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Schrumpfen als Transformationsproblem. Ursachen und Verlaufsformen von Schrumpfung in Ostdeutschland.

Artikel vom 30.08.2010

In der öffentlichen Wahrnehmung ist Schrumpfung weitgehend auf Ostdeutschland begrenzt. Allerdings ist die Schrumpfung in Ostdeutschland auch ein im europäischen Vergleich einzigartiger Fall. Von Dieter Rink

1. Einführung

Es ist nicht lang her, dass in wissenschaftlichen Publikationen noch gegen das Tabu beim Thema „Schrumpfung“ angeschrieben wurde (Kabisch / Bernt / Peter 2004, S. 22). Dabei war ein grundlegender Wandel in der Behandlung dieses Themas bereits mit dem Bericht der sog. „Lehmann-Grube-Kommission“ (Kommission 2000) und spätestens mit dem städtebaulichen Programm „Stadtumbau Ost“ des Bundes (Beginn 2001) eingeleitet worden. Hinzu kamen in der Folgezeit Forschungsprojekte, Ausstellungen und Konferenzen, die dem Thema auch weit über die Fachwelt hinaus Öffentlichkeit verschafft haben. Hier ist etwa das europäisch-amerikanische Gemeinschaftsprojekt „Shrinking Cities“ zu nennen, das mit zahlreichen Veranstaltungen zur Popularisierung des Begriffs „Schrumpfung“ beitrug (Oswalt 2004; Oswalt 2005). Dennoch ist die deutsche Stadtentwicklungspolitik weit davon entfernt, probate Antworten auf die Fragen der Schrumpfung zu haben – zumal als eines langfristigen und unumkehrbaren Prozesses. Obwohl auch westdeutsche Städte betroffen sind, wird die Schrumpfung in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend als auf Ostdeutschland begrenzt wahrgenommen. Auch hat der „Stadtumbau West“ lange nicht die Bedeutung erlangt wie der im Osten. Das mag freilich auch daher rühren, dass die Schrumpfung in Ostdeutschland Spezifika aufweist, die sie singulär machen – nicht nur im deutschen, sondern im europäischen Kontext.

Das beginnt schon bei den Ausgangsbedingungen, denn die deutsche Vereinigung traf – und das wird häufig vergessen oder unterbewertet – mit der DDR auf ein Land, das als Ganzes, wenn auch räumlich differenziert, über Jahrzehnte geschrumpft war. Die Transformation in Ostdeutschland wurde von den politischen Eliten unter der Ägide einer „nachholenden Modernisierung“ auf Wachstum ausgerichtet. Damit suchte man den Schrumpfungsprozessen aktiv entgegenzusteuern. Auch die Wohnungspolitik folgte dieser Orientierung und das sollte neben der Modernisierung des Altbaus insbesondere durch Neubau erreicht werden. Die hier verfolgte These ist, dass dadurch erst das hervorstechende Phänomen der Schrumpfung in Ostdeutschland geschaffen wurde: der exorbitante und anhaltende Wohnungsleerstand.

 

Im Folgenden soll daher zunächst der Frage nachgegangen werden, wie die ökonomischen, institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen der deutschen Vereinigung und der Transformation in Ostdeutschland Schrumpfung und Leerstand hervorbrachten. Anschließend soll gefragt werden, inwiefern dadurch zugleich Pfadabhängigkeiten produziert wurden, die auch den Umgang mit dieser Form von Schrumpfung bestimmen. Der hier verfolgte Ansatz grenzt sich von Erklärungsmustern ab, die allein die „Verwerfungen in der Vergangenheit“ – sprich in der DDR – dafür verantwortlich machen, wie dies in prononcierter Weise etwa der Bericht der Lehmann-Grube-Kommission tut: „Das städtebauliche Erbe der DDR in ihren neuen Städten, aber auch in zahlreichen Großsiedlungen anderer Städte, erzeugt heute Wohnungsüberhänge und einen weiterhin hohen Anpassungsbedarf an künftige Bedürfnisse, um einen regelrechten Zusammenbruch der Vermietbarkeit in den betroffenen Großsiedlungen zu verhindern“ (Kommission 2000, S. 17). Freilich wird hier nicht ins Gegenteil verfallen, sondern es soll auch die Frage behandelt werden, welche Form und Ausprägung Stadtschrumpfung in der DDR angenommen hatte.

Will man die heutige Stadtumbaudebatte verstehen, ist eine Rekonstruktion der spezifischen Ausgangsbedingungen sowie der Rahmenbedingungen, wie sie durch die deutsche Vereinigung und die damit verbundene EU-Integration Ostdeutschlands geschaffen wurden, unerlässlich. Dazu soll im vorliegenden Artikel ein Beitrag geleistet werden. Zunächst wird dazu kurz die Entwicklung der Städte in der DDR skizziert werden, danach geht es um die Rahmenbedingungen der Transformation in Ostdeutschland und ihre Konsequenzen für die Stadtentwicklung. Dabei wird auch verfolgt, wie sich das Phänomen der Schrumpfung im Zeitverlauf entwickelt hat. Im Fazit wird ein Ausblick auf den weiteren Schrumpfungsprozess und dessen Implikationen für den Stadtumbau gegeben.

2. Schrumpfung und Wohnungspolitik in der DDR

Schon die DDR war ein „Land schrumpfender Städte“ (Benke 2005, S. 61). Zwar wuchsen zwischen 1950 und 1989 von den rund 200 Städten der DDR mit mehr als 10.000 Einwohnern etwa ein Drittel um mindestens 10 %, aber eine etwa gleich große Anzahl der Städte dieser Größengruppe verlor über 10 % ihrer Bevölkerung. Darunter finden sich 40 Städte, die mehr als 20 % ihrer Bevölkerung einbüßten (vgl. ebd., S. 62). Die schrumpfenden Städte der DDR stellen dabei allerdings keineswegs eine singuläre Ausnahme dar, sondern ordnen sich in europäische Trends ein.1 Insgesamt lässt sich für die DDR ein räumliches Muster beobachten: eine Umverteilung vom Land in die Städte, wobei die Wanderung von den Dörfern in die Kleinstädte und von den Kleinstädten in die Mittel- und Großstädte verlief (Hannemann 2003, S. 211). Zugleich lässt sich ein regionales Muster beobachten: Die Wanderung von den altindustriellen Zentren im Süden zu den neuen Industriestädten im Norden und Osten. Damit entstand schon zu DDR-Zeiten ein spezifischer Typus schrumpfender Städte, der sowohl seine Industrialisierung als auch seine Urbanisierung bereits vor dem zweiten Weltkrieg erfahren hatte. Diese Städte erlebten zu DDR-Zeiten eine doppelte Vernachlässigung: zum einen ihrer industriellen Strukturen, in die zugunsten der neuen Industriestandorte kaum investiert wurde. Zum anderen ihrer baulichen Strukturen, die weitgehend dem Verfall preisgegeben waren. Die DDR-Stadtentwicklungspolitik hatte sich seit den 1950er Jahren fast ausschließlich auf den Bau von industriellen Großsiedlungen in industrieller Bauweise und administrativen Zentren gerichtet. Die aus dem Kapitalismus übernommenen baulichen Strukturen wurden insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren als Relikte betrachtet, die es zu überwinden galt. Die Stadt des 19. Jahrhunderts passte nicht in das städtebauliche Leitbild der Nachkriegsmoderne, das auch die DDR verfolgte: die funktional gegliederte Stadt.2 Neben diesem Leitbild war der offizielle Blick auf die Städte geprägt von Wachstumsglauben: städtische Wachstumszentren – insbesondere die neuen sozialistischen Städte, wie Hoyerswerda oder Eisenhüttenstadt – sollten Fortschritt und Wachstum verkörpern und von der Überlegenheit des Sozialismus künden. Celina Kress spricht hier auch von der Aufrichtung „heroischer Raumbilder unrealistischer Wachstumsvisionen der 1960er / 70er Jahre“ (Kress 2008, S. 265).

Wir haben es insofern mit einem Paradox zu tun: schrumpfenden Städten trotz des Wachstumsparadigmas. Das führte dazu, dass selbst in Städten mit sinkender Bevölkerungszahl und negativen Prognosen die Planungen auf Wachstum ausgerichtet waren. Das beruhte auch auf der Fortschreibung der existierenden demographischen Strukturen (insbesondere der Haushaltszahlen und -größen). Die Städte hatten in der DDR ein existenzielles Interesse daran, denn schließlich war die Zuweisung von Ressourcen an wachsende Bevölkerungszahlen gebunden. Die Konzentration von Ressourcen und Investitionen beim Aufbau der DDR im Norden und Osten der Republik zur Schaffung einer eigenen schwerindustriellen Basis schlug sich unmittelbar in der Schrumpfung alter Städte im Süden nieder.  – das lässt sich anhand der Bevölkerungszahlen gut ablesen. Es lassen sich unterschiedliche Schrumpfungsphasen und -ursachen ausmachen. In den 1950er Jahren verloren die Städte vor allem durch die Abwanderung in den Westen, in den 1960er und 1970er lassen sich vor allem interregionale Wanderungen ausmachen, von denen – wie schon gesagt – vor allem die Städte im Norden und Osten profitierten. In den 1980er Jahren profitierten nur noch wenige Städte von diesen Zuwanderungen, einige schrumpften, selbst die, die vorher gewachsen waren. Die Geburtenrate ging zwar in den 1980er Jahren wieder zurück – nach dem sogenannten „Honecker-Buckel“ – führte im Aggregat aber bis 1988 noch nicht zu einem negativen Bevölkerungssaldo. Da (Groß)Städte erfahrungsgemäß eine niedrigere Geburtenrate als ländliche Regionen aufweisen, dürfte hierin auch eine der Ursachen für die Schrumpfung in den 1980er Jahren liegen. Einen geringen Anteil an der Schrumpfung hatte auch die Abwanderung in den Westen, die in den 1980er Jahren weniger rigide gehandhabt wurde als in den beiden Jahrzehnten davor. Ab 1984 wanderten fast durchgängig über 20.000 Menschen in die Bundesrepublik ab.

Auch in der DDR gab es schon ein Phänomen, das in der aktuellen Schrumpfungsdebatte eine zentrale Rolle spielt: den Wohnungsleerstand. Allerdings war dieser in der DDR keine Konsequenz fehlender Nachfrage, sondern des Verfalls von Wohnungen, die in der Folge unbewohnbar wurden. Die Entstehung dieses Leerstands lässt sich bis in die 1970er Jahre zurückverfolgen und auf die mangelnde Erhaltung und Modernisierung der (Altbau)Wohnungen zurückführen. Nach einer in der DDR geheim gehaltenen Studie im Auftrag der Parteiführung von 1985 waren von den in der Volkszählung 1981 erfassten Wohnungen 235.000 nicht bewohnt, dies entsprach einem Anteil von 3,6 % des Wohnungsbestands. Ca. 200.000 Wohnungen davon standen leer, weil sie verfallen, baupolizeilich gesperrt, nicht mehr vermietbar waren oder (zu einem geringen Teil) gerade saniert wurden (nach: Buck 2004, S. 344). Zur gleichen Zeit mussten 189.000 Haushalte ohne eine eigene Wohnung auskommen(ebd., S. 346). Bis Ende der 1980er Jahre wuchs diese Zahl noch weiter an, so gab es 1989 über 770.000 registrierte – also staatlich anerkannte – Wohnungsanträge, darunter ca. die Hälfte von Einzelpersonen ohne eigene Wohnung (Ostwald 1990, S. 106 ff.). Zugleich stieg auch die Zahl der leerstehenden Wohnungen weiter an: So schätzte der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft der Bundesrepublik (GdW) Anfang der 1990er Jahre, dass in den neuen Bundesländern 1989 / 90 zwischen 300.000 und 500.000 Wohnungen leer standen (nach: Buck 2004, S. 345), Hannsjörg Buck schätzt die Zahl der 1990 leer stehenden Wohnungen auf 450.000 (ebd., S. 348; die Lehmann-Grube-Kommission ging von 420.000 leerstehenden Wohnungen 1990 aus; Kommission 2000, S. 10). Die Varianz der Schätzungen reflektiert dabei das Fehlen verlässlicher Daten. Außerdem musste der durch die enorme Abwanderung 1989 und 1990 entstandene Leerstand in Rechnung gestellt werden: in beiden Jahren verließen zusammengenommen über 600.000 Menschen Ostdeutschland. Bezieht man diese geschätzten Leerstandzahlen auf die Zahl der zur Verfügung stehenden Wohnungen (das waren 1990 6.468.000), so ergibt sich eine Leerstandquote von knapp 7 %. In Großstädten mit einem umfangreichen Bestand an Altbauwohnungen konnte dies durchaus mehr sein.3

Zusammenfassend lässt sich zunächst festhalten, dass entgegen den mit dem sozialistischen Aufbau gemachten vollmundigen Versprechungen auf Wachstum und Wohlstand viele Städte unter Schrumpfung, Vernachlässigung und Verfall litten. Bereits mit der Aufgabe der Wiederaufbaupläne und dem Beginn der Errichtung von großen Neubaugebieten in den 1960er Jahren war der Verfall der Altbaugebiete vorprogrammiert. Dadurch büßten die Innenstädte an Attraktivität ein und verloren an Bevölkerung. Diese Form der Schrumpfung vollzog sich allerdings schleichend und wurde mit dem sozialistischen Wachstumsparadigma zu kaschieren versucht. Ihre Ausmaße und Konsequenzen wurden erst nach der Wende vollends sichtbar. Hinzu kam die großflächige Umverteilung der Bevölkerung durch intraregionale Wanderungen in den 1960er und 1970er Jahren.

Die Schrumpfung der Städte in der DDR hatte andere Ursachen und andere Folgen als die Schrumpfung der Städte in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung: Wohnungsmangel stand neben Wohnungsleerstand, Infrastrukturen waren eher über- als unterausgelastet und Perforation war kein Problem. Das Thema konnte in der DDR auch nicht öffentlich diskutiert werden: regionale Umverteilung war politisch gewünscht. Die Abwanderung in den Westen war erst recht ein Tabuthema, so stand einzig der Geburtenrückgang auf der politischen Agenda, wozu in den 1970er Jahren schon entsprechende Maßnahmen ergriffen worden waren (Kredite für junge Familien und bevorzugte Wohnraumversorgung), um die Geburtenrate wieder zu erhöhen.

3. Schrumpfung und Wohnungspolitik in der Transformationsphase

3.1. Schrumpfungsprozesse

Mit dem Transformationsprozess wurde Schrumpfung im ersten Jahrzehnt nach der deutschen Vereinigung in den ostdeutschen Städten zum vorherrschenden Entwicklungsmodus und – durch verschiedene Teilprozesse, die nachfolgend erörtert werden – enorm beschleunigt. Dabei lässt sich für die vormals wachsenden sozialistischen Städte im Norden und Osten eine Umkehr beobachten: sie verzeichneten mit um die 20 % die höchsten Einwohnerverluste in den 1990er Jahren. Doch auch die Städte im Süden Ostdeutschlands, die schon zu DDR-Zeiten Schrumpfung verzeichneten, verloren weiterhin an Bevölkerung, wenngleich meist nicht in dem Maße. In der Folgezeit differenzierte sich die Entwicklung wieder etwas stärker aus: Einige Städte, vor allem Großstädte mit Universitäten und Hochschulen sowie zentralen Funktionen, konnten ihre Bevölkerungszahlen im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre stabilisieren bzw. erhöhen, die meisten verharren jedoch nach wie vor auf einem Schrumpfungspfad, wobei sich die Schrumpfung im Vergleich zu den 1990er Jahren meist abschwächte.

Hinsichtlich der Ursachen für die Schrumpfung lassen sich folgende Teilprozesse unterscheiden:
1. die Abwanderung,
2. der Geburtenknick,
3. die Deindustrialisierung und
4. die Suburbanisierung, die auch in einem inneren Zusammenhang standen.

Zunächst kam es durch die unvorbereitete Öffnung der Grenze durch die DDR und die Einwanderungspolitik der BRD allein in den letzten Monaten des Jahres 1989 und bis zur Vereinigung im Jahr 1990 zur Abwanderung von ca. einer halben Million Menschen aus Ostdeutschland. Sodann bedeutete die Wirtschafts- und Währungsunion im Sommer 1990 eine übergangslose und unmittelbare Integration nicht nur in die bundesrepublikanische Wirtschaft, sondern zugleich in den EU-Binnenmarkt und den Weltmarkt sowie einen Aufwertungsschock. Dem war die ostdeutsche Wirtschaft mit ihren überwiegend altindustriellen Strukturen nicht gewachsen. Die Folge war eine historisch beispiellose Deindustrialisierung Ostdeutschlands, die – je nach Region, Wirtschaftsstruktur und Branche – zwischen 80 % und 90 % des vormaligen Besatzes betrug (Busch et al. 2008). Inzwischen hat sich dafür der Begriff des „Strukturbruchs“ eingebürgert, um diese Entwicklung von anderen hinreichend unterscheiden zu können. Für Christine Hannemann ist der Begriff Deindustrialisierung zu schwach zur Bezeichnung der Prozesse in Ostdeutschland, vielmehr führte der wirtschaftliche Strukturwandel zu einer „Erosion der wirtschaftlichen Basis“. Die Deindustrialisierung, der Abbau von Institutionen, die Restrukturierung der Landwirtschaft sowie die Demilitarisierung bedeuteten zusammengenommen eine Deökonomisierung der meisten ostdeutschen Regionen (Hannemann 2003, S. 213). Im Ergebnis dieses Prozesses hat Ostdeutschland von allen westeuropäischen Ländern die niedrigste Industriebeschäftigtendichte, ohne dass dies Zeichen einer entwickelten Dienstleistungsgesellschaft wäre (Häußermann 2008, S. 344).

Dieser Prozess bildet auch den Hintergrund für die anhaltende Schwäche des ostdeutschen Arbeitsmarktes mit dauerhaft hohen, wenn auch regional differenzierten Arbeitslosigkeitsraten von 20 – 30 %. Das Arbeitsplatzdefizit wurde dabei lange von sozial- und arbeitspolitischen Instrumenten, wie der Vorruhestandsregelung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), Weiterbildung und Umschulung aufgefangen. Dieses Defizit bildet aber nach wie vor die Hauptursache für die kontinuierliche Abwanderung vor allem von jungen und gut ausgebildeten Menschen aus Ostdeutschland (Dienel 2005). Die Abwanderung ist zu einer dauerhaften Begleiterscheinung der Transformation geworden, Herfert unterscheidet diesbezüglich zwischen einer ersten und einer zweiten Abwanderungswelle (Herfert 2006, S. 8): die erste lief Anfang der 1990er Jahre – die zweite setzte 1997 ein und erreichte ihren Höhepunkt um das Jahr 2000 und ebbt seitdem leicht ab. Abwanderung gehört aber nach wie vor zu einer der Ursachen des Bevölkerungsrückgangs, der sich infolge ausfallender Geburten in Zukunft potenzieren dürfte (Dienel 2005).

Auch der Geburtenknick lässt sich ursächlich in der Transformation verorten: Als Reaktion auf die Verunsicherung praktisch aller Lebensumstände und die Übertragung der westdeutschen Institutionen sank die Geburtenrate in Ostdeutschland auf einen historischen Tiefststand von 0,87 Geburten pro Frau (vgl. Birg 2005). Zwar hat sich die Zahl der Geburten seit Mitte der 1990er Jahre wieder erholt und mittlerweile westdeutsches Niveau fast erreicht, dennoch ist sie weit von einer „Bestandserhaltung“ entfernt. Das heißt aber für Ostdeutschland, dass mit dieser Entwicklung langfristige Schrumpfungsprozesse vorprogrammiert, ja Ostdeutschland darauf festgelegt ist. Manche Soziologen sprechen diesbezüglich auch von einer „demographischen Revolution“ (Zapf / Mau 1994).

Die intraregionale Wanderung der Bevölkerung (Suburbanisierung) hat in bedeutendem Maße zur Schrumpfung der Städte beigetragen, das wird im nächsten Abschnitt behandelt. Diese Teilprozesse führten in ihrem Zusammenspiel zu einer enormen Verstärkung von Schrumpfungstendenzen nach der deutschen Vereinigung. So meint etwa Franz, dass eine „Gemengelage aus schockartig verlaufender Deindustrialisierung, neu ermöglichter Suburbanisierung und stark rückgängigen Geburtenraten zu schnellen Einwohnerverlusten in den Städten“ führten (Franz 2008, S. 280). Dennoch wurde in den 1990er Jahren kaum über das Phänomen der „Schrumpfung“ diskutiert, vielmehr standen die einzelnen Prozesse jeweils für sich im Zentrum unterschiedlicher Diskurse, etwa Deindustrialisierung und Arbeitsmarkt, Suburbanisierung und Entwicklung der Innenstädte etc. Die damaligen Diskussionen arbeiteten in der Regel nicht mit dem Begriff Schrumpfung, obwohl es ja schon in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre dazu eine Diskussion in der Bundesrepublik gegeben hatte (vgl. Häußermann / Siebel 1988). Vielmehr wurden die regionalen Disparitäten infolge der Deindustrialisierung und Abwanderung herausgestellt. Eine Ausnahme bildet hier etwa eine frühe Prognose der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR), die in einem Gutachten aus dem Jahre 1993 eine Ausdifferenzierung der Stadtentwicklung zwischen Ost- und Westdeutschland und „schrumpfende Stadtregionen“ im östlichen Teil erwartete (nach Glock 2004, S. 41).4 Erst in der Folge, mit dem Bericht der Lehmann- Grube-Kommission, wurden diese unterschiedlichen Diskussionsstränge gebündelt und bürgerte sich dafür der Schrumpfungsbegriff ein, der eine über die Fachöffentlichkeit hinausreichende Resonanz erlangte (vgl. Kaufmann 2005). Die Lehmann-Grube-Kommission stellte ihn vor allem in den Kontext einer ungesteuerten und nicht gewollten Entwicklung: „Ungelenkte Vorgänge der Schrumpfung und des Verfalls zerstören das notwendige Gleichgewicht zwischen Bevölkerung, Wohnbauten, Verkehrssystemen sowie sämtlichen Elementen der privaten und öffentlichen Infrastruktur“ (Kommission 2000, S. 5). Sie forderte in erster Linie eine „Bereinigung“ des Wohnungsmarktes, womit im Kern der Abriss von Wohnungen gemeint war. Damit leitete sie eine Abkehr von der bis dahin verfolgten Wohnungs- und Baupolitik ein. Andere Politikfelder, wie etwa die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, wurden damit jedoch nicht berührt.

 

3.2. Wohnungs- und Städtebaupolitik

Die Wohnungspolitik und Städtebaupolitik in Ostdeutschland hatte unmittelbar nach der Vereinigung mehrere – einander nicht unbedingt entsprechende Ziele verfolgt. Generell war auch dieses Politikfeld an dem im Grundgesetz formulierten gesellschaftspolitischen Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern orientiert. Dazu wurde die Wohnungspolitik dezidiert auf die schnelle Behebung des Wohnungsmangels durch Sanierung, Modernisierung und Wohnungsbau ausgerichtet. Dem dienten auch die im Zuge des Institutionentransfers auf den Osten übertragenen Regelungen und Einrichtungen der Wohnungs- und Städtebauförderung. Außerdem sollte die schon im Einigungsvertrag festgelegte Rückübertragung verstaatlichten Eigentums auch auf dem Wohnungssektor erfolgen und eine ähnliche Eigentümerstruktur wie in den westlichen Bundesländern geschaffen werden (Leonhardt 1996, S. 243 ff.).

Darüber hinaus wurde von Anfang an mehr oder weniger explizit davon ausgegangen, dass sich die Wohnpräferenzen in Ostdeutschland denen in Westdeutschland eher rasch angleichen würden und entsprechend ging man von einem „Eigenheimstau“ aus. Daher wurde vor allem auch der Eigenheimbau „auf der grünen Wiese“ gefördert. Schließlich ist zu bemerken, dass zwar relativ schnell (1992) eine erste Erhebung des Wohnungsbestandes durchgeführt wurde (vgl. Expertenkommission Wohnungspolitik 1995), um eine Basis für die weiteren Planungen und Ausgestaltungen der Instrumente gewinnen zu können, jedoch wurden aus dem gravierenden Bevölkerungsrückgang keine Schlussfolgerungen für die Wohnungs- und Baupolitik gezogen. Der Geburteneinbruch und die Abwanderung wurden vielmehr als kurzfristige Erscheinungen angesehen, die schon mittelfristig wieder durch Wachstum abgelöst werden würden (Henckel / Grabow 1993).5 Viele ostdeutsche Städte setzten daher abermals auf Wachstum und legten das ihren Planungen in mittel- und langfristiger Perspektive zugrunde. Man stemmte sich mit Wachstumserwartungen, Wachstumsprognosen und den entsprechenden Programmen, Politiken und Planungsinstrumenten heroisch der Schrumpfung entgegen. Dadurch sollten nicht nur die ökonomischen Probleme gelöst, sondern auch die Abwanderung eingedämmt werden. Die mit der Transformation verbundenen Schrumpfungsprobleme passten zudem nicht in das Bild einer erfolgreichen Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten.

Die Städte hatten durch die Praxis der Zuweisung von Steuermitteln und Transfers auch einen Anreiz, sich ihre Bevölkerung „hochzurechnen“. Da die meisten ostdeutschen Kommunen ernsthafte Finanzprobleme haben, sind sie in besonderer Weise auf Zuweisungen von Bund und Ländern angewiesen. Diese Zuweisungen richten sich an der Bevölkerungszahl aus, daher sind die Kommunen an möglichst hohen Bevölkerungszahlen interessiert. Unter Experten wird davon ausgegangen, dass viele Bevölkerungsprognosen aus diesem Problemzusammenhang heraus politischen Vorgaben folgten. In den Flächennutzungsplänen wurden daher große Wohnbauflächen ausgewiesen, um insbesondere den Bedarf an Einfamilienhäusern befriedigen zu können. Dass der durch Geburtenknick und Abwanderung beschleunigte Rückgang der Bevölkerung jedoch schon recht bald einen gravierenden Einfluss auf die Nachfrage nach Wohnungen gewinnen könnte, kam Anfang und Mitte der 1990er Jahre kaum jemandem in den Sinn.

 

3.2.1 Veränderungen in der Institutionenordnung und in der Eigentümerstruktur

Ein weiteres zentrales Element der Wohnungspolitik war Anfang der 1990er Jahre die (Re)Privatisierung – „Restitution“ – der Wohnungen entsprechend der Leitlinie des Einigungsvertrags „Rückgabe vor Entschädigung“. Das Vermögensgesetz von 1990 schuf dafür die rechtliche Grundlage, derzufolge Alteigentümer Anträge auf Rückübertragung stellen konnten. Der Restitutionsprozess stellte einen komplizierten Prozess dar, binnen kurzem wurden ca. 2,2 Millionen Anträge auf Rückübertragung gestellt, die sich in den eigens dafür geschaffenen „Ämtern zur Regelung offener Vermögensfragen“ stapelten. Es dauerte Jahre, bis dieser Berg abgearbeitet und die Mehrzahl der Restitutionsanträge (positiv) beschieden waren. Währenddessen konnten die Grundstücke und Häuser aber weder verkauft noch Veränderungen an der Bausubstanz vorgenommen werden. Die Restitution führte zu einer gravierenden Veränderung der Eigentumsstrukturen in den neuen Bundesländern und zu immensen Vermögenstransfers von Ost nach West. Sie hatte nicht nur zahlreiche Konflikte und Rechtsstreitigkeiten zur Folge (vgl. Reimann 1997), sondern verzögerte Investitionsmaßnahmen insbesondere in den Altbaubestand. Dies stellte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ein ernsthaftes Hindernis für den Sanierungsprozess in den ostdeutschen Innenstädten dar. Ein wesentliches Ergebnis der Restitution war auch die Kommerzialisierung des Grundbesitzes insbesondere in den großen Städten, das führte zu einer Dominanz von „Verwertungseigentümern“ (vgl. ebd.). Um Investitionen – nicht nur im Wohnungsbausektor – zu beschleunigen wurde außerdem das Investitionsvorranggesetz verabschiedet, das es – in begründeten Fällen – gestattete, auch bei vorliegenden Rückübertragungsansprüchen, Immobilien zu veräußern bzw. zu sanieren.

Eine andere gravierende Änderung der Institutionenordnung und Eigentümerstruktur betraf die kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen. Sie wurden zunächst in ihren Satzungen an bundesdeutsches Recht angepasst und an marktwirtschaftlichen Kriterien ausgerichtet. Zugleich wurden diesen Unternehmen mit dem Einigungsvertrag die Baukosten für die Plattenbauten aus DDR-Zeiten als Altschulden übertragen. Zur Abfederung dieser Maßnahme wurde aber festgelegt, dass diese einen Betrag von 150 DM pro Quadratmeter nicht überschreiten sollten. Da die hohe Belastung durch die Altschulden ein Investitionshindernis darstellte und eine notwendige Sanierung der Wohnungen erschwerte bzw. verhinderte, wurde ein sogenanntes „Altschuldenhilfegesetz“ verabschiedet, das 1993 in Kraft trat. Durch dieses Gesetz wurden die ostdeutschen Wohnungsunternehmen um etwa die Hälfte ihrer noch aus DDR-Zeiten stammenden Altschulden entlastet. Die mit diesem Gesetz verbundene Teilentlastung von Altschulden wurde an die Verpflichtung gebunden, mindestens 15 % des Wohnungsbestandes vorzugsweise an Mieter bzw. Genossenschaftsmitglieder zu privatisieren. Auch hierdurch sollte die beabsichtigte Veränderung der ostdeutschen Eigentümerstruktur erreicht werden. Allerdings waren diese Privatisierungsvorgaben von der Mehrzahl der Wohnungsunternehmen nur schwer zu erfüllen, daher wurden durch Beschluss des Bundestages 1995 auch andere Privatisierungsformen zugelassen (vgl. http:// www.stadtumbau-ost.info). Diese Altschulden und das Altschuldenhilfegesetz bilden ein wichtiges Steuerungsinstrument des Bundes in Bezug auf die Stadtentwicklung und Wohnungspolitik in den neuen Bundesländern und erlangten im Zuge des Stadtumbaus eine zentrale Bedeutung.

Dem Ziel der Sanierung der Altbaubestände insbesondere in den Innenstädten diente die Übertragung der Städtebauförderung auf Ostdeutschland. In der Folge wurden in vielen Städten in Ostdeutschland z.T. großflächige Sanierungsgebiete ausgewiesen und Millionen öffentlicher Fördermittel in Wohnbauten und das Wohnumfeld investiert. Dabei wurde vielfach auf die in der Sanierungspraxis westdeutscher Städte gewonnenen Erfahrungen zurückgegriffen (vgl. Echter / Mittag 1999) und entsprechende Konzepte auf den Osten „rübergeklappt“ (Bernt 2003). Aufgrund der üppigen Möglichkeiten der Steuerabschreibung waren aber viele der neuen Besitzer gar nicht an (weiteren) öffentlichen Zuschüssen interessiert, so dass die Sanierung weitgehend „raumblind“ erfolgte. Sie nahm weder auf die städtebaulichen Zielvorgaben noch auf Lagemerkmale Rücksicht. Man kann sagen, dass in Ostdeutschland spezifische Strukturen einführt worden sind, die sich später als Hypothek für den Stadtumbau erweisen sollten.

 

 

3.2.2 Förderung von Wohnungsbau

Der Förderung von privatem Wohneigentum sowie zur Schaffung von Wohnungen diente die Subventionierung des Eigenheimbaus. Dazu wurde zunächst die Eigenheimzulage auf den Osten übertragen, die sich aber aufgrund der niedrigen Einkommen und der Laufzeiten erst im Zeitverlauf auswirken konnte. Viel schneller wirkten dagegen die Steuerabschreibungen, die bei Wohnungsbau- und Sanierungsinvestitionen in den neuen Bundesländern bis 1998 geltend gemacht werden konnten. Dabei konnten bis zu 50 % der Investitionskosten als Sonder-AfA von der Einkommenssteuer abgeschrieben werden. Dieses steuerpolitische Instrument erzeugte einen regelrechten Bauboom auf der grünen Wiese. Zwischen 1991 und 1999 gab es ca. 776.000 Wohnungsfertigstellungen, darunter befanden sich knapp 700.000 Neubauten (Kommission 2000, S. 10; Hinrichs 1999, S. 16). Es wird geschätzt, dass dadurch allein ca. 27 Mrd. DM an Einkommenssteuern in den Wohnungsbau (und die Sanierung) flossen (Kommission 2000, S. 30).6 Allerdings trug dies nur unwesentlich zur Erhöhung der Wohneigentumsquote in den neuen Bundesländern bei, da vor allem einkommensstarke Westdeutsche von dieser Sonder-AfA Gebrauch machten bzw. aufgrund ihrer Vermögenssituation Gebrauch machen konnten. Sie investierten häufig in von Banken aufgelegten Anlagefonds oder direkt bei den Bauträgern. Das hatte mehrere Nebeneffekte: So wurde weitgehend unabhängig von Lagemerkmalen investiert, spielten städtebauliche Instrumente wie insbesondere die förmlich ausgewiesenen Sanierungsgebiete nur eine Nebenrolle und es wurden vorrangig Neubauten im Umland der (Groß)Städte errichtet. Diese Neubauten entsprechen daher auch nur zum Teil dem aus dem Westen gewohnten Bild vom Wohnen im Eigenheim und damit den Intentionen des Gesetzgebers: es sind in der Mehrheit Mehrfamilienhäuser in Wohnkomplexen (vgl. Nuissl / Rink 2005). Zumindest ein Ziel wurde dadurch viel schneller erreicht als erwartet: die Beseitigung des Wohnungsmangels. Dieser schlug in unglaublich kurzer Zeit (innerhalb der zweiten Hälfte der 1990er Jahre) in ein erhebliches Überangebot vor allem sanierter, zu einem kleineren Teil auch neu gebauter Wohnungen um. Der hohe Sockel an nicht sanierten, z.T. unbewohnbaren Wohnungen konnte zwar abgebaut werden, sie gehören aber nach wie vor zum Bestand des Wohnungsleerstands. Damit waren Prognosen zur Entwicklung des Wohnungsangebots in Ostdeutschland rasch überholt, die davon ausgingen, dass der Nachholprozess lange dauern und sehr, sehr viel Geld kosten würde.7

Der Leerstand von Wohnungen war ein ständiger Begleiter der Transformation und kann als zentrales Problem der Schrumpfung in ostdeutschen Städten und deren augenfälligstes Merkmal angesehen werden. Eine erste Aufnahme des Wohnungsbestands wurde 1992 durch das Bundesministerium für Bauwesen durchgeführt. Nach einer Eigentümerbefragung in den neuen Bundesländern wurden schon zum damaligen Zeitpunkt ca. 800.000 bis 1.000.000 leer stehende Wohnungen geschätzt, was einem Anteil von etwa 7 % des Gesamtbestandes entsprach (Leonhardt 1996, S. 205; vgl. Expertenkommission Wohnungspolitik 1995, S. 9). Eine Erhebung im Rahmen des Mikrozensus erbrachte allerdings eine weit niedrigere Zahl: Nach der am 30. September 1993 durchgeführten Wohnungsstichprobe standen etwa 430.000 Wohnungen in Ostdeutschland leer, vorrangig wegen baulicher Mängel, aber auch schon wegen beginnender Sanierung. Die Wohnungs- und Gebäudezählung am 30. September 1995 erbrachte in den neuen Ländern einschließlich Ostberlin einen Leerstand von 456.000 Wohnungen (nach: Buck 2004, S. 347). Die Ursachen waren nun neben den baulichen Mängeln zu fast einem Drittel Instandsetzungsarbeiten. Vor allem die innerstädtischen Altbaugebiete mit ihren schlechten Wohnbedingungen waren die Quellgebiete der Westwanderung und anschließend der Suburbanisierungswelle. Hier war der Leerstand bereits ein bekanntes Phänomen und erreichte unmittelbar vor bzw. in der Sanierungsphase Mitte der 1990er Jahre teilweise Werte von 30 – 40 %. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verdoppelte sich dann die Zahl der leerstehenden Wohnungen, der Mikrozensus erbrachte bereits für 1998 eine Zahl von nahezu einer Million. In der Folge kam es dann zur Einsetzung der Lehmann-Grube- Kommission und zur öffentlichen Debatte um dieses Thema.

Welche Wirkungen zeitigten diese Maßnahmen und Strategien nun in ihrem Zusammenwirken? Die Restitution stellte – wie schon gesagt – das zentrale Investitionshemmnis dar (vgl. auch Reimann 1997, S. 111). Der Sanierungs- und Modernisierungsprozess in den Innenstädten wurde zunächst gebremst und Investitionen häufig genug auf die „grüne Wiese“ gelenkt, was in wesentlichem Maße zur Suburbanisierung beigetragen hat. Das Wachstum außerhalb der Städte ging dabei vor allem zulasten der Stellung der Innenstädte als Wohnstandorte (vgl. Couch et al. 2005). Die Restitution hat in den Altbaubeständen eine kaum am Stadtumbau interessierte Eigentümer- und Vermieterstruktur hervorgebracht, da die „Steuerabschreiber“ vorrangig an der Vermietung der eigenen Bestände interessiert sind. Mit dem Altschuldenhilfegesetz wurden aber die kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen in besonderer Weise belastet. Dies bildete dann die Grundlage, um hier mit dem § 6a des Altschuldenhilfegesetzes einen fiskalischen Anreiz zum Abriss von Wohnungen zu schaffen. Im Ergebnis beider Prozesse wurde – quasi als unintendierte Nebenwirkung – eine Struktur etabliert, in der nur ein Teil der Eigentümer (und damit auch nur Teile der Bestände) für Maßnahmen der Marktbereinigung im Zuge des Stadtumbaus zugänglich ist, während andere davon profitieren. Damit ist der Stadtumbau aber fiskalisch, institutionell und räumlich vorstrukturiert.

4. Fazit

Wir haben es zunächst mit gegenläufigen Entwicklungen zu tun: Auf der einen Seite sind in der Transformation in Ostdeutschland ökonomische Rahmenbedingungen gesetzt worden, die ökonomische Schrumpfung, Strukturbruch, „De-Ökonomisierung“ (Hannemann 2003) sowie Bevölkerungsschrumpfung bewirkten. Auf der anderen Seite wurden auf dem Wohnungssektor fiskalische Anreize geschaffen, die einen Bauboom auslösten und ein beträchtliches Überangebot schufen. Die Transformation hat unter der Ägide von nachholender Modernisierung und Wachstumserwartungen jene spezifischen Probleme hervorgebracht, die den Hintergrund für den heutigen Stadtumbau bilden. Es gelang in der Transformation nur partiell, die von der DDR hinterlassenen städtebaulichen Probleme zu lösen. Man gewinnt auch den Eindruck, dass dies nicht das vorrangige Ziel der Städtebau- und Wohnungspolitik in der Transformation war, sondern Interessengruppen bedient werden sollten. Diese Spezifika zusammengenommen machen den Fall Ostdeutschland singulär, er ist keine „Laborsituation“, der Schlussfolgerungen für schrumpfende westliche Industrieregionen oder östliche Transformationsgesellschaften zulässt (Hannemann 2003, S. 217).

Stadtschrumpfung hat in Ostdeutschland eine besondere Ausprägung erlangt und ist sowohl aufgrund ihrer spezifischen Kontexte als auch ihrer Verlaufsform nur partiell mit den osteuropäischen Transformationsländern vergleichbar: Sie erfuhren weder diese drastische Deindustrialisierung noch eine Abwanderung in dem Ausmaß und auch keinen vergleichbaren Geburteneinbruch. Sie haben nicht mit dem „Luxus der leer stehenden Wohnungen“ zu kämpfen, sondern nach wie vor mit Wohnungsmangel. Schließlich stehen ihnen auch nicht in dem Maße die finanziellen Ressourcen für die Bewältigung der Schrumpfungsfolgen zur Verfügung. Auch die Mischung aus Restitution und Altschuldenhilfe ist ein deutscher Sonderweg in der Wohnungs- und Baupolitik.

Der Fall Ostdeutschland gewinnt seine Spezifik des Weiteren daraus, dass es hier schon zu DDR-Zeiten unterschiedliche Schrumpfungsprozesse gegeben hat. Die Schrumpfung nach 1990 knüpfte also an die schon vorher vorhandene an, schrumpfende Städte sind insofern kein neuer Stadttypus in Ostdeutschland, vielmehr begleiten sie seine Entwicklung. Dieser Typus wird in Zukunft vermutlich eine weitere Ausprägung und Ausdifferenzierung erfahren, zumal Schrumpfung zum dominanten Entwicklungsmodus in ostdeutschen Städten geworden ist. In den letzten Jahren haben sich die regionalen Unterschiede in Ostdeutschland insofern vertieft, als es hier zu einem Auseinanderfallen zwischen weiter schrumpfenden und sich stabilisierenden bzw. wachsenden Städten kam. Dafür hat Herfert etwa eine Polarisierung zwischen Disurbanisierung und Reurbanisierung diagnostiziert (vgl. Herfert 2006). Dennoch erscheint selbst für sich stabilisierende Großstädte ein Aufholprozess bzw. Rückgewinn früherer Funktionen illusorisch: Sie „fügen“ sich nicht dort wieder ein, wo sie nach dem zweiten Weltkrieg einmal „herausgefallen“ sind (Henckel / Grabow 1993). Das ist nicht zuletzt auch deswegen der Fall, da in den meisten Städten und Regionen die Strukturschwäche auf längere Sicht bestehen bleiben wird. Damit bleibt die wichtigste Ursache für die Abwanderung erhalten. Außerdem wird es bedingt durch den „Geburtenknick“ Anfang der 1990er Jahre in den nächsten Jahren zu einer fortgesetzten negativen Bevölkerungsentwicklung kommen. Nach verschiedenen Szenarien werden dann schon Mitte der 2010er Jahre die Haushaltszahlen und damit die Nachfrage nach Wohnungen (weiter) zurückgehen. Nach allen Prognosen stehen wir unmittelbar vor einer zweiten Leerstandswelle. Die schon Anfang der 2000er Jahre diagnostizierten Leerstandszahlen von ca. 1.000.000 Wohnungen werden somit vermutlich zu einem Dauerzustand, Stadtumbau zu einem Dauerthema der Stadtentwicklung in Ostdeutschland.

Der Autor: Prof. Dr. Dieter Rink ist am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig tätig und Honorarprofessor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Mittweida. Seine Forschungsschwerpunkte sind Stadtentwicklung, Nachhaltigkeit und Naturverständnisse.

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1 So lassen sich in einer Reihe von europäischen Großstädten über 200.000 Einwohnern seit den 1960er Jahren Schrumpfungsprozesse nachweisen (Turok/Mykhnenko 2007). Die hier dargestellten Städte, die im Verlauf der DDR mindestens zu einem Zeitpunkt 50.000 Einwohner hatten, sind aber nur zu einem geringen Teil in dieser Untersuchung vertreten.

2 Erst in den 1970er Jahren wurde die Gründerzeit differenzierter betrachtet und rückte ihre Sanierung in den Bereich der staatlichen Baupolitik. Zwar konnte die DDR einige Gründerzeitviertel in exemplarischer Weise sanieren und modernisieren (etwa das Nikolaiviertel in Berlin oder die innere Westvorstadt in Leipzig), sie war aber nicht mehr in der Lage, diesen Prozess in die Breite zu tragen.

3 So schätzt man, dass etwa in Leipzig – einer Stadt mit einem großen Bestand an Altbauwohnungen – 1989 / 90 ca. 25.000 Wohnungen leer standen, das waren zum damaligen Zeitpunkt ca. 10% des Bestandes. Diese Wohnungen galten als unbewohnbar, zugleich gab es in Leipzig 27.000 unerledigte Wohnungsanträge. Quantitativ existierte jedoch schon zu diesem Zeitpunkt ein (geschätztes) Überangebot: 253.000 Wohnungen standen 235.000 Haushalte gegenüber (Stadt Leipzig 1993, S. 24; Steinführer 2004, S. 165 ff.).

4  Nur vereinzelt wurde zu diesem Zeitpunkt für ostdeutsche Städte eine „Schrumpfung“ diagnostiziert, so etwa für Leipzig (vgl. Döhler/Rink 1996, S. 264 ff.).

5 In einer der ersten Studien zur Stadtentwicklung nach der deutschen Vereinigung ging ein Team des DIFU davon aus, dass sich „die ostdeutschen Städte im Wesentlichen wieder dort in die Städtehierarchie ‚einfügen‘ (werden), wo sie ‚herausgefallen‘ sind – nicht nur der Größe, sondern auch der Bedeutung nach“ (Henckel/Grabow 1993, S. 43).

6 Das ist allerdings weit weniger, als die Expertenkommission Wohnungspolitik Anfang der 1990er Jahre als Bedarf prognostiziert hatte. Sie war allein für die Sanierung der vorhandenen Wohnungen und den Neubau von einem jährlichen Volumen von rund 50 Mrd. DM und einem Zeitraum von zwanzig Jahren ausgegangen (Expertenkommission Wohnungspolitik 1995, S. 10).

7 Hier ist etwa das Gutachten der von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission Wohnungspolitik aus dem Jahre 1994 zu nennen: „Es wird nicht Jahre, sondern Dekaden dauern, bis ein ähnlich ausdifferenziertes Angebot an Wohnungen mit guter Wohnqualität wie in Westdeutschland erreicht worden ist“ (Expertenkommission 1995, S. 9 f.).

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