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Die Entwicklung des modernen Wohnens

Artikel vom 29.06.2005

Der gegenwärtige Wandel des Wohnens ist gekennzeichnet von einer Abkehr von der Kernfamilie durch die Pluralisierung der Lebensstile, eine Aufhebung der Trennung von Wohnen und Arbeiten durch den Wandel der Arbeitswelt sowie eine neue Rolle der Wohnungsunternehmen. Doch die sich jetzt wandelnden Wohn- und Organisationsformen haben sich selbst erst in der Moderne herausgebildet. Die zentralen Fragen lauten dabei „Was tut man, wenn man wohnt?“, „Wer wohnt mit wem zusammen?“, „Wie wird Wohnen erlebt?“ und schließlich „Wie kommt man zur Wohnung?“. Von Sybille Münch

Trennung von Wohnen und Arbeiten

Der Wandel vom vormodernen zum modernen Wohnen vollzieht sich in vier Dimensionen. Eine zentrale Entwicklung ist die Trennung von Wohnen und Arbeiten. Für die Mitglieder bäuerlicher und handwerklicher Haushalte war „die Einheit von Wohnen und Arbeiten bis in das zwanzigste Jahrhundert objektiv notwendig und selbstverständlich. (...) Otto Brunner hat diese Lebensweise unter dem Begriff `ganzes Haus' als Selbstversorgungseinheit beschrieben, in der der Haushalt noch alle Lebensvollzüge in sich einschließt. Das Ganze Haus vereinigte unter einem Dach häufig in denselben Räumen Arbeit, Erholung, Schlafen, Essen und Beten, Gesinde, Kinder, Mann und Frau. Die materiellen und symbolischen Arrangements des modernen Wohnens separieren dagegen Funktionen und Personen in spezialisierten Räumen für Essenszubereitung, Essen, Sich-Lieben, Schlafen, Sich-Waschen, Sich-Entleeren, miteinander Sprechen; Eltern und Kinder, Sohn und Tochter, Mann und Frau.“ (Häußermann/ Siebel 1996: 22f)

Das ganze Haus und seine Auflösung
„In einigen Städten gab es im Vormärz Bestrebungen, partout am [alten Brauch des ‚ganzen Hauses’] festzuhalten, so in Leipzig, Frankfurt und Bremen. Tatsächlich aber fiel die Konstruktion des ganzen Hauses immer mehr auseinander, ein Prozeß, der allerdings in bestimmten Regionen, etwa in Braunschweig, schon Ende des 17. Jahrhunderts eingesetzt hatte. In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wohnten Gesellen im Regierungsbezirk Düsseldorf im allgemeinen nicht mehr im Hause ihres Meisters. Und zehn Jahre später gilt die gleiche Aussage für die Lehrlinge. Doch die Entwicklung verlief zwischen den Regionen und Branchen ungleichmäßig. (...) Bei den Bäckern hielt sich die Familienwohnwirtschaft wegen der anfallenden Nachtarbeit besonders lange - ganz im Unterschied zu den Schreinern und Schlossern. (...).“ (von Saldern 1997: 228)

Der Lebenszusammenhang der Arbeits- und Wohngemeinschaft wurde also durch die Entstehung der Lohnarbeit – beginnend mit dem Mittelalter, forciert durch Industrialisierung und Verstädterung – auseinander gerissen. Es entstand die klare, auch räumliche Trennung von Arbeiten und Wohnen. Diese wurde durch die Auslagerung von ursprünglich im Haushalt organisierten Tätigkeiten weiter verstärkt.

Heute hat der ‚Vergabehaushalt’ fast alle seine wirtschaftlichen Funktionen an spezialisierte Betriebe und Infrastruktureinrichtungen abgegeben. Das Fernheizwerk, die Mensa, die Wäscherei, Schule und Krankenhaus, die Textil- und die Nahrungsmittelindustrie erledigen all das professioneller und billiger. (Häußermann/Siebel 1996: 22f) Doch obwohl heute die Aufgaben, die innerhalb der Wohnung erledigt werden müssen, immer weniger werden, wachsen die Wohnfläche und der Wert der Ausstattung, also die symbolische und emotionale Bedeutung des Wohnens, weiterhin.

Die Entstehung der Wohnung als Kleinfamilienhaushalt

Mit der Trennung von Wohnen und Arbeiten eng verbunden ist das zweite Charakteristikum des modernen Wohnens. Mit der Ausgliederung der Erwerbsarbeit aus dem Wohnbereich ging die Ausgliederung der mit der Arbeit befassten familienfremden Personen aus dem Haushalt einher. Es bleiben Eltern und deren Kinder zurück - die Kernfamilie. Die Familie in ihrer heutigen Form ist also keine Grundkonstante menschlichen Zusammenlebens, sondern selbst das Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen.

Dabei war die räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten nicht immer nur dem Unabhängigkeitsstreben der Gesellen und Lehrlinge geschuldet. Vielmehr entwickelten bessergestellte Handwerksmeister auch ihrerseits im frühen 19. Jahrhundert erhöhte Wohnansprüche, insbesondere je mehr sie dem bürgerlichen Familienleitbild zu folgen trachteten. (von Saldern 1997: 229) Im 19. Jahrhundert wurde das Familienwohnen von Reformern aller politischen Richtungen als der Königsweg zur Verbesserung der Wohnverhältnisse propagiert. Die Kernfamilie versprach Zustände zu überwinden, die als veraltet oder sittlich untragbar galten: Das „ganze Haus“, das in der Landwirtschaft und im Handwerk verbreitet war, sowie das Untermieter- und Schlafgängerwesen, das die Wohnungsnot widerspiegelte und als Gefährdung einer sittlichen Lebensführung aufgefasst wurde.
 

Die Intimisierung des Wohnens

Mit dem Entstehen der Kleinfamilie als Standardwohnform eng verbunden ist ein dritter Prozess, der als charakteristisch für das moderne Wohnen angesehen werden kann: die Intimisierung des Wohnens. „Neben vielen anderen Elementen der ‚bürgerlichen’ Kultur, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Konturen gewannen, war eine ‚Erfindung’ für den Lebensalltag der Menschen von besonders entscheidender Bedeutung: die sich durchsetzende Vorstellung, dass ein ‚trautes Heim’ die emotionale Lebensmitte der Familie sein solle – eine Insel vollständiger Privatheit und intimer Geborgenheit. Das heißt selbstverständlich nicht, dass die große Mehrheit oder auch nur ein beträchtlicher Teil der Menschen im Laufe des 19. Jahrhunderts ein solches Refugium gehabt hätte, aber als Projekt, als Vorstellung eines Ideals, als erstrebenswertes Ziel begann dieses Leitbild immer mehr Zeitgenossen zu beherrschen, und zwar ausdrücklich schichten- und klassenübergreifend.“ (Reulecke 1997: 21)

Öffentlichkeit statt Privatheit in städtischen Armenquartieren
Wie sehr Privatheit zunächst nur Leitbild, nicht aber Realität war, zeigt sich bei einem Blick auf die Wohnweisen des städtischen Proletariats: „Um der Enge der Wohnungen zu entfliehen“ – eng nicht zuletzt, da auch noch die dunkelste und kleinste Kammer untervermietet wurde [ d. Verf.] –„gingen Frauen, Männer und Kinder während des ganzen 19. Jahrhunderts nach draußen. Das Leben spielte sich vielfach in Hauseingängen und Höfen, in Kneipen und Läden um die Ecke oder auf der Straße vor dem Hause ab. Neben der Fabrik wurde das Wohnquartier zum zweiten großen Erfahrungsraum für Arbeiterfamilien. (...) Bei den beengten Wohnverhältnissen nimmt es nicht wunder, dass Arbeiten, wenn immer möglich, draußen erledigt wurde, auch Heimarbeiten. Quartiersöffentlichkeit war von der Privatsphäre nicht getrennt und voll von Leben.“ (von Saldern 1997: 200)

Städtisches Zusammenleben erfordert Zivilisierung
Die „Intimisierung“ des Wohnens ist aber nicht nur der Herausbildung der Kleinfamilie,sondern auch der Entwicklung der Stadt geschuldet. Es war die starke Bevölkerungszunahme in den Städten, die die Zuziehenden zu einer zeitlichen und sozialen Disziplinierung der Lebensführung zwingt. Im Verlauf der Polarisierung von Öffentlichkeit und Privatheit in den Städten entwickelten sich erst Scham- und Peinlichkeitsschwellen, Körperlichkeit wird aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen und es kommt zu einer „Verhäuslichung der Vitalfunktionen“ (Gleichmann). Diese Verinnerlichung von Zwängen ist also nicht nur bürgerliches Ideal, sondern wird auch gerade durch die technischen, sozialen und hygienischen Probleme dichten Zusammenlebens von immer mehr Menschen nötig.

Unterschiedliches Schamempfinden in vorherigen Epochen
„Dennoch wäre die Erklärung nur halbwahr, die heutige Wohnweise habe sich früher nicht durchsetzen können allein aufgrund ungesicherter Existenz, materieller Not und Rechtlosigkeit. Die Lebensweise des französischen Hochadels im 18. Jahrhundert ist in einer ganz anderen Art und Weise, aber doch ähnlich weit entfernt von dem, was wir als bürgerlich-familiäre Privatsphäre kennen. Die Ehepartner wohnten üblicherweise in getrennten Wohnungen, und jeder hatte sein eigenes Personal. Die Grundrissorganisation kannte kein getrenntes Erschließungssystem, also keine Flure und Dielen, so dass jedes Zimmer zugleich Durchgangszimmer war, was kaum zuließ, geschützte Sphären der Privatheit aufzubauen (Elias 1983). Ähnliches zeigen die römischen Villen. Sie repräsentieren einen Luxus, den das großbürgerliche Wohnen erst im 19. Jahrhundert wieder erreicht hat. Aber das römische Wohnen folgte gänzlich anderen Prinzipien: Noch schärfer als im französischen Hochadel waren in der griechischen und römischen Antike Männerwelt und Frauenwelt räumlich geschieden (Meier-Oberist 1956, 24f.). Teilweise wies das Wohnen in der Antike eher Ähnlichkeit zu bäuerlichen und proletarischen als zu bürgerlichen Wohnweisen auf. Die Wohnküche der Arbeiter war ohne Schleusen wie Vorflure oder Windfang direkt von draußen zugänglich. Privates stieß also ohne Puffer an das Öffentliche. Nach Maßstäben bürgerlicher Intimität war dies in der Antike noch weit krasser: Man betrat das römische Haus durch das Bad, auch geschlafen wurde nahe dem Eingang, die Gesellschafts- und Essräume lagen dagegen im hinteren Teil des Hauses. (...)“ (Häußermann/ Siebel 1997: 19)

Wandel der Räume durch Wandel des Wohnens
Mit der Entstehung der Privatheit durch den Ausschluss von familienfremden Personen aus dem Haushalt änderte sich auch die Aufteilung der Räume. Um 1800 verschwanden die Allzweckräume, die zuvor vorgeherrscht hatten, zunächst in den Häusern der oberen Schichten, um den Weg für eine differenzierte Raumaufteilung frei zu machen. Die größten Veränderungen erlebte nach Ausführung von Clemens Wischermann der Schlafbereich, der sich vom gesellschaftlichen Mittelpunkt des Rokoko zum hochgeschützten Intimbereich des 19. Jahrhunderts wandelte. „In der räumlichen Organisation des allen Blicken – auch denen der eigenen Kinder – entzogenen Schlafbereichs wird die neu entstehende Sittlichkeit am augenfälligsten.“ (Wischermann 1997: 353)
 

Die Entstehung des Wohnungsmarktes

Die Herausbildung eines Wohnungsmarktes schließlich ist das vierte Merkmal des modernen Wohnens. Es entwickelte sich ab dem 18. Jahrhundert, vor allem in Handels- und Gewerbestädten. Doch erst im 19. Jahrhundert – bedingt durch den rapiden Bevölkerungszuwachs und die massive Verstädterung - wird der Wohnungsmarkt, auf dem Wohnraum durch Kauf oder Miete erworben wird, zum dominierenden Mechanismus der Wohnungsversorgung.

Schon in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts suchten Sozialwissenschaftler nach Ursachen für das rasche Umsichgreifen des Mietwohnungsbaus in Deutschland – im Gegensatz etwa zu Großbritannien, wo das Einzelhaus weit verbreitet ist. Julius Faucher stellte damals die Überlegung auf, dass die Hauptursache für die Entstehung der mehrstöckigen Mietskasernen vor dem 19. Jahrhundert in politisch-militärischen Beschränkungen des Stadtwachstums zu suchen seien. Eine Erweiterung der Städte über die Stadtbefestigung hinaus hätte hohe Kosten verursacht und zudem den Verteidigungsaufwand gesteigert. Ein weiterer Vorteil des Stadtlebens bestand darüber hinaus in den rechtlichen Privilegien, die der Städter genoss. Daher wurde lieber die Wohndichte erhöht, als dass eine unsichere Ansiedlung außerhalb der Stadtmauern in Kauf genommen worden wäre.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts wandelt sich die bauliche Form des Mietwohnungswesens und die Lage seiner Bewohner gewaltig: Die „Etagenwohnung“ entwickelt sich zum Standard im Wohnungsneubau. Während im vorindustriellen Mietwohnungsbau durch die Übernahme überlieferter Hausaufteilungen ein Abschluss separater Wohnbereiche nicht zu erreichen gewesen war, zogen mit der „Etagenwohnung“ in die zuvor fließenden Übergänge zwischen öffentlichem, gemeinschaftlichem und privatem Raum neue Abgrenzungen ein. Indem aus der Diele der Flur wird, auf den alle Räume mündeten, wurde die Möglichkeit geschaffen, jede Wohnung gegen andere Wohnungen abzuschließen.

„Vom Depot zum Refugium ist also die Kurzbeschreibung eines langfristigen Prozesses, in dessen Verlauf die Gesellschaft – nach dem Verlust der Einheit von Wohnen und Arbeiten – auf dem Weg zur Institutionalisierung eines neuen Wohnmodells für eine veränderte Familienstruktur war. Nachdem sich das anfänglich propagierte Einfamilienhausmodell als ein Fehlschlag herausstellte, wurden der siegreichen Etagenwohnung die zentralen Elemente bürgerlicher Wohnkonzepte zugeschrieben: die strikte Abtrennung von Dritten durch eine individuelle Schwelle und Wohnungstüre zum Schutz der Intimität und Privatheit der Familie; die Differenzierung im Gebrauch der Räume einschließlich der Trennung der Kinder nach ihrem Geschlecht; der Ausschluss aller Familienfremden. Wir finden hier also genau die Elemente wieder, die als typisch für den Modernisierungsprozess gelten: Disziplinierung, Differenzierung und Rationalisierung in der Ausgestaltung der sozialen Kontakte wie der Raumbenutzung und Beherrschung.“ (Wischermann 1997: 482)

Literatur

Gleichmann, Peter 1998: Wohnen. In: Häußermann, Hartmut (Hrsg.): Großstadt – Soziologische Stichworte. Opladen: Leske und Budrich, S. 270 - 278

Häußermann, Hartmut 1999: Neue Haushalte – Wohnformen zwischen Individualisierung und Vergemeinschaftung. In: Neue Wohnformen, herausgegeben von der Wüstenrotstiftung, S. 12 - 21

Häußermann, Hartmut/ Siebel, Walter 1996: Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens. München: Juventa-Verlag

Meier-Oberist, Edmund 1956: Kulturgeschichte des Wohnens im abendländischen Raum. Hamburg: Holzmann

Reulecke, Jürgen 1997: Die Mobilisierung der „Kräfte und Kapitale“: der Wandel der Lebensverhältnisse im Gefolge von Industrialisierung und Verstädterung. In: Ders. (Hrsg.): Geschichte des Wohnens, Band 3, 1800-1918, Das bürgerliche Zeitalter, Deutsche Verlagsanstalt, S. 15-144

Von Saldern, Adelheid 1997: Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignungen. In: Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Geschichte des Wohnens, Band 3, 1800-1918, Das bürgerliche Zeitalter, Deutsche Verlagsanstalt, S. 145-332

Wischermann, Clemens 1997: Mythen, Macht und Mängel: Der deutsche Wohnungsmarkt im Urbanisierungsprozeß. In: Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Geschichte des Wohnens, Band 3, 1800-1918, Das bürgerliche Zeitalter, Deutsche Verlagsanstalt, S.335-636

Die Autorin: Dr. Sybille Münch, Politikwissenschaftlerin, war von 2004 bis 2006 Wissenschaftliche Referentin der Schader-Stiftung.

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