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„Es ist 'ne soziale Gegend“. Benachteiligende Effekte in Migrantenvierteln?

Artikel vom 01.09.2004

Mit dem Begriff der sozialen Ausgrenzung wird eine neue Form sozialer Ungleich­heit suggeriert, die mit alten Begriffen wie etwa Armut nicht mehr hinreichend be­schrieben werden kann. Vor allem in Großstädten konzentrieren sich benachteiligte Gruppen in bestimmten Quartieren. Haben diese Quartiere benachteiligende Effekte auf ih­re Bewohner? Von Andrea Janßen

Einleitung

Mit dem Begriff der sozialen Ausgrenzung wird eine neue Form sozialer Ungleich­heit suggeriert, die mit alten Begriffen wie etwa Armut nicht mehr hinreichend be­schrieben werden kann (Kronauer 2002). Verteilungsfragen werden überlagert von Fra­gen der Teilhabe resp. des Ausschlusses. Es geht also nicht länger um ein Mehr oder We­niger, sondern um ein Drinnen oder Draußen.

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der räumlichen Dimension sozialer Ausgrenzung. Vor allem in Großstädten bilden sich Quartiere heraus, in denen sich benachteiligte Gruppen konzentrieren. Von diesen Quartieren werden benachteiligende Effekte für ih­re Bewohner befürchtet (Gestring / Janßen 2002).

Diese Quartierseffekte werden am Beispiel von zwei typischen Migrantenvierteln in Hannover diskutiert: einer Großsiedlung des sozialen Wohnungsbaus (Vahrenheide-Ost) und einem innenstadtnahen Altbauquartier (Linden-Nord). Dabei werden benachteili­gende Effekte der Quartiere auf die Lebenssituation türkischer Migranten der zweiten Generation untersucht. Empirische Grundlage sind Ergebnisse des Forschungsprojektes „Zwischen Integration und Ausgrenzung. Lebensverhältnisse türkischer Migranten der zweiten Generation.“ Im Rahmen des Projektes wurden 55 türkische Migranten und 41 Gatekeeper des Arbeits- und Wohnungsmarkts interviewt. Gatekeeper sind Personen, die aufgrund ihrer beruflichen Position über Zugang und Platzierung von Bewerbern auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt entscheiden.1

Der Beitrag ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten wird ein kurzer Überblick über die theoretischen Überlegungen zu Quartierseffekten gegeben, die in vier Dimensionen denkbar sind: materielle Ressource, soziales Milieu, politische Repräsentanz und Symbo­lik des Ortes (vgl. Gestring / Janßen 2002, Häußermann 2000, Wacquant 2004). Im zwei­ten Abschnitt werden die beiden Quartiere auf diese Effekte hin untersucht. Dabei ste­hen die Auswirkungen der Quartierseigenschaften auf die Lebenssituation von türki­sehen Migranten im Mittelpunkt. Werden sie durch das Wohnen in den beiden Quartie­ren zusätzlich benachteiligt und wenn ja, in welcher Hinsicht? Im Fazit wird auf der Basis dieser Ergebnisse der theoretische Nutzen und die Relevanz der einzelnen Quar­tierseffekte überprüft.

1. Zur Theorie von Quartierseffekten

Wenn es um die Auseinandersetzung mit Effekten des Quartiers auf seine Bewohner geht, wird im Allgemeinen von einer Grundannahme ausgegangen: dass Benachteiligte aufgrund geringerer Mobilität und eines geringeren Aktionsradius' im besonderen Maße auf ihr Quartier angewiesen sind (Herlyn 1998).

Die erste Dimension möglicher benachteiligender Effekte ist die materielle: Sie um­fasst neben Art und Qualität des Wohnbestandes die Lage des Quartiers in der Stadt, die Existenz und Nutzbarkeit öffentlicher Plätze und die technische, soziale und kommerzi­elle Infrastruktur. Monofunktionale Wohnsiedlungen erschweren die Alltagsorganisati­on der Bewohner und bieten kaum Jobs und Möglichkeiten zur Gelegenheitsarbeit. Lage und Verkehrsanbindung beeinflussen die Mobilität der Quartiersbewohner, und fehlen­de bzw. nicht nutzbare öffentliche Plätze verringern nahräumliche Freizeitmöglichkei­ten und damit auch Möglichkeiten für soziale Kontakte.

Eine zweite Dimension möglicher Benachteiligung bezieht sich auf das soziale Mi­lieu im Quartier. Als soziales Milieu werden an dieser Stelle soziale Kontakte im Quar­tier verstanden, die aufgrund räumlicher Nähe zustande kommen bzw. durch die räum­liche Nähe begünstigt werden (vgl. Herlyn 1998). Hinsichtlich möglicher Quartierseffek­te für die Bewohner spielen zwei Aspekte des sozialen Milieus eine besondere Rolle: Zum einen die Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen im Quartier (vgl. Wilson 1987), zum anderen die sozialen Netzwerke der Bewohner.

Das Quartier ist für Kinder und Jugendliche ein „Lernraum“ (Häußermann 2000), in dem die Erwachsenen eine Vorbildfunktion haben. Spielt Erwerbstätigkeit im Quartier nur eine untergeordnete Rolle, bekommen Heranwachsende Verhaltensweisen vorge­lebt, die zur Bewältigung von Armut und Benachteiligung sinnvoll sein mögen, aber au­ßerhalb des Milieus und Quartiers nicht akzeptiert werden. Für Erwachsene ist das Quartier auch bedeutend für die Bildung von sozialem Kapital, d.h. von „Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983, 190f.). In benach­teiligten Quartieren ist die Gefahr hoch, dass sozial homogene Netzwerke entstehen, die den Ausweg aus prekären Lebenslagen erschweren. Arbeitslose sind nicht informiert über freie Arbeitsplätze, und langjährige Bewohner von Sozialwohnungen können kaum Tipps über freie Wohnungen in einem anderen Segment des Wohnungsmarkts ge­ben.

Als besondere Form sozialer Milieus muss in Migrantenvierteln die Bedeutung des ethnischen Milieus berücksichtigt werden. Die Einschätzungen der Rolle von ethni­scher Segregation gehen dabei in der soziologischen Diskussion weit auseinander. Einer­seits gilt sie als Hemmnis der Integration, da sie die Herausbildung und Verfestigung von ethnischen Gemeinden und damit das Entstehen von „ethnischen Eliten“ (Heitmeyer 1998) forciere, die zugunsten ihrer eigenen Stabilität die Annäherung der Migranten an die deutsche Gesellschaft verhindern wollen. Andererseits wird ethnische Segregation - unter der Bedingung der Freiwilligkeit ihres Zustandekommens - als integrationsfördernd eingeschätzt, da sie den Aufbau sozialer Netzwerke und die Selbsthilfe und -orga­nisation erleichtere (Elwert 1982; Häußermann / Siebel 2001).

Die politische Repräsentanz hängt als dritter Effekt eng mit dem sozialen Milieu zu­sammen. So ist der politische Einfluss auf Stadt- und Quartiersebene vom Interesse der Quartiersbewohner und von ihrer Organisations- und Durchsetzungsfähigkeit abhängig. Das zur Durchsetzung eigener Interessen notwendige kulturelle Kapital fehlt allerdings vor allem in benachteiligten Quartieren und damit genau in den Teilen der Stadt, in de­nen die Bevölkerung besonders von der Partizipation auf Quartiersebene profitieren würde. In Migrantenquartieren schwächt der niedrigere Anteil an Wahlberechtigten die Durchsetzungskraft zusätzlich.

Der vierte Quartierseffekt liegt auf der symbolischen Ebene: Das Image des Quar­tiers kann sich auf die Bewohner übertragen und ihr Selbstbild beeinträchtigen. Das Le­ben in einem stigmatisierten Quartier kann ein Gefühl von Ausgrenzung erzeugen bzw. verstärken. Folgen von Stigmatisierung können auch durch Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt entstehen, wenn die „schlechte Adresse“ die Chancen auf einen Ausbildungs­- oder Arbeitsplatz verringert.

Auch die Möglichkeit der Identitätsbildung durch das Quartier gehört zur symboli­schen Dimension. Sie stellt eine Art psychischer Ressource dar, mit der sich ein Gefühl der Sicherheit oder des Beheimatetseins verbinden kann. So wie eine lange Wohndauer und die Erscheinung und Gestaltbarkeit des Raumes sich identitätsstiftend auswirken können (Göschel 1987), so erschwert das schlechte Image eines stigmatisierten Quartiers die Identifikation mit diesem Quartier.

Diese vier möglichen Effekte werden am Beispiel der beiden Migrantenquartiere em­pirisch überprüft.

2. Lebensverhältnisse in zwei typischen Migrantenquartieren

2.1 Die materielle Dimension

Hinsichtlich der materiellen Ressource ergibt sich in den beiden untersuchten Stadt­teilen ein sehr unterschiedliches Bild:

Die Großsiedlung des sozialen Wohnungsbaus Vahrenheide-Ost liegt am Stadtrand Hannovers, ist aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar. Die Architektur ist typisch für die Großsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre: Zeilenbau mit einzelnen Hoch­hauskomplexen. Der größte Hochhauskomplex wird im Rahmen des „Aktionspro­gramms Integrierte Sanierung Vahrenheide-Ost" abgerissen, da sich für einen Umbau kein Investor gefunden hat (LHH 2002). Es ist ein Stadtteil mit viel Grün, aber wenigen nutzbaren öffentlichen Plätzen. Die kommerzielle Infrastruktur beschränkt sich auf ei­nige Discounter und deckt damit lediglich den alltäglichen Bedarf. Wer in Vahrenheide-Ost Essen gehen will oder auf andere Art einen schönen Abend verleben, hat dazu kaum Möglichkeiten. Die soziale Infrastruktur ist dagegen weit stärker ausgeprägt, sie hat ei­nen überwiegend karitativen Charakter.

Linden-Nord dagegen ist ein verdichteter innenstadtnaher Stadtteil mit - mittlerweile überwiegend saniertem - Altbaubestand. Es gibt weniger Belegrechtswohnungen und Tendenzen der Gentrifizierung. Im Stadtteil selbst gibt es nicht sehr viel Grün, aber ein paar öffentliche Plätze, außerdem grenzt der Stadtteil an einen Fluss und die dazugehörigen Parkanlagen. Linden-Nord ist funktional gemischt; es gibt viele kleine Läden, Cafes und Kneipen, so dass das Quartier auch für Besucher attraktiv ist. Bei der sozialen Infra­struktur fällt die Vielzahl von selbstorganisierten Vereinen und Initiativen auf.

In der materiellen Dimension kann Linden-Nord Ressourcen bieten, während die Großsiedlung Vahrenheide-Ost in ihrer materiellen Ausgestaltung vor allem wegen des Fehlens kommerzieller Infrastruktur benachteiligend zu sein scheint.

Das Urteil der Migranten über die materielle Ausstattung in ihren Quartieren weicht jedoch von dieser ersten Analyse ab:

Die Lindener Migranten sind eher unzufrieden mit der baulichen Struktur des Quar­tiers und der Qualität der Wohnungen. Sie beschweren sich häufig über fehlende Grün­flächen und Parkplätze und über die mangelnde Ausstattung der Wohnungen, die zu klein und zu teuer seien, außerdem fehlten Balkone. Die Vahrenheider Migranten be­schweren sich dagegen eher über den Zustand der Wohnungen als über deren Ausstat­tung. Insgesamt sind sie mit ihren Wohnungen zufriedener als die Lindener Migranten, obwohl letztere im Durchschnitt mehr Wohnfläche zur Verfügung haben. Auch die bau­liche Struktur wird von den Migranten geschätzt; sie übernehmen nicht die Mittel­schichtskritik an der Architektur, die Großsiedlungen als quasi unbewohnbar tituliert (vgl. Jessen 1998), sondern sehen viele Vorteile der lockeren Bebauung: viel Grün, genü­gend Parkplätze und verkehrsberuhigte Zonen. „Eine der schönsten Gegenden Hanno­vers“, schwärmt ein Interviewter. Insgesamt deckt sich die positive Bewertung der städ­tebaulichen Struktur mit den Intentionen des Siedlungskonzeptes (Häußermann / Siebel 2000: 131). Die türkischen Haushalte entsprechen mit dem erwerbstätigen Mann, der nicht- oder teilzeitarbeitenden Frau und den zwei bis drei Kindern eben dem Haus­haltstyp, für den diese Siedlungen gebaut wurden (vgl. Gestring et al. 2003; Kronauer / Vogel 2004).

Der größte Vorteil von Vahrenheide-Ost ist aus der Sicht der Migranten die Kinder­freundlichkeit, da es viele Spielplätze und auch genügend Kindergärten gibt. Das reich­lich vorhandene Angebot an sozialer Infrastruktur für Erwachsene wird dagegen fast komplett ignoriert, lediglich der „demokratische Kulturverein“ und das Büro der Woh­nungsbaugesellschaft spielen im Alltag der Migranten eine Rolle. Diese Distanz gegen­über staatlich organisierten Hilfsangeboten zeigt sich bei den Lindener Migranten in gleicher Weise. Aber auch die selbstorganisierten Vereine und Initiativen werden in Lin­den-Nord von den Migranten nicht genutzt. Hier stellt sich die Frage, welche Art von In­frastruktur den Bedürfnissen türkischer Migranten entsprechen könnte.

Eine größere Bedeutung kommt der kommerziellen Infrastruktur in Linden-Nord zu: Die vielen Einkaufsmöglichkeiten werden gelobt und die Cafés als Treffpunkte genutzt. Außerdem zeichnen sich positive Effekte der funktionalen Mischung auf die Arbeitskar­rieren und die sozialen Netzwerke ab. Die Migranten aus Linden-Nord haben öfter direkt im Quartier einen Job gefunden, es gibt auch einige, die sich im Stadtteil selbständig ge­macht haben. Darüber hinaus haben die Gelegenheitsstrukturen, die das funktional ge­mischte Linden-Nord mit den vielen Cafés und Kneipen bietet, zu den größeren und in­tensiveren Netzwerken der Migranten aus Linden-Nord beigetragen. Sie haben mehr Kontakte im Stadtteil als die Befragten in Vahrenheide-Ost. Gerade die Frauen scheinen von den Möglichkeiten des Stadtteils zu profitieren, da einige - entgegen dem üblichen Trend der schrumpfenden Netze im Zuge der Familiengründung - von einer Erweiterung ihres Freundes- und Bekanntenkreises berichten.

Die Migranten in Vahrenheide-Ost haben an der spärlichen kommerziellen Infra­struktur im Quartier nichts auszusetzen, im Gegenteil: Es wird betont, dass man alles be­komme, was man brauche. Jobmöglichkeiten oder Gelegenheiten zur Knüpfung von so­zialen Kontakten ergeben sich aber bei den befragten Migranten kaum.

Als Fazit der materiellen Dimension bleibt: Die bauliche Struktur der Großsiedlung wird im Gegensatz zu der des Altbauquartiers von den Migranten als positiv wahrge­nommen. Die fehlende funktionale Mischung wird von den Migranten in der Großsied­lung zwar nicht bemängelt, führt aber durch den Mangel an Jobs und fehlenden Gelegen­heiten zur Kontaktaufnahme zu Benachteiligungen, die sich in der Struktur der Netzwer­ke niederschlagen.

2.2 Das soziale Milieu

Anhand des Interviewmaterials und der Daten zur Sozialstruktur können die Voraus­setzungen zur Milieubildung und die Beziehung der Migranten zu den Bewohnern im Quartier analysiert werden; allerdings lassen sich keine präzisen Aussagen über Exis­tenz und Größe sozialer Milieus in den Quartieren machen.

Gemessen an der Sozialhilfequote ist in den letzten Jahrzehnten in Vahrenheide-Ost eine soziale Struktur entstanden, wie sie für Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus typisch ist: Sie liegt mit knapp 23% weit über dem Durchschnitt Hannovers von 7,7% (STAUS 2000, eigene Berechnungen). Ursachen dafür sind selektive Wanderungen, sozio-ökonomische Ausgrenzungserfahrungen der Bewohner, der hohe Anteil an Belegrechts­wohnungen und die Belegungspolitik der Stadt. Zur sozialen Stabilisierung des Quartiers wurden im Rahmen des Modellprojektes „Wohnen in Hannover“ etwa 1300 der Wohnun­gen bis Ende 2004 von der Belegrechtsbindung freigestellt und sind somit frei vermiet­bar (LHH 2001). Außerdem sollen attraktivere Wohnungsbestände an Selbstnutzer ver­kauft werden - Stabilisierungsversuche, die bislang nur mäßig erfolgreich sind.

In Linden-Nord ist die Quartiersbevölkerung gemessen an der Sozialhilfequote keine benachteiligte: Der Anteil der Sozialhilfeempfänger liegt mit 10% zwar höher als der Han­noveraner Durchschnitt, befindet sich aber noch im Rahmen des für Hannover Übli­chen.  Vahrenheide-Ost und Linden-Nord sind mit Anteilen von jeweils etwa 15% die Stadtteile Hannovers mit dem höchsten Prozentsatz türkischer Bevölkerung. Aber nur in Linden-Nord gibt es eine ausgeprägte ethnische Infrastruktur, in Vahrenheide-Ost dage­gen sind kaum türkische Cafes oder Geschäfte zu finden.

Im Vergleich zur gesamten Bevölkerung weisen die türkischen Bewohner beider Stadtteile eine höhere Sesshaftigkeit und Wohndauer auf als die deutschen; gleichwohl sind beide Quartiere von Abwanderungen sowohl der ausländischen als auch der deut­schen Bevölkerung betroffen.

Die soziale Struktur im Quartier wird von den Vahrenheider Migranten als großes Problem angesehen: Man grenzt sich von den anderen Bewohnern ab, insbesondere von alkoholkranken Deutschen und anderen Migrantengruppen wie Russen, Polen, „Zigeu­nern“ und Kurden. Wenn es in Vahrenheide-Ost ein soziales Milieu, d.h. dauerhafte sozi­ale Kontakte auf Nachbarschafts- und Quartiersebene, geben sollte, sind die türkischen Migranten kein Bestandteil dieses Milieus. Diese Distanz zeigt sich in der Zusammenset­zung ihrer sozialen Netzwerke: Sie sind mit nur einer Ausnahme ethnisch homogen. Aber auch ein türkisches Milieu spielt in Vahrenheide-Ost keine überragende Rolle. Man freut sich darüber, türkische Nachbarn zu haben, weil dies das Zusammenleben erleichtert, und man schätzt die bescheidene ethnische Infrastruktur. Intensive Beziehungen beste­hen aber überwiegend nur zu Familienmitgliedern, die meist in unmittelbarer Nähe wohnen.

In Linden-Nord gibt es stärkere Anzeichen für die Existenz von sozialen und ethni­schen Milieus. Zwar grenzen sich auch die Migranten aus dem Altbauquartier von be­stimmten Gruppen im Quartier ab, vor allem von Drogensüchtigen und Kriminellen. Zugleich nehmen sie das Milieu als studentisch, offen und multikulturell wahr, was sich auch an den ethnisch heterogenen und größeren Netzen der Lindener Migranten zeigt. Sie sind stärker in das alltägliche Leben im Quartier integriert als die türkischen Mig­ranten in der Großsiedlung. Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt haben die Lindener Mig­ranten außerdem die leistungsfähigeren Netze, was auf „the strength of weak ties" (Granovetter 1973) hinweist, da die Lindener häufiger über weitläufige Beziehungsnetze im Stadtteil an Jobs gekommen sind als die Vahrenheider.

Auch hinsichtlich der sozialen Beziehungen und Netzwerke innerhalb der türkischen Bevölkerung in Linden-Nord gibt es deutliche Anzeichen eines türkischen Milieus im Quartier. Die große Anzahl türkischer Bewohner trägt dazu bei, dass sich die Migranten dort heimisch fühlen und dies mit allen Vorteilen und Nachteilen: Die ethnische Infra­struktur erfüllt viele Bedürfnisse, man kann sich mit Freunden und Bekannten im Stadt­teil verabreden, und wenn man im Quartier unterwegs ist, trifft man immer Leute, die man kennt. Aber die Migranten fürchten auch die soziale Kontrolle und das Getratsche ihrer türkischen Nachbarn und der Türken im Stadtteil. Von Teilen des türkischen Mi­lieus, insbesondere von männlichen Jugendlichen, grenzt man sich ab.

Insgesamt aber sind unsere Ergebnisse zur ethnischen Segregation weitaus unspek­takulärer, als es die theoretische Diskussion vermuten ließe. Von einer türkischen Com­munity, aus der sich die zweite Generation befreien müsste oder von türkischen Clan­strukturen kann keine Rede sein. Die überwiegend türkischen Netzwerke der Migranten aus den beiden Quartieren bestätigen dies: Sie sind meist klein und distanzempfindlich, d.h. Kontakte außerhalb des Stadtteils werden nur selten aufrechterhalten, und die engs­ten Familienmitglieder nehmen eine herausragende Stellung ein und bestimmen in den meisten Fällen auch den Wohnort der Migranten.

Das Fazit zum sozialen Milieu: Es ist die soziale und nicht die ethnische Segregation, die zu Benachteiligungen in Vahrenheide-Ost führt. Die Migranten der Großsiedlung dis­tanzieren sich vom sozialen Milieu und fühlen sich vom ihm bedroht, was benachteili­gende Auswirkungen auf die ethnische Zusammensetzung ihrer Netzwerke hat.

2.3 Die politische Repräsentanz

Der Anteil der Wahlberechtigten an der Wohnbevölkerung in Vahrenheide-Ost lag 1998 je nach Wahlbezirk zwischen 40 und 60% (Stadtdurchschnitt Hannovers: 70%), so dass von einem geringen politischen Einfluss des Quartiers auszugehen ist (Geiling et al. 2001, Hannover online 2002, e.B.). Verstärkt wird dieser Effekt durch die geringe Wahl­beteiligung, die 20 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt Hannovers liegt (Bundestags­wahl 2002). Von der Politik versprechen sich viele Bewohner von Vahrenheide-Ost offen­bar keine Verbesserung ihrer Situation. Die Politikferne und das geringe kulturelle Ka­pital der Vahrenheider Bewohner führt aber nicht zu einer Vernachlässigung des Quar­tiers durch die Stadtpolitik, im Gegenteil: Ein Spaziergang durch Vahrenheide-Ost wird zur Besichtigung des Sozialstaates. 1989 gab es bereits sieben Gutachten über das Quar­tier, seit 1997 ist der Stadtteil Sanierungsgebiet und später ein Modellprojekt im Rahmen der „Sozialen Stadt“. Ein Aspekt des Modellprojekts bezieht sich auf die Mobilisierung der Bewohner und auf die Unterstützung ihrer Fähigkeit zur Interessenartikulation und -Vertretung. Zu diesem Zweck wurde ein Bürgerforum eingerichtet, das einen kleinen Etat eigenständig verwalten kann, und es wurde ein Anwalt zur Interessenvertretung en­gagiert (advocacy planning). Ein Abbau sozialer Selektivität und die Kontaktaufnah­me zu besonders politikfernen Gruppen, zu denen auch Migranten gehören, wurde aber kaum erreicht (Geiling et al. 2001).

In Linden-Nord ist der Anteil der Wahlberechtigten mit 55% ähnlich niedrig wie in Vahrenheide-Ost, aber die Wahlbeteiligung liegt bei 80% und entspricht damit dem Mit­telwert Hannovers. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl selbstorganisierter (multi-)kultureller und politischer Vereine und Initiativen, die politischen Einfluss nehmen könn­ten. Das Potential für die Durchsetzung von Bewohnerinteressen ist in Linden-Nord um einiges höher.

Die Unterschiede der Quartiere haben auf diesbezügliche Aktivitäten der Migranten jedoch keinen Einfluss: Weder in Vahrenheide-Ost noch in Linden-Nord zeigen die Mig­ranten großes Interesse, sich politisch zu engagieren. Zu den Hilfsangeboten und Mobili­sierungsversuchen im Rahmen des Modellprojekts in Vahrenheide-Ost und auch zu den multikulturell orientierten Vereinen in Linden-Nord besteht eine große soziale Distanz. Diese lässt sich auch durch die Schichtzugehörigkeit erklären, da der Großteil der be­fragten Migranten Hauptschulabsolventen sind. Darüber hinaus liegt der Anteil derjeni­gen mit deutscher Staatsbürgerschaft bei den Interviewten bei 20%, so dass die Wenigs­ten ihre Interessen durch die Beteiligung an Wahlen zum Ausdruck bringen können.

Zusammenfassend zeigt sich, dass zumindest in Großsiedlungen fehlendes Durchsetzungsvermögen von Quartiersbewohnern keine Vernachlässigung seitens der Stadtpoli­tik zur Folge haben muss, sondern - forciert durch das öffentliche Interesse - eine be­sondere Aufmerksamkeit innerhalb der städtischen Politik nach sich ziehen kann.

2.4 Die symbolische Dimension

Linden-Nord ist kein stigmatisiertes Quartier, wie sich aus einer Medienanalyse (Handschuch 2003) und auch aus der Befragung der Gatekeeper des Wohnungs- und Ar­beitsmarktes nach dem Image der beiden Stadtteile ergibt: Es wird sowohl als „Klein-Istanbul“ als auch als „studentisch, witzig“ wahrgenommen.

Vahrenheide-Ost ist dagegen seit Entstehung der Großsiedlung ein Thema in der loka­len Presse: In den 70er Jahren wurde zunächst die Architektur bemängelt, dann das so­ziale Milieu. Auch das Urteil der Gatekeeper fällt eindeutig aus: „Letzter Abstieg“ und „Bronx von Hannover“ sind typische Beschreibungen.

Die Effekte der Stigmatisierung auf dem Arbeitsmarkt durch die schlechte Adresse sind, nach den Gesprächen mit den Gatekeepern des Arbeitsmarkts zu urteilen, eher schwach ausgeprägt. Sie betreffen vor allem Schulabgänger von bestimmten, schlecht angesehenen Schulen, die einen Ausbildungsplatz suchen.

Trotz der relativ differenzierten medialen Berichterstattung gehen auch die Lindener Migranten davon aus, dass ihr Stadtteil ein schlechtes Image hat. Den Grund dafür sehen sie im hohen Ausländer- und Türkenanteil und insbesondere in den türkischen Jugend­lichen, die den ganzen Tag auf der Straße verbringen oder mit ihren hochgetunten Autos auf der Hauptgeschäftsstraße protzen.

Die Lindener Migranten zeigen drei Strategien, mit diesem Image umzugehen (vgl. Dubet / Lapeyronnie 1994; Hanhörster / Mölder 2000; Tobias / Boettner 1992): Diejeni­gen, die gerne in einen anderen Stadtteil ziehen wollen, haben das vermeintlich schlech­te Image Linden-Nords übernommen und sorgen sich vor allem um die Sozialisationsbedingungen ihrer Kinder. Andere grenzen sich von den Personengruppen oder kleinräumigen Quartieren ab, die sie für diesen Ruf verantwortlich machen. Es gibt aber auch ei­nen selbstbewussten Umgang mit dem Image des Stadtteils, indem es zwar registriert, aber zugleich durch die eigene, positivere Wahrnehmung des Stadtteils relativiert wird. Einige Migranten zeigen eine Art Lokalpatriotismus und bezeichnen sich stolz als „Linde­ner“.

In Vahrenheide-Ost besteht ein ausgeprägtes Bewusstsein über die Stigmatisierung des Stadtteils; die Migranten haben sie mitunter am eigenen Leib erfahren, wenn sie et­wa auf die Nennung ihres Wohnortes als Reaktion ein „Wie? Du kommst aus dem Ghet­to?“ zu hören bekommen. Sie führen die Stigmatisierung auf das soziale Milieu und auf die Wohnungs- und Stadtpolitik zurück, die für dieses Milieu und die soziale Segregation verantwortlich gemacht wird. „Es ist 'ne soziale Gegend“ ist ihre Erklärung für das schlechte Image und meint den hohen Anteil an Sozialhilfeempfängern im Quartier. Die Befragten fühlen sich vom Staat alleine gelassen, der sämtliche Benachteiligte und vor allem Aussiedler nach Vahrenheide-Ost abschiebt, damit die Deutschen in den anderen Stadtteilen nicht von diesen Bevölkerungsgruppen behelligt werden. In dieser Hinsicht ist in Vahrenheide-Ost bei den Migranten ein Gefühl der Ausgrenzung innerhalb der Stadt festzustellen.

Das schlechte Image wird dementsprechend von den Migranten in Vahrenheide-Ost nicht selbstbewusst zurückgewiesen; es zeigen sich zwei Arten des Umgangs mit dem Image: Als erste Strategie übernehmen einige Migranten das Fremdbild, fühlen sich un­wohl im Quartier, befürchten einen schlechten Einfluss auf die Kinder und würden um­ziehen, wenn ihre Familien hier nicht wohnten. Die andere Strategie besteht wiederum in der Abgrenzung vom sozialen Milieu oder von bestimmten Straßenzügen innerhalb des Quartiers, auf die der schlechte Ruf nach Ansicht der Migranten auch zutrifft. Diese Abgrenzung hilft ihnen auch, ein positives Selbstbild zu bewahren; Identitätsbildung durch das Quartier oder gar Lokalpatriotismus ist unter den Migranten der Großsied­lung nicht zu finden. Als „Hannoveraner“ bezeichnet sich mancher, als „Vahrenheider“ niemand.

In der symbolischen Dimension stellt sich die Großsiedlung somit eindeutig als be­nachteiligend heraus: Zwar wirkt sich die Stigmatisierung kaum auf die Integration auf dem Arbeitsmarkt aus, erzeugt aber bei den Bewohnern ein starkes Bedürfnis nach Dis­tanz zum Milieu des Stadtteils und ein Gefühl der Ausgrenzung.

2.5 Benachteiligende Großsiedlung?

In der (Stadt-) soziologischen Diskussion herrschte lange ein bestimmtes Bild der bei­den beschriebenen Quartierstypen: Die Großsiedlung galt als an den Bedürfnissen von Bewohnern vorbei konzipiert (vgl. Flade 1987), und das Altbauquartier wird als Schutz­raum für benachteiligte Bewohner wahrgenommen (Herlyn et al. 1991). Die Interviews mit den Migranten wie auch die Untersuchungen von Kronauer und Vogel (2004) zeigen dagegen, dass bestimmte Quartierstypen nicht per se „gute" oder „schlechte" Lebensbe­dingungen bieten, sondern dass es unterschiedliche Bewohnergruppen mit eigenen Be­dürfnissen gibt, die dementsprechend in unterschiedlichen Quartieren befriedigt wer­den können.

Die befragten Migranten befinden sich alle in einer Lebensphase, die durch Familien­gründung und -erweiterung gekennzeichnet ist. Die Bedürfnisse sind bei den Migranten aus Linden-Nord und Vahrenheide-Ost somit dieselben. Die Großsiedlung ist aufgrund ihrer baulichen Struktur eher geeignet, die Bedürfnisse von Familien mit Kindern zu be­friedigen. Die soziale Struktur im Stadtteil und die Stigmatisierung der Großsiedlung da­gegen werden nicht nur von den Migranten negativ bewertet, sondern haben einen be­nachteiligenden Einfluss auf die Chancen und Lebensbedingungen: Die fehlende funkti­onale und soziale Mischung wirkt sich negativ auf nahräumliche Jobmöglichkeiten, Quantität und Leistungsfähigkeit der sozialen Netze und damit auf das soziale Kapital aus. Negative Effekte der Sozialisation, wie sie Wilson für Ghettos in US-amerikanischen Städten formuliert, zeigen sich bei den befragten Migranten, die zum großen Teil ihre Kindheit oder zumindest Jugend in den jeweiligen Quartieren verbracht haben, weder in der Großsiedlung noch im Altbauquartier (vgl. Callies 2003). Die männlichen Befragten haben im Gegenteil eine sehr hohe Arbeitsorientierung, die sie mit ihrer Rolle als Ernäh­rer der Familie begründen.

Insgesamt sind die Vahrenheider Migranten mit ihren Wohnungen zufriedener als die Lindener, obwohl ihre Wohnungen nicht nur in einem schlechteren Zustand, sondern im Durchschnitt auch teurer sind. Der durchschnittliche Mietpreis liegt in Vahrenheide-Ost bei 7,50 € inklusive der Nebenkosten, während die Lindener nur 6,50 € bezahlen. So zahlen sie einen hohen Preis dafür, in einem Quartier zu leben, in dem sich benachteili­gende Effekte kumulieren: Im Gegensatz zu einem beträchtlichen Teil der Bewohner, der für die Miete einen staatlichen Zuschuss erhält, beziehen nur wenige der befragten Mig­ranten Wohngeld oder Sozialhilfe. Sie gehören damit zu den eher stabilisierenden Bevöl­kerungsgruppen im Stadtteil, wie es auch Tobias / Boettner (1992), Neuhöfer (1998) und Friedrichs / Blasius (2000) für benachteiligte Quartiere festgestellt haben.

Ebenso wie bei den Migranten aus Linden-Nord sind die sozialen Beziehungen zu El­tern und Geschwistern der ausschlaggebende Grund dafür, dass die Vahrenheider ihr Quartier nicht verlassen. Im Vergleich zum Altbauquartier befindet sich die Großsied­lung jedoch in einer Abwärtsbewegung, was die soziale Struktur und die Stigmatisie­rung betrifft: Der relativ entspannte Wohnungsmarkt macht eine weitere soziale Entmi­schung wahrscheinlich, das Auslaufen der Belegrechtsbindungen führt zu einer ver­stärkten Konzentration der Hannoverschen Sozialwohnungen in Großsiedlungen wie Vahrenheide-Ost (vgl. Kreibich 1997), und mit einer zunehmenden sozialen Segregation wird sich auch das Image weiter verschlechtern und der Trend der selektiven Wande­rungen anhalten. Diese Abwärtsbewegung Vahrenheide-Osts machen die Bewohner des Quartiers mit, auch wenn sie innerhalb dieses Segments recht gut versorgt sind und im Laufe ihrer Wohnkarriere einen Aufstieg erleben konnten. Die Folgen der Abwärtsbewegung der Großsiedlung werden bei den Migranten am deutlichsten, die nicht nur wegen der familiären Bindungen im Quartier verbleiben, sondern sich auch finanziell an das Quartier gebunden haben. Eigentumswohnungen sind in Vahrenheide-Ost sehr günstig und einige der befragten Migranten haben die Gelegenheit genutzt und sich dort eine Wohnung gekauft. Diese Migranten haben keine Möglichkeiten mehr, das Quartier zu verlassen, wenn die dortigen Verhältnisse sich verschlechtern, da sie ihre Wohnungen dann kaum noch ohne finanzielle Verluste verkaufen können.

Das Beispiel zeigt, dass die Migranten aus Vahrenheide-Ost trotz ihrer größeren Zu­friedenheit mit der physischen Umgebung und den Wohnbedingungen im stärkeren Ma­ße durch ihren Wohnort benachteiligt sind als diejenigen aus Linden-Nord. Diese Form der Benachteiligung, die aus der Stigmatisierung und der sozialen Segregation resultiert, ist typisch für Großsiedlungen, deren soziale Struktur vorwiegend durch die Belegungs­politik der städtischen Wohnungsämter zustande gekommen ist. Eine nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen und eine Abmilderung der benachteiligenden Effek­te kann dementsprechend nur durch eine soziale und auch funktionale Mischung er­reicht werden. Derzeitige Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt und Arbeitsmarkt lassen eine solche Verbesserung jedoch unwahrscheinlich erscheinen, und auch das Pro­gramm „Soziale Stadt“ wird diesen gesellschaftlichen Trends wenig entgegenzusetzen ha­ben.

 

3. Fazit: Welchen Nutzen hat das Konzept der Quartierseffekte?

Angesichts der beiden vorgestellten Beispiele lässt sich zeigen, dass die Betrachtung von Quartieren mithilfe der vier Dimensionen von Quartierseffekten einige Vorteile bie­tet: Aufgrund der theoriegeleiteten Überlegungen zu den einzelnen Effekten sind die In­dikatoren, auf die in den einzelnen Dimensionen geachtet werden muss, leicht herzulei­ten. Anhand dieser Indikatoren ergibt sich ein strukturierter und differenzierter Blick auf das Quartier und seine eventuellen Ressourcen oder Benachteiligungen.

Welche Relevanz, welche Bedeutung kommen nun den einzelnen Quartierseffekten hinsichtlich ihrer benachteiligenden Wirkung zu?

In der materiellen Dimension ergeben sich zwischen den beiden Quartierstypen große Unterschiede. Trotz der Unterschiede und trotz einiger benachteiligender Effekte - insbesondere bei fehlender funktionaler Mischung - lässt sich festhalten, dass die ma­terielle Ausstattung benachteiligter Quartiere in Deutschland auf einem vergleichsweise höheren Niveau hegt, als das etwa in US-amerikanischen Ghettos der Fall ist. Zeichen of­fensichtlicher Verwahrlosung und Desinvestition gibt es nicht; dementsprechend ist das Ausmaß der benachteiligenden Effekte begrenzt.

Das soziale Milieu wird nach unseren Ergebnissen vor allem als soziales resp. als fehlendes soziales Kapital relevant: Es sind fehlende Informationen über Jobs und infor­melle Zugänge zum Arbeitsmarkt, die die Bewohner der Großsiedlung gegenüber denen des Altbauquartiers benachteiligen. Ein negativer Effekt der Sozialisation in benachtei­ligten Quartieren auf die Wertvorstellungen und Arbeitseinstellungen der dort Heran­wachsenden lässt sich dagegen nicht feststellen. Ein Grund dafür ist, dass in Deutsch­land auch benachteiligte Quartiere immer noch von Erwerbsarbeit und Erwerbstätigen geprägt sind und sozialstaatliche Transferleistungen zwar eine wichtige, aber bei weitem nicht die einzige Einkommensquelle der Bewohner benachteiligter Quartiere sind.

Hinsichtlich des dritten Quartierseffektes resultiert aus dem Vergleich der beiden Stadtteile die Erkenntnis, dass sich aus fehlender politischer Repräsentativität keine unmittelbar benachteiligenden Effekte ergeben. Im Gegensatz zu US-amerikanischen Städten verschwinden die benachteiligten Quartiere in Deutschland nicht aus dem öf­fentlichen Bewusstsein, so dass der Staat ein Interesse daran haben muss, diese Quartie­re soweit wie möglich zu stabilisieren. Eine hohe Wahlbeteiligung wirkt sich somit nicht unbedingt als Ressource für ein Quartier aus, während dem kulturellen Kapital vor Ort und den sich daraus ergebenden Initiativen und Organisationen mehr Bedeutung beizu­messen ist.

Die vierte Dimension der Symbolik stellt sich als dagegen als noch relevant heraus: Gerade die Stigmatisierung der Großsiedlung beeinflusst das Selbstbild, die Identifikati­on mit dem Quartier und das Selbstbewusstsein maßgeblich. Auch auf dem Arbeits­markt spielt die Adresse eine Rolle, vor allem was den Zugang zu Ausbildungsplätzen be­trifft, der sich für Schulabgänger bestimmter Schulen einschränkt.

Zusammengefasst sind es somit hauptsächlich die Dimensionen des sozialen Milieus und der Symbolik und mit einer gewissen Einschränkung auch die materielle Dimensi­on, die benachteiligte Quartiere in Deutschland zu benachteiligenden Quartieren ma­chen.

Die Autorin: Andrea Janßen, Dipl. Sozialwissenschaftlerin, geb. 1972. Studium in Oldenburg mit den Schwerpunkten Statistik und Empirische Sozialforschung. Diplomarbeit über Segregation und Lebensituation der türkischen Bevölkerung in Deutschland. Seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Stadtforschung im Projekt „Zwischen Integration und Ausgrenzung. Lebensverhältnisse türkischer Migranten der zweiten Generation.“

Literatur

  • Bourdieu, Pierre, 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Otto Schwartz, S. 183-198
  • Callies, Oliver, 2003: Nachbarschaft als Abseitsfalle? Junge Arbeitslose und ihr Wohnviertel. Hamburg: VSA-Verlag
  • Dubet, Francois / Lapeyronnie, Didier, 1994: Im Aus der Vorstädte. Der Zerfall der demokra­tischen Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta
  • Elwert, Georg, 1982: Probleme der Ausländerintegration. Gesellschaftliche Integration durch Binnenintegration? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 34, 4, S. 717-731
  • Rade, Antje, 1987: Wohnen psychologisch betrachtet. Bern: Hans Huber Verlag
  • Friedrichs, Jürgen / Blasius, Jörg, 2000: Leben in benachteiligten Wohngebieten. Opladen: Leske + Budrich
  • Geiling, Heiko / Schwarzer, Thomas / Heinzelmann, Claudia / Bartnick, Esther, 2001: Stadtteil analyse Hannover-Vahrenheide. Sozialräumliche Strukturen, Lebenswelten und Milieus. Agis-Texte 24. Hannover: agis
  • Geiling, Heiko / Schwarzer, Thomas / Heinzelmann, Claudia / Bartnick, Esther, 2001: Hanne-ver-Vahrenheide-Ost. In: Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.), 2002: Die Soziale Stadt. Eine erste Bilanz des Bund-Länder-Programms „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf / Die Soziale Stadt". Berlin: Difu, S. 152-167
  • Gestring, Norbert / Janßen, Andrea, 2002: Sozialraumanalysen aus stadtsoziologischer Sicht. In: Riege, Mario / Schubert, Herbert, (Hrsg.): Sozialraumanalyse. Grundlagen - Methoden - Pra­xis. Opladen: Leske + Budrich, S. 147-160
  • Gestring, Norbert / Janßen, Andrea / Polat, Ayca, 2003: „Als Gegend eine der schönsten Hannovers“ - Migranten in einer Großsiedlung. In: Informationen zur Raumentwicklung, H. 3/4, S. 207-216
  • Göschel, Albrecht, 1987: Lokale Identität: Hypothesen und Befunde über Stadtteilbindungen in Großstädten. Informationen zur Raumentwicklung, 3, S. 91-107
  • Granovetter, Mark, 1973: The Strength of Weak Ties, in: AJS Vol. 78, Nr. 6, S. 1260-1380
  • Handschuch, Cigdem, 2003: Die Darstellung türkischer Migranten in ausgewählten Hanno­verschen Tageszeitungen: Bestandteil eines positiven oder negativen Images? Unveröffentlich­te Diplomarbeit. Oldenburg: Carl von Ossietzky Universität
  • Hanhörster, Heike / Mölder, Margit, 2000: Konflikt- und Integrationsräume im Wohnbereich. In: Heitmeyer, Wilhelm / Anhut, Raimund (Hrsg.): Bedrohte Stadtgesellschaft. Weinheim und München: Juventa, S. 347-400
  • Hannover online 2002: Das Wahlergebnis in der Landeshauptstadt Hannover, www.hanno-ver-stadt.de/al2/wahlbr.htm: Zugriff: 27.11.2002
  • Häußermann, Hartmut, 2000: Die Krise der sozialen Stadt. In: Aus Politik und Zeitgeschich­te, B 10-11/2000, S. 13-21
  • Häußermann, Hartmut / Siebel, Walter, 2000: Wohnverhältnisse und soziale Ungleichheit. In: Harth, Annette / Scheller, Gitta / Tessin, Wulf (Hrsg.): Stadt und soziale Ungleichheit. Opla­den: Leske + Budrich, S. 120-140
  • Häußermann, Hartmut / Siebel, Walter, 2001: Multikulturelle Stadtpolitik: Segregation und Integration. In: Gestring, Norbert / Glasauer, Herbert / Hannemann, Christine / Petrowsky, Werner / Pohlan, lörg, (Hrsg.): Jahrbuch StadtRegion 2001. Opladen: Leske + Budrich, S.133-136
  • Heitmeyer, Wilhelm, 1998: Versagt die „Integrationsmaschine“ Stadt? Zum Problem der ethnisch-kulturellen Segregation und ihrer Konfliktfolgen. In: Heitmeyer, Wilhelm / Dollase, Rainer / Backes, Otto (Hrsg.): Die Krise der Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-kulturelle Zusammenleben. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 443-467
  • Herlyn, Ulfert / Lakemann, Ulrich / Lettko, Barbara, 1991: Armut und Milieu. Benachteiligte Bewohner in großstädtischen Quartieren. Basel / Boston / Berlin: Birkhäuser Verlag
  • Herlyn, Ulfert, 1998: Milieus. In: Häußermann, Hartmut (Hrsg.): Großstadt. Soziologische Stichworte. Opladen: Leske + Budrich
  • Jessen, Johann, 1998: Großsiedlungen - West. In: Häußermann, Hartmut (Hrsg.): Großstadt. Soziologische Stichworte. Opladen: Leske + Budrich, S. 104-114
  • Kreibich, Volker / Arbeitsgemeinschaft plan lokal, 1997: Wohnungsversorgung sozial Be­nachteiligter in der Landeshauptstadt Hannover. Hannover: Landeshauptstadt
  • Kronauer, Martin, 2002: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Ka­pitalismus. Frankfurt / New York: Campus
  • Kronauer, Martin / Vogel, Bertholt, 2004: Erfahrung und Bewältigung von sozialer Ausgren zung in der Großstadt: Was sind Quartierseffekte, was Lageeffekte? In: Häußermann, Hartmut/ Kronauer, Martin / Siebel, Walter (Hrsg.): An den Rändern der Städte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 235-257
  • LHH (Landeshauptstadt Hannover), 2002: Sanierungszeitung Vahrenheide-Ost, 18. Hanna ver: LHH
  • Neuhöfer, Manfred, 1998: Überforderte Nachbarschaften. Eine Analyse von Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus und die Wohnsituation von Migranten. In: Aus Politik und Zeitge­schichte 49, S. 35-45
  • STAUS (Statistikstelle Hannover), 2000: Daten zur Bevölkerungsstruktur der Stadt Hanno­ver. Hannover: unveröffentlichtes Dokument
  • Tobias, Gertrud / Boettner, Johannes (Hrsg.), 1992: Von der Hand in den Mund: Armut und Armutsbewältigung in einer westdeutschen Großstadt. Essen: Klartext
  • Wacquant, Loie J.D., 2004: Roter Gürtel, schwarzer Gürtel: Rassentrennung, Klassenungleichheit und der Staat in der französischen städtischen Peripherie und im amerikanischen Ghetto. In: Häußermann, Hartmut / Kronauer, Martin / Siebel, Walter (Hrsg.): An den Rändern der Städte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 148-200
  • Wilson, William Julius, 1987: The Truly Disadvantaged. The Inner City, the Underclass and Public Policy. Chicago / London: The University of Chicago Press

 

1Das Projekt, an dem außer der Autorin Norbert Gestring, Ayca Polat und Walter Siebel be­teiligt sind, wird von der VW-Stiftung im Rahmen des Niedersächsischen Forschungsverbunds „Technikentwicklung und Strukturwandel“ finanziert. Die Fragestellung lautet, an welchen Faktoren sich entscheidet, ob Integration gelingt oder ob sie scheitert. Schwerpunkt bildet da­bei die Integration in den Dimensionen Arbeit, Wohnen und soziale Netzwerke und die Bedeu­tung des Stadtteils für die Integration. Dazu wurden überwiegend Migranten mit Hauptschul­abschluss interviewt, da wir davon ausgegangen sind, dass mit einem solchen Schulabschluss noch relativ offen ist, ob die zukünftige Entwicklung in Richtung Integration oder in Richtung Ausgrenzung verläuft.

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