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Der Streit als Quelle der Erneuerung demokratischer Gemeinwesen

Artikel vom 11.05.2017

Foto Christoph Rau

Vortrag von Nicole Deitelhoff anlässlich der Verleihung des Schader-Preises am 11. Mai 2017.

Einleitung

Warum wird immer wieder die Geltung der internationalen Schutzverantwortung, die Staaten und mittelbar die internationale Staatengemeinschaft dazu verpflichtet, ihre Bürgerinnen und Bürger vor schwersten Verbrechen zu schützen, in Frage gestellt? Warum sollten wir glauben, dass das internationale Folterverbot durch die offenbaren und vor allem offen gerechtfertigten Verletzungen seitens der US-Regierung unter George W. Bush gelitten hat? Und warum betrachten wir mit Sorge, wenn einzelne afrikanische Staaten überlegen, den Internationalen Strafgerichtshof zu verlassen? Alle diese Normen und Institutionen sind in den letzten Jahren Gegenstand heftiger Konflikte geworden, die ihre Anwendung oder Akzeptabilität thematisierten und die in den Augen vieler Beobachter nahe legen, diese Normen und Institutionen hätten an Bedeutung verloren, wären signifikant geschwächt oder stünden gar am Beginn eines Erosionsprozesses, der auf eine fundamentalere Krise liberaler internationaler Ordnung hinweist. Wir sind darauf trainiert anzunehmen, dass Streit Institutionen und Normen automatisch schwächt. Schon der Streit an sich wird somit zum Merkmal der Schwächung internationaler Normen und Institutionen und der Ordnung, die sie ausmachen.

Ganz ähnliche Dynamiken der Bestreitung von Normen und Institutionen erleben wir in den letzten Jahren innerhalb unserer Gesellschaften. Ist nicht der Aufschwung populistischer Bewegungen und Parteien in und jenseits von Europa und die Angriffe auf zentrale Normen und Institutionen unserer liberalen Gesellschaften genauso deutlich ein Zeichen für die Schwächung, ja Krise demokratischer Gemeinwesen? Sind diese mithin auch am Beginn einer Erosionsprozesses, zerrieben zwischen fake news, Ressentiments und intellektueller Arroganz? Dieses Schreckensszenario müssen wir nicht hinnehmen. Der Streit um Normen und Institutionen, so mein Argument, ist ebenso Indikator für eine Krise von Normen und Institutionen wie auch Quelle ihrer Erneuerung. Um diese Quelle anzuzapfen, müssen wir den Streit allerdings suchen und ihn nicht länger vermeiden. Das ist auch eine Aufgabe der Wissenschaft, der Sozialwissenschaften zumal, die diese zusehends vernachlässigt hat. Ohne lebendigen Streit in der politischen Öffentlichkeit über die Grundlagen des Zusammenlebens  zwischen mündigen Bürgerinnen und Bürgern erlahmt die Erneuerung demokratischer Gemeinwesen, denn erst in diesem Streit, in der Zurückweisung von Ansprüchen und Forderungen und der radikalen Kritik an Institutionen und Normen, entdecken und erfahren sich Bürgerinnen und Bürger als Demos und nehmen ihr Gemeinwesen, mithin die Normen und Institutionen, die ihr Zusammenleben bestimmen, in Besitz.

Zur Krise liberaler Ordnungen: (Rechts-)Populismus und Postfaktizität

Der gegenwärtige Aufschwung rechtspopulistischer Bewegungen in Europa und darüber hinaus ist unübersehbar. In Polen und Ungarn sind rechtspopulistische bzw.- rechtsnationale Regierungen an der Macht, in den Niederlanden, in Frankreich, in Großbritannien oder Deutschland haben rechtspopulistische Bewegungen zuletzt große Erfolge erzielt. Das gilt auch nach den Wahlen in den Niederlanden, in denen Geert Wilders seine Erwartungen nicht erreichen konnte oder der Stichwahl um die Präsidentschaft in Frankreich, bei der die rechtsextreme Marine Le Pen Emmanuel Macron unterlag. In beiden Fällen haben die rechtspopulistischen Bewegungen bzw. Parteien enorme Wähleranteile mobilisieren können.

Die rechtspopulistischen Herausforderer eint eine teils grundsätzliche Kritik an der liberalen demokratischen Ordnung, wobei oftmals schon das Adjektiv liberal als Schimpfwort gilt: Sie lehnen internationale Normen und Institutionen, in Europa die Europäische Union, ab. Sie verlangen eine Abschottung der Gesellschaften nach außen und bestreiten mehr oder minder deutlich liberale Grundrechte, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung. Noch deutlicher ist ihnen eine xenophobe, bisweilen auch offen rassistische Ausrichtung. Im Kern aber eint sie ihr Anspruch, für „das Volk“ zu sprechen, wobei sie einen direkten Zugang zu diesem mystischen Gebilde reklamieren: Sie allein wissen, wie das Volk denkt und sie werden ihm die Macht zurück erringen, die ihm von korrumpierten Eliten entrissen wurde.[1]

Von all diesen Merkmalen abgesehen, gibt es aber noch eines, das ebenfalls mit dem Populismus in Verbindung gebracht wird und zumindest in seinem Fahrwasser mitsegelt. Sie nehmen es, vorsichtig ausgedrückt, nicht so genau mit der Wahrheit. Ganz im Gegenteil: Fake news und Verschwörungstheorien sind zum Chiffre ihrer Wahlkampfstrategien geworden: Ob die extrem hohe Kriminalitätsrate unter Ausländerinnen und Ausländern, vermeintliche Vergewaltigungen durch Flüchtlinge, die Frage, ob Barack Obama gar kein US-Bürger sei oder die Kosten, die Großbritannien wöchentlich an die Europäische Union entrichten muss, populistische Bewegungen greifen gezielt zu Lügen und Verzerrungen, um Erfolge zu erzielen. Sie haben damit auch Erfolg.

Der Leave-Kampagne in Großbritannien hat es nicht geschadet, dass binnen kürzester Zeit von den Medien offenbart wurde, dass die von ihr behauptete Summe von 350 Millionen Pfund als wöchentliche Zahlung an die EU nicht stimmt, weil die EU einen erheblichen Betrag zurücküberweist, so dass die Endsumme eher bei ca. 160 Millionen Pfund anzusiedeln wäre. Bis zuletzt war der Tourbus mit der ominösen „350“ bedruckt. Auch als am Tag nach der Abstimmung führende Politiker der Leave-Kampagne, wie Nigel Farage oder Boris Johnson, zugaben, dass die Summe nicht korrekt ist und dass sie damit auch nicht für das marode Gesundheitswesen in Großbritannien zur Verfügung stünde, schadete ihnen das nicht im Geringsten.

Dass Barack Obama 2011 eine Pressekonferenz gab, auf der er seine Geburtsurkunde aus Hawaii präsentierte, um den Gerüchten um seine Herkunft, die insbesondere ein gewisser Donald Trump popularisierte, ein Ende zu machen, half ihm so gut wie gar nicht. Die Storyline änderte sich nur geringfügig, weil nun die Echtheit der Geburtsurkunde angezweifelt und den hawaiianischen Behörden ein Komplott unterstellt wurde.

Und ähnlich sieht es auch bezüglich der Kriminalitätsrate von ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus. Der AfD-Spitzenkandidat Pazderski für die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus gab in einer Talkshow im September 2016 öffentlich zu, dass die Statistiken seine Angaben zur Kriminalität von Ausländerinnen und Ausländern nicht deckten. „Aber es komme nicht auf die Statistik an, sondern auf das ‚Gefühl’ der Bürger. ‚Das was man fühlt, ist auch Realität’“.[2]  Auf Grundlage dieses „Gefühls“ konnte die AfD  mit rund 14 Prozent der Stimmen ein sehr gutes Wahlergebnis in Berlin erzielen.

Diese Banalisierung des Unterschieds zwischen Fakt und Gefühl, Tatsachen und Meinung, zeichnet das postfaktische Zeitalter aus. Dass Politikerinnen und Politiker ein eher entspanntes Verhältnis zur Wahrheit haben, ist an sich nichts Neues: Jahrzehnte von Walversprechungen haben das noch jeder Bürgerin und jedem Bürger schonungslos offenbart. Und auch die gegenwärtige Fake news-Debatte ist so neu nicht, sondern begann in den USA bereits im Präsidentschaftswahlkampf 2011/12 unter anderem zur Frage der Herkunft Barack Obamas (birtherism). Aber auch in der Frage der US-Intervention im Irak in 2003 waren fake news ein großes Thema, als es um die Frage ging, ob Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen habe, wie Colin Powell als Außenminister für die US-Regierung behauptete. Mittlerweile ist klar, hatte er nicht und vermutlich wusste das die US-Regierung oder Teile der Regierung auch bereits zu diesem Zeitpunkt.

Was sich zwischen diesem Vorfall 2003 und den gegenwärtigen Kampagnen verändert hat, ist darum nicht so sehr, dass Politikerinnen und Politiker mehr lügen als vorher, sondern dass es sie und ihre Unterstützungsbasis kaum interessiert, wenn ihre Lügen aufgedeckt werden. Colin Powell hat erhebliche Reputationsverluste hinnehmen müssen; seine Glaubwürdigkeit war erschüttert. Boris Johnson ist dagegen Außenminister von Großbritannien geworden und Donald Trump gar Präsident der Vereinigten Staaten.

Ganz offenkundig spielt nicht der Inhalt der Lüge die zentrale Rolle, sondern die Lüge übernimmt eine spezifische Funktion: Sie ist primär eine Haltung, ein Signal an „die da oben“, dass man ein „weiter so“ nicht mehr hinnehmen will. Jennifer Hochschildt und Katherine Levine Einstein zitieren in diesem Zusammenhang höchst instruktiv ein Mitglied der Tea Party Bewegung zur Frage nach der Debatte um Barack Obamas Herkunft: „The birther issue definitely isn’t part of our core values, but what Donald Trump is doing is questioning things and saying: ‚Why do we have to just accept everything? To hold the birther view is to affiliate oneself with an attitude, not a truth claim.’“[3] [Die Herkunftsfrage gehört natürlich nicht zu unseren Kernanliegen, aber was Donald Trump hier macht, ist Dinge grundsätzlich zu hinterfragen und zu sagen: warum müssen wir eigentlich alles einfach so akzeptieren? Barack Obamas Herkunft in Frage zu stellen, heißt sich dieser Haltung anzuschließen und nicht einen Wahrheitsanspruch zu erheben; meine Übersetzung]. Das bedeutet, je absurder die Lüge, desto glaubwürdiger und unterstützenswerter ist derjenige, der sie äußert. Donald Trump dürfte das Paradebeispiel dafür sein. Im Geiste der Revolte lässt man ihm alles durchgehen: Beleidigungen, Lügen und persönliches Fehlverhalten.

Das ist auch der Grund, warum es – anders als Bernhard Pörksen es in seinem sehr lesenswerten Beitrag in der ZEIT suggeriert[4] -- durchaus richtig ist, von postfaktischen Zeiten zu sprechen und nicht von Zeiten der politischen Lüge, denn die Wahrheit ist nicht länger der Gegenspieler der Lüge, sondern ein letztlich kontingentes Merkmal politischer Aussagen, das nicht länger über ihre Wirksamkeit entscheidet oder Konflikte auflösen kann.[5]

Wenn die politische Lüge primär zum Symbol der Ablehnung des Establishments, der Ordnung und ihrer zentralen Institutionen und Normen wird, steht mehr auf dem Spiel als die kurzfristige Wirksamkeit eines Arguments. Es ist die Funktion öffentlicher Auseinandersetzung, die Aneignung dieser Ordnung durch die Entdeckung und Verhandlung politischer Alternativen, die zur Disposition steht, weil ihr die Basis,  das „Miteinander ringen“ um diese Alternativen, verloren geht.

Die Ursachen

Viel ist geschrieben worden über die Ursachen von Postfaktizität und den gegenwärtigen Aufstieg populistischer Bewegungen.

Da ist zunächst die Globalisierungsfurcht, die gerade im Kontext globaler Krisen, wie der Wirtschafts- und Finanzkrise oder eben jüngst massiver Flüchtlingsbewegungen, nochmals zugenommen hat und bei Bürgerinnen und Bürgern ein Gefühl elementarer Verunsicherung hervorgerufen hat, ob die Politik die Kompetenzen habe, um den entfesselten Globalisierungskräften etwas entgegenzusetzen oder negativ konnotiert, ob ihr nicht schon der Wille fehle, dies zu tun. Auch die zunehmende Ungleichheit wird in diesem Kontext relevant. Globalisierung hat zwar einige profitieren lassen und neue Möglichkeiten geschaffen, für andere hat sie aber zum Wegfall von Möglichkeiten und sozialem Abstieg geführt und die Schere zwischen Arm und Reich weiter vergrößert. Die sogenannten Abgehängten sehen in der Globalisierung keine Chancen mehr, sondern nur mehr elementare Existenzrisiken.

Auch die institutionelle Politik trägt Anteil an diese Lage. Zu häufig hat sie auf Krisen und Konflikte mit Sachzwang geantwortet und ihre Entscheidungen, die teils schmerzhafte Einschnitte für Teile der Gesellschaft mit sich brachten, als alternativlos und den Gegebenheiten (den Fakten!) angemessen präsentiert. Politik wird dann vornehmlich als Zwang empfunden, nicht aber als Gegenstand der Auseinandersetzung oder gar der Mitwirkung daran. Sie wird zur Verwaltung im Angesicht erdrückender Fakten, aber nicht mehr zur Angelegenheit mündiger Bürgerinnen und Bürger, die darüber entscheiden, wer sie sind und wie sie leben wollen. [Der Brexit war in diesem Sinne auch ein Befreiungsschlag gegen eine politische Kultur, in der die Auseinandersetzung erlahmt war und Fakten Argumente quasi zu ersetzen schienen.]

Wenig hilfreich ist in diesem Kontext auch die Zunahme von neuartigen Formen der Bürgerbeteiligung, wie „Runde Tische“ oder Mediationen, obwohl diese als „demokratische Innovation“ gerade den Zweck verfolgen, Bürgerinnen und Bürger wieder aktiv an der Politikgestaltung teilhaben zu lassen. Zu oft werden solche Verfahren eingesetzt, um Konflikte zu lösen, die nicht im Konsens auflösbar sind, in denen es also gerade nicht primär um die Kenntnis der richtigen Fakten geht, sondern um Werte und wie diese priorisiert werden. Ein Beispiel dafür sind die Konflikte um Flughafenerweiterungen, die oftmals über Bürgerbeteiligungsverfahren aufgelöst werden sollen. Diese lassen sich nicht durch Fakten auflösen, weil beide Seiten, die Gegner und die Befürworter Fakten auf ihrer Seite haben. Die einen betonen die wirtschaftlichen Effekte (Arbeitsplätze, Infrastruktur), die anderen die Effekte für die Lebensqualität (Lärmbelästigung, Konzentrationsvermögen, Umweltschäden, aber auch Wertverlust von Immobilien). Solche Konflikte müssen dadurch bearbeitet werden, dass entschieden wird, welche Werte höher zu schätzen sind. Runde Tische und Mediationen können solche Entscheidungen vorbereiten und begleiten, weil sie Fakten zu den jeweiligen Auswirkungen konkreter Entscheidungen produzieren. Sie machen Entscheidungen somit rationaler, sie können sie aber nicht ersetzen.

Schließlich wird ein weiterer Problemkreis in der Zunahme postmodernen Denkens gesehen, das viele Wissenschaftsfelder nachhaltig beeinflusst hat und mit dazu geführt hat, dass die Objektivität von Fakten und absolute Wahrheitsansprüche immer mehr zurückgewiesen werden zugunsten relativer bzw. perspektivischer Wahrheiten.  Nun darf man wohl getrost davon ausgehen, dass postmoderne Wahrheitstheorien kaum die politischen Öffentlichkeiten so maßgeblich beeinflusst haben, dass diese sich der Postfaktizität zugewandt haben. Allerdings sind sie wohl zumindest mit dafür verantwortlich, dass die Wissenschaft so lange so erstaunlich still geblieben ist trotz  der teils absurden Zurückweisung von Wahrheitsansprüchen in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen.

Was kann und was muss Wissenschaft tun, um diesem Problem entgegenzuwirken?

Den Schild der Neutralität hoch haltend haben sich gerade die Sozialwissenschaften lange aus politischen Auseinandersetzungen herausgehalten. Man wollte nicht Partei in politischen Konflikten sein, sondern bestenfalls als Quelle für Fakten dienen, die die politische Auseinandersetzung eventuell befrieden könnten.  Und schon dies gilt vielen als schwierig, weil Gesellschaft und Politik mit dem wissenschaftlichen Wissen ja eigentlich nichts anfangen könnten und seine Transformation in ein gesellschaftlich handhabbares Wissen notwendig zu dessen Banalisierung führe. Dabei ist dies beileibe keine historische Konstante. Denkt man an die Anfänge der Politikwissenschaft, für die ich hier stehe, nach dem zweiten Weltkrieg als Demokratiewissenschaft, so war sie stets auch mit dem Anspruch verbunden, der Förderung der Demokratie durch Aufklärung im besten Sinne zu dienen.

Die zusehende Abwendung von diesem Anspruch ist teils Ergebnis einer Professionalisierung der Sozialwissenschaften, um im Kampf um Anerkennung und vor allem um Fördergelder nicht ins Hintertreffen zu geraten. Mittlerweile tun die Umstrukturierungen des Wissenschaftsbetriebs, die Engführung wissenschaftlichen Arbeitens bzw. die Evaluierung derselbigen anhand der Drittmittelquote und Publikationen in sog. A-Journals ihr übriges und verhindern durchaus effektiv, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereitwillig in politische Debatten einschalten, denn dies birgt kaum mehr Belohnungen im gegenwärtigen Wissenschaftssystem. „Deutschland, keine Denker“ provozierte  die Schriftstellerin Thea Dorn schon 2008 und beklagte, dass sich in der jüngeren Generation, gemeint war die unter 60 und dabei auch vornehmlich Philosophen und Dichter, niemand mehr fand, der bereit war, als öffentlicher Intellektueller auf gesellschaftspolitische Debatten einzuwirken.  Carlo Masala von der Bundeswehruniversität in München ging jüngst gar so weit, der Politikwissenschaft nicht nur den Mut und die Bereitschaft zur politischen Intervention abzusprechen, sondern schon die Notwendigkeit, da sie so langweilig sei, dass sie sich selbst überflüssig gemacht hätte.

Soweit muss man sicher nicht gehen und kann doch erkennen, dass es einen offensichtlichen Widerwillen gegen die politische Intervention innerhalb der Sozialwissenschaften gibt, der zumindest mit Blick auf gegenwärtige, „postfaktische“ Debatten auch eine intellektuelle Arroganz spiegelt, sich nicht auseinander setzen zu wollen mit jenen, die den Unterschied zwischen Meinung und Fakt nicht kennen oder nicht kennen wollen und sich schon gar nicht mit jenen ins Benehmen setzen zu wollen, die illiberale oder schlicht rassistische Positionen vertreten. „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ hat Bernhard Pörksen das pointiert zusammengefasst.

Gerade angesichts der gegenwärtigen Herausforderung an unsere demokratischen Gemeinwesen durch den Populismus ist Wissenschaft aber mehr denn je gefragt, sich einzumischen, denn dieser zersetzt durch die Banalisierung des Unterschieds von Fakt und Meinung ebenso wie durch die Missachtung und Verunglimpfung aller Andersdenkenden (Stichwort: Volksverräter) die Grundlagen produktiver politischer Auseinandersetzung. Wissenschaft darf sich nicht zu schade sein, für und um Fakten zu streiten. [Und dieser Streit ist letztlich einer um die Kriterien der Genese von Aussagen, nicht deren Substanz]. Verweigert sich Wissenschaft dieser Auseinandersetzung, trägt sie letztlich Mitschuld am Verlust der Bedeutung von Wahrheitsansprüchen.

Gerade die Sozialwissenschaften müssen aber nicht allein auf Fakten pochen in der öffentlichen Auseinandersetzung, wir sind ja nicht primär Sachverwalter von Tatsachen, sondern sie muss im produktiven Sinne Einfluss auf politische Auseinandersetzungen nehmen. Zweifel am Althergebrachten säen, Mut zur Polarisierung, an normative Verpflichtungen und Errungenschaften erinnern, wo diese in Vergessenheit zu geraten drohen, Alternativen aufzeigen in festgefahrenen Debatten oder auch schlicht Positionen klären, wo diese im politischen Hick-Hack verschüttet worden sind. Die Aufgabe der Sozialwissenschaften ist es, Orientierungswissen bereitzustellen und damit öffentliche Auseinandersetzungen zu fördern und vor allem einzufordern, wo sie zu erlahmen drohen, denn diese sind die Quelle der Erneuerung demokratischer Gemeinwesen.

Streit als Quelle der Erneuerung und des Zerfalls von Ordnung

Bürgerinnen und Bürger erfahren in ihrem alltäglichen Leben Situationen und Missstände, die sie skandalisieren und für die sie Antworten suchen. Die plausibelsten sind für sie zumeist diejenigen, die den Vorannahmen in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld entsprechen und das sind ganz häufig Vorurteile. Besonders gilt dies in einer Zeit multipler Krisenerfahrungen und von Verlustängsten, in denen das soziale Umfeld, die eigene peer-group als Identifikationsraum an Bedeutung gewinnt. In der Forschung sprechen wir auch gern von Resonanz oder in-group Effekten.  Um diese zu erschüttern, hilft nur eins: wir müssen streiten. Streiten über das, was ist und was sein soll. Erst in der Auseinandersetzung über Normen und Institutionen machen wir sie uns zu Eigen. Indem wir ihre Ansprüche an uns zurückweisen, ihre Effekte auf uns und andere bezweifeln, formen wir sie und werden durch sie in unseren Ansichten und Haltungen geformt. Wir schreiben uns gleichsam in sie hinein. Zugleich erfahren und und entdecken sich Bürgerinnen und Bürger als Teil eines Demos in diesem Streit über Normen und Institutionen. Das ist der tiefere Sinn politischen Streits: Er setzt erst jene normativen Bindungskräfte frei, auf denen unser Gemeinwesen aufruhen kann.

Streit kann diese Funktion aber nur erbringen, wenn er bestimmten Ansprüchen genügt: Die basale und zugleich schwierigste: Die Streitparteien müssen einander anerkennen als Personen mit gleichen Rechten und Pflichten. Oftmals ist dies von Beginn an nicht gegeben, sondern muss erst nachträglich bzw. im Vollzug hergestellt werden. Das funktioniert häufig, weil im Streit gute Argumente oftmals auf einer Gleichstellung zwischen den Opponenten basieren.
Allerdings ist diese Anerkennung keineswegs automatisch gegeben. Ebenso häufig eskaliert der Streit und verlässt die Sachebene. Wenn nur noch die Person des Anderen im Fokus steht, die völlig negiert wird, dann ist eine Konstellation gegeben, die Carl Schmitts Freund-Feind-Schema gleicht. Mit dem Feind gibt es keine Einigung mehr und kein Verhandeln über die Bedingungen des Zusammenlebens. Es gibt kein Zusammenleben mit dem Feind. In dieser – extremen Form – zersetzt Streit demokratische Gemeinwesen.

Aus Sorge vor dieser Eskalation, die jedem Streit inhärent ist, haben liberal-demokratische Gemeinwesen eine Vielzahl von institutionellen Hürden eingezogen, die Streit einhegen und zähmen sollen: So etwa in der regulierten Konkurrenz  politischer Parteien um Wähleranteile,  der institutionalisierten Opposition mit kodifizierten Rechten in der Mitgestaltung des politischen Willens und der rechtlichen Überführung von Streit in Beschwerdeverfahren und Klagemöglichkeiten — und nicht zuletzt natürlich auch in der Entwaffnung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger gegenüber den hoheitlichen Organen.

Diese Zähmung und Einhegung des Streits ist aber tendenziell aus dem Ruder gelaufen. Je mehr wir nur die Gefahren des Streits sehen und uns immer weiter Richtung konsensualer oder verwalterischer Entscheidungen bewegen, desto mehr gerät die produktive, die normative Kraft des Streits aus dem Blick. Ohne den offenen Streit verkümmern unsere Gemeinwesen aber auf Dauer, weil ihre normative Erneuerung erlahmt. Es ist die demokratische Öffentlichkeit, wir als Bürgerinnen und Bürger, die sich immer wieder darüber auseinandersetzen müssen, ob wir in einem demokratische Gemeinwesen leben wollen und was das konkret bedeutet (Lefort 1990).
In der unbändigen Freiheit, die nur im Streit entsteht, in dem alle Bindungen zur Disposition gestellt werden, setzen wir jene Bindungskräfte frei, auf denen unser Gemeinwesen blüht. Diese radikale Freiheit, die im Streit im und um unser Gemeinwesen aufscheint, es auch ganz anders machen zu können, alle Bindungen zu zerreißen, ist der schwankende Boden, auf den sich demokratische Ordnungen immer wieder neu begründen.

Das ist, das sollte klar sein, kein Grund zum Aufatmen angesichts des derzeitigen Populismus, denn hier wird das Grundproblem populistischer Bewegungen offenbar: In der Banalisierung der Unterschieds von Fakten und Meinung, Wahrheit und Lüge, in der letztere primär die Funktion hat, Zugehörigkeit zu signalisieren und Ablehnung Andersdenkender zu markieren, ist die Anerkennung des Anderen eigentlich schon ausgeschlossen. Er ist Freund oder Feind, dazwischen ist nichts.

Gerade deshalb sind wir alle und auch und insbesondere die Wissenschaft aufgerufen, den Streit um das demokratische Gemeinwesen ganz im Sinne eines Verständnisses als Demokratiewissenschaft, das Politikwissenschaft und natürlich auch die Friedensforschung durchzieht, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu suchen und sich in diesem – besten — Sinne als demokratische citoyen zu verstehen. Diese Auseinandersetzung ist ein ungemütliches und letztlich riskantes Unterfangen, denn ihr Ausgang muss notwendigerweise immer offen bleiben, um normative Bindungskräfte mobilisieren zu können. Es ist aber vielleicht eines der wenigen Unterfangen, die – normativ betrachtet – tatsächlich alternativlos sind.


In diesem Sinne, und damit komme ich zum Abschluss, möchte ich auch diesen Preis verstehen als Auftrag an mich und die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, sich immer wieder in diese Auseinandersetzungen einzumischen und für die Demokratie und den gesellschaftlichen Frieden zu streiten!

Vielen Dank!

[1] Vgl. hierzu etwa Müller, Jan Werner 2016: Was ist Populismus? Frankfurt am Main.


[2] Huffington Post, 7. September 2016; http://www.huffingtonpost.de/2016/09/07/rbb-tv-duelllberlin_n_11884608.html.


[3] Hochschild, Jennifer/Einstein, Katherine Levine 2015: Do Facts Matter? Information and Misinformation in American Politics, in: Political Science Quarterly 30: 4, 585-524, S. 608-609.


[4] Pörksen, Bernhard 2016: Die postfaktische Universität: Wir lebten in der „post-truth“-Ära, behaupten Wissenschaftler. Damit feiern sie ihre eigene Ohnmacht und geben ihre Rationalität auf. Gedanken zum Wort des Jahres, in: Die ZEIT 52/2016; S. 70.


[5] Wobei man immer darauf hinweisen muss, dass sie das empirisch nie allein getan hat, aber der Anspruch war zumindest vorhanden.


[6] Gleichwohl muss man deutlich sagen, dass populistische Bewegungen keine reinen Sammelbecken der „Abgehängten“ sind. Wie etwa Studien zu PEGIDA gezeigt haben, ist ihre Mitgliedschaft vereinfacht ausgedrückt männlich, alt und bürgerlich. Obgleich sich im Verlauf der Bewegung eine soziostrukturelle Erweiterung erkennen lässt. Vgl. Institut für Demokratieforschung Georg-August-Universität Göttingen 2016: Büchse der Pandora? PEGIDA im Jahr 2016 und die Profanisierung rechtspopulistischer Positionen. Abschlussbericht; www.demokratie-goettingen.de/content/uploads/2016/10/Pegida2016 _Göttinger_Demokratieforschung.pdf


[7] Damit ist gemeint, dass Wahrheitsansprüche zunehmend in einem konkreten Kontext oder eine Diskursgemeinschaft aufgestellt werden. Besonders deutlich wird dies in postkolonial beeinflussten Diskursen, die auf die politische Produktion von Wissen abstellen.


[8] Wobei schon diese Bescheidung eine eigentümliche Naivität aufscheinen lässt, als gäbe es  fertige Tatsachen, die man nur noch auffinden müsste. Dabei sind – und dafür braucht es keinen Postmodernismus – Fakten oder Tatsachen selbst Ergebnis eines Interpretationsprozesses von Daten sind, der auf theoretischen Vorannahmen beruht. Auch das ist ein Grund für die Vielstimmigkeit von Wissenschaft, denn Daten sind natürlich unterschiedlich interpretierbar. Der Unterschied zwischen Tatsache und schlichter Meinung liegt daher nicht in der Substanz der Aussagen, sondern in den Kriterien, denen sie in ihrer Genese genügen müssen.


[9] Dorn, Thea 2008: Deutschland, keine Denker. Warum der Gesellschaft die öffentlichen Intellektuellen abhanden gekommen sind – obwohl wir sie gerade in den gegenwärtigen Krisenzeiten dringend brauchten, in: Spiegel 42: 168-170.


[10] Masala, Carlo 2017: Auf dem Rückzug, in: Die ZEIT 07/2017; http://www.zeit.de/2017/07/politikwissenschaft-wissenschaftler-forschung-gesellschaftliche-relevanz.


[11] Pörksen 2016, a.a.O


[12] Vgl. zur Rolle des öffentlichen Intellektuellen schon Habermas in seiner Preisrede anlässlich der Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises für das politische Buch 2005; Renner-Institut Wien.


[13] Generationen von Normadvokaten machen sich diese Dynamiken zunutze, um neue Normen zu etablieren, indem sie sie als logische Erweiterungen bereits bestehender Normen darstellen. Vgl. statt vieler dazu Keck, Margaret/Sikkink, Kathryin 1998: Activists Beyond Borders, Ithaca, NY: Cornell University Press. Dass dies demokratietheoretisch problematisch ist, hat eindrücklich Cass Sunstein mit dem provokanten Titel: Why Societies Need Dissent, herausgearbeitet. Vgl. Sunstein, Cass 2003: Why Societies Need Dissent, Cambridge, MA: Harvard University Press.


[14] Dabei geht es mir um mehr als die rein vergesellschaftende Funktion von Streit, die Georg Simmel herausgearbeitet hat, sondern in einem normativen Sinne auch um die Aushandlung des Gemeinwesens als solchem, die im politischen Streit mal mehr mal weniger explizit mitschwingt; vgl. Simmel, Georg 1908: Der Streit, in: ders.: Soziologie, Berlin: Duncker & Humblot, 186-255.

 

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