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