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Öffentliche Güter in der Demokratie und Demokratie als öffentliches Gut

Artikel vom 02.09.2019

Nach jahrelangem Abgesang auf den politischen Wert öffentlicher Güter werden wir uns der Bedeutung öffentlicher Finanzierung als demokratischer Daseinsvorsorge wieder bewusster. Von Sebastian Huhnholz

Die Aktualtität der Orestie des Aischylos

Das Thema öffentlicher Güter und ihrer Finanzierung ist aktuell, sehr aktuell sogar, aber was besagt das schon? Welches Thema will heute nicht aktuell sein, und überhaupt: Wann waren die öffentlichen Finanzen nicht aktuell?

Kürzlich eröffnete der Erste Bürgermeister Hamburgs ein dortiges Theaterfestival mit einem finanzhistorischen Kurzvortrag. Das Burgtheater gastierte, aufgeführt wurde die Orestie des Aischylos. Die altgriechische Mythendramatisierung Orestie ist – folgen wir dem Althistoriker Christian Meier – jene große Tragödie, in deren Handlung die antiken Griechen den Ursprung ihrer Demokratie reflektieren und legitimieren. Sie emanzipieren sich von ihren alten, rachsüchtigen Göttern und entscheiden per Abstimmung, sich fortan selbst die Gesetze geben und Verantwortung für deren Einhaltung übernehmen zu wollen. Das erzählt die Orestie. Aischylos schreibt sie für die Dionysien, für den großen, öffentlich finanzierten und ausgetragenen Theaterwettbewerb Athens. Die Bürger küren ihn und sein Stück zum Sieger.

Wo ist der Zusammenhang? Der Erste Bürgermeister Hamburgs zeichnet anlässlich der Hamburger Festspielpremiere im Detail nach, wie komplex die Dionysien finanziert wurden, wie fiskalisch geschickt die Griechen die öffentliche Feier der Kunst, das Zelebrieren ihrer Demokratie und die Versammlung aller Vollbürger verschmolzen. Politische Identität, demokratische Repräsentation und fiskalische Souveränität fielen hier zusammen und wurden öffentlich inszeniert.

Es versteht sich von selbst, dass sich im Hamburger Publikum eine Krämerseele fand, die die Analogie nicht begreifen wollte und den Bürgermeister ausbuhte. – Tenor: Das zahl hier alles ich. – Man kann sich unschwer vorstellen, was die alten Griechen mit so einem gemacht hätten. Wo einer meint, für alle zu zahlen, zahlen zu müssen oder gar zu wollen, sind Monarchie oder, schlimmer, die Tyrannis nicht weit. Nein, für gemeinsame Angelegenheiten soll man vermutlich gemeinsam zahlen wollen; nur dann wohl können fiskalische, soziale und politische Integration zusammenfallen. Damit ist freilich noch nichts über die Lastenverteilung besagt. Offenkundig aber wird: das Fiskalische ist seit Anbeginn unserer politischen Geschichte irgendwie „aktuell“. Was könnten Gründe dafür sein?

Fiskalischer Variantenreichtum

Folgen wir zunächst nur der Tagungsbegründung. In deren Programm ist zu lesen: „Die berühmte Losung ‚No taxation without represen­tation!‘ muss angesichts der heute zerfaserten steu­erstaatlichen Souveränität und der globalen Macht­zugewinne neuer Finanzakteure hinterfragt und für die demokratischen Gesellschaften auf der Höhe der Zeit reformuliert werden. Viele Muster der Regelfi­nanzierung des demokratischen Wohlfahrtsstaates sind längst einem Wandel ausgesetzt. Die Idee des Steuer- und Sozialversicherungsstaates ist durch Fi­nanzmarktimperative, Staatsverschuldungsspiralen“ und anderes mehr herausgefordert worden.“

Eine allein politikwissenschaftliche, spezieller noch: eine politikgeschichtlich informierte Perspektive wäre vermutlich zurückhaltender. Sie hörte in zitierter Passage nicht das aktuelle Krisenszenario – „Wandel“, „Herausforderung“ usw. –, sondern vor allem die Eingangsunterstellung: dass es „Muster der Regelfi­nanzierung des demokratischen Wohlfahrtsstaates“ geben soll. Sicher, die gibt es bisweilen. Aber das sollte nicht übersehen lassen, dass sowohl die Idee wie auch die diversen Praktiken dieser „Regelfinanzierung“ historisch besehen außerordentlich jung und fiskalisch auch nicht sonderlich stabil sind.

Der sogenannte „Steuerstaat“ ist als Begriff erst gut einhundert Jahre alt, die dazugehörige Vorstellung einer vorrangig aus allgemeinen Steuern gespeisten Deckung kostspieliger öffentlicher Angelegenheiten und politisch beschlossener Ausgaben ist nur unwesentlich älter. Die steuerstaatliche Praxis, kollektiv erforderliche Finanzressourcen regelgerecht und standardmäßig aus marktliberal erzeugten privaten Wirtschaftsgewinnen abzuschöpfen, wurde seither durch Nationalsozialismus und Realsozialismus und durch viele andere nicht-steuerstaatliche Krisen immer wieder unterbrochen, pervertiert oder zerstört. Und viele Alternativen zur rein steuerlichen Bewältigung öffentlicher Aufgaben bestehen fort – oft sinnvollerweise, selten bewusst. Zur Zeit des historischen Aufkommens von Steuerstaatlichkeit unterschied der Soziologe Max Weber noch selbstverständlich Dutzende Varianten der „Finanzierung politischer Verbände“. Er destillierte seine Typologie aus einer Vielzahl von historischen Studien, anhand derer sich die je spezifische staatshaushalterische Erledigungs- bzw. Bewirtschaftungs- und Belastungsweise „politisch“ verstehen ließ, nämlich als Indikator eines dazugehörigen und akzeptierten Gemeinschaftszwecks.

Weber unterschied „stete“ und „unstete“, freiwillige oder gar geschenkte, zwangsbewehrte bis erbettelte oder erpresste, indirekt abgezweigte oder selbst erwirtschaftete, behördlich eingetriebene oder steuergewerblich lizensierte, diskrete oder ständische, leiturgische (das heißt durch freiwillige öffentliche Dienste erbrachte) und mäzenatische, privilegierende oder diskriminierende Einnahmetypen; ferner verpflichtende Arbeits- und Wehrdienste sowie die geschichtlich bedeutsamen Naturalabgaben. Die für heutige Staaten zusätzlich reguläre Form der Kreditfinanzierung mehr oder minder kontrollierter Schuldenstaatlichkeit wäre noch zu ergänzen, ebenso Staatsanleihen und öffentliche Finanzmarktfonds.

Wir sehen: Die Steuer bildet unter alldem nur eine einzige Form der kollektiven Selbst- oder Fremdbelastung. Wenn wir die Finanzierung unserer öffentlichen Aufgaben durch Steuern und bestimmte Steuerpolitiken heute als gefährdet begreifen, ist das insofern womöglich auch Ausdruck einer grundlegenderen Transformation der Demokratie. Entsprechend vorsichtiger und präziser sollten unsere Krisendiagnosen ausfallen: Was gemeinhin als althergebracht oder selbstverständlich gilt – wie die Steuerfinanzierung öffentlicher Aufgaben –, ist historisch außerordentlich jung, komplex und von vielen Brüchen gekennzeichnet. Zudem sollten wir beobachten, dass die vermeintlichen Muster der Regelfinanzierung moderner Demokratien weiterhin so vielfältig sind, dass nicht nur der Steuerstaat selbst wie eine geschichtliche und kulturspezifische Ausnahmeerscheinung wirkt, sondern überhaupt fraglich ist, was genau wir meinen, wenn wir von öffentlichen Finanzen und steuerlicher Finanzierung öffentlicher Güter sprechen.

Was sind öffentliche Güter?

Die vielleicht größte mentale Herausforderung unseres Themas ist, es nicht sofort auf die moralischen Kriterien der Abschöpfung und gerechten Verteilung zu verengen. Denn seit Aristoteles wurde die Verteilungsfrage im Spannungsfeld von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit gestellt – also: Tausch- und Leistungsgerechtigkeit oder soziale Gerechtigkeit und Gleichheit. Ähnlich ist der moderne politische Philosoph Michael Walzer herangegangen. Walzer identifiziert drei Distributionsprinzipien bzw. Verteilungs- oder Zuteilungskriterien: Leistung, Bedarf, Gleichheit.

Das theoretisch Spannende am Problem öffentlicher Güter ist, dass sie per Definition auf Gleichheit gepolt sind. In modelltheoretischer Abgrenzung von privaten Gütern werden als öffentliche solche Güter bestimmt, auf die tendenziell alle Bürger*innen Zugriff haben. Niemand kann oder soll an ihrem Genuss gehindert werden. Es liegt vielleicht in der Logik unseres kulturell von Aristoteles bis Walzer tradierten Gerechtigkeitsdenkens, dass sich insbesondere diejenigen vom allgemeinen und gleichen Zugriffsrecht auf öffentliche Güter provoziert fühlen, die selber mehr dafür leisten als andere oder die selber weniger Bedürfnis nach einem bestimmten öffentlichen Gut verspüren als andere – beispielsweise weil sie sich auch eine private Finanzierung leisten könnten oder meinen, des konkreten Gutes nicht zu bedürfen, etwa einer öffentlichen Bankenaufsicht. Warum bloß sollte so jemand zur Mitfinanzierung herangezogen werden dürfen? Warum darf sie sich nicht entziehen? Und zahlt diese Person denn nicht schon genug? Kriegt der Staat denn nie den Hals voll? Wo soll das denn alles… – und so weiter und so fort. Kurzum: Leistungs- und bedarfsgerechte Kriterien stehen unweigerlich in einem Konflikt mit jener Gleichheit, die öffentliche Güter und Demokratie versprechen.

Doch wie gehabt: Das theoretisch Spannende am Problem öffentlicher Güter ist, dass sie per Definition auf Gleichheit gepolt sind. Bei öffentlichen Gütern ist, kann oder soll nicht objektive Bonität und nicht subjektiver Bedarf der Maßstab des Wirtschaftens sein. Vielmehr muss ein bestimmtes Produktionsergebnis realisiert werden: ständiger Frieden beispielsweise. Ein angeordnetes Angebot muss verlässlich zur Verfügung stehen: Infrastrukturen der Volksgesundheit etwa. Zugespitzt gesagt: Koste es, was es wolle. Solche Gemeingüter nur nach Kassenlage, individueller Zustimmungsbereitschaft oder laienunternehmerischem Gewinnkalkül bereitzuhalten, würde sie zerstören. Öffentliche Güter sind daher öffentlich nicht nur insoweit sie allen offen stehen, sondern weil sie andernfalls verloren wären. Ihre Privatisierung zerstört sie, und derlei Zerstörung riskierte auch die Sicherheit privater Güter. Öffentliche Güter sind sozusagen unteilbar, existieren durch Teilhabe, nicht durch Teilbarkeit. Sie werden mehr, wenn wir teilen.

No taxation without representation?

Seltsamerweise lässt sich das nicht umstandslos auf ihre Pflege und Finanzierung übertragen. Das Kriterium des Öffentlichen, das heißt des alle Angehenden, ist weder mit gleicher Betroffenheit oder schon mit Demokratie zu verwechseln. Öffentliche Güter mögen durch jedermann offen stehenden Gebrauch bestimmt werden oder gar kollektive Nützlichkeit. Daraus aber folgt noch keine allgemeinverbindliche Mitwirkungspflicht finanzieller Art, genauso wenig wie allgemeiner Abgabenzwang schon Demokratie verbürgt. Ausreichende Luftreinheit ist selbst in Diktaturen vonnöten, Frieden herrscht auch in Monarchien. Sogar Gesundheitsfürsorge soll in den schlechtesten Regimes vorkommen. Representation without taxation ist möglich, mitbestimmungsfrei eingetriebene Abgaben bekanntlich auch. Die berühmte Revolutionsformel No taxation without representation! kann ihre Zähne nur zeigen, wo andere Ressourcen nicht verfügbar sind, Bodenschätze etwa, die Attraktivität kapitalparkender Steueroasen, einträgliche öffentliche Produktionsmonopole, Staatsbetriebe oder Lizenzkartelle, spendable Mäzene usf.

Daraus ist verschiedentlich der Schluss gezogen worden, dass die Demokratie keinen Staatsschatz besitzen, keine außer als Notfallreserven dienlichen Reichtümer anhäufen dürfe und bevorzugt anspruchsarm bleiben solle: auf dass der Staat nicht zur Beute wird und Politik sich einer permanenten Rückversicherung durch die Leistungsbereitschaft von Bürger*innen würdig erweisen muss. Jedes Übermaß an öffentlichen Leistungen und Volksvermögen wecke nur riskante Begehrlichkeiten. Staatsdemokratische Institutionen seien daher besser so zu formen, dass sich in ihnen Volks- und Fiskalsouveränität in Echtzeit (re-)produzieren und gegenseitig stützen müssen: durch Verfassungstreue und allgemeine Steuermoral. Fiskalische Fremdsteuerung hingegen dementiert Volkssouveränität und nährt Skrupel gegenüber etwaig fortgesetzter Regimeloyalität. Gewissensfragen stellen sich.

Und die Sache wird noch paradoxer. Wissenschaftliche Modelltheorien verschiedenster Disziplinen bestimmen die Freiheitstauglichkeit der Besteuerung ausgerechnet durch deren zwingenden Charakter. Erst wenn alle verpflichtet sind, ihren Teil gleichermaßen und bedingungslos zum Gemeinwohl beizutragen, lasse sich Demokratie in ein öffentliches Gut verwandeln, in eine geteilte Freiheit, auf die alle gleichermaßen und bedingungslos Zugriff haben. Insofern steige mit der fiskalischen Beanspruchung breiter Bevölkerungsschichten die Wahrscheinlichkeit demokratischer Responsivität und gleichheitsgerechter Repräsentation. Just diese Breitenwirksamkeit freilich intensiviert nur die umso kostspieligere Staatstätigkeit. Anspruchsvielfalt, Abstimmungsbedürfnisse und Koordinierungsaufwand steigen; verwalterische Rationalisierung- und ökonomische Effizienzkalküle nehmen zu, die öffentliche Hand soll steuern und sich gleichwohl auf die Finger hauen. Der Eindruck, es herrschte keine Haushaltsdisziplin und der Fiskus würde lax gehandhabt, senkt die Steuermoral, heißt es dann; der Einzelne könne es besser. Die paradoxe Anlage der Gesamtargumentation der freiheitlich argumentierten allgemeinen Steuerpflicht bleibt somit erhalten. Denn vorausgesetzt wird, was demokratische Finanzierung doch gerade unterbinden soll: den Vorrang einer wettbewerbsmarkt- und preisanalogen Interpretation demokratischer Freiheit. Nur wer für sie zahlen kann, erwirbt sie. Demokratie müsse man sich eben leisten können.

Dieses Problem ist bis heute nicht wirklich gelöst, weder theoretisch noch praktisch. Verschiedene Demokratietheoretiker, Aristoteles und Rousseau etwa, haben aus entsprechenden Beobachtungen den Schluss gezogen, dass die Demokratie bescheiden bleiben müsse. Die auf wirtschaftliches Engagement konzentrierte Demokratie könne keine politisch ausreichende Verantwortung für die Bestandsvoraussetzungen politischer Freiheit pflegen. Demokratiekritiker meinten hingegen, Platon und James Buchanan beispielsweise, gerade der Umstand, dass die Demokratie sich beliebige öffentliche Güter „wünschen“ können, leiste kollektiver Maßlosigkeit Vorschub. Hier zur Askese zu mahnen, sei vergebliche Liebesmüh. In fiskalischen Dürrezeiten ergreife die verwöhnte Demokratie doch entweder die vermeintlich rettende Hand vermögender Oligarchen – oder wolle dumpf die Reichen plündern, die wiederum in einer Art politischem Notwehrexzess ihrerseits die habgierig gewordene Demokratie präventiv abschaften.

So sehen wir einerseits das Mosaik einer ökonomisch abgelenkten Bevölkerung, die zu unmündig ist, für ihr Gemeinwesen einzustehen, oder zu gierig, um politisch klug zu haushalten. Von der anderen Seite droht ein Schreckbild mit der Trägheit einer Alimentierungsdemokratie, deren Bevölkerung versorgungssüchtig und bequem wird. Ganz gleich, welchem Ausgang dieses Dilemmas wir persönlich weniger abgeneigt wären: aktuell ist es offensichtlich – immer.

Kommunalität als Ausweg?

Ein ungleich erfolgreicheres Muster öffentlicher Güterfinanzierung, das sich politikwissenschaftlich und lebensweltlich immer wieder bestätigen lässt, verweist auf soziale Nähe- und Distanzverhältnisse. Von Fiskaltheoretikern wie Knut Wicksell über Fiskalpsychologen wie Gebhard Kirchgässner und den Politologen Dirk Jörke bis zu politischen Ökonominnen wie Elinor Ostrom: Immer wieder werden wir mit der Annahme konfrontiert, dass die Bereitschaft und die Verlässlichkeit, die Kosten der gemeinsamen Dinge auch ohne formalen Zwang zu teilen, mit der gegenseitigen Vertrautheit wächst. Die Kommunalfinanzen gelten darum nicht zufällig als ein politisches Familienmodell. Und umgekehrt: Je räumlich weiter, moralisch loser und politisch abstrakter die Sozialbeziehungen der Menschen sind, umso eher müssen allgemeine Zwangsinstrumente wie die Steuer greifen.

Und tatsächlich zeigt die empirisch vergleichende Forschung zeigt, dass ‚starke‘ Staaten, also politische Formalverbände mit hoher Effektivität, kultureller Bindungs- und sozialer Integrationskraft, die höchste Steuerehrlichkeit aufweisen: weil sie in nachvollziehbarer und fairer Weise gemeinsam erwünschte öffentliche Leistungen zur Verfügung stellen. Sie besitzen insoweit hohe fiskalische Legitimität, wie ihre Einnahmestruktur ökonomisch adäquat und ihre Ausgabenentscheidungen demokratisch responsiv erscheinen. Zusätzlich bleiben die Umverteilungsziele und -wirkungen nahbar; man kann darauf vertrauen, dass das Geld nicht willkürlich oder automatisch kollektivfernen Fremden geradezu anonym zufließt. – All das steht in krassem Widerspruch zu Hoffnungen wie beispielsweise derjenigen des Politikwissenschaftlers Claus Offe, das Ansehen etwa der Europäischen Union ließe sich durch einen Ausbau europäischer Sozialstaatlichkeit erhöhen – nach dem Prinzip: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. … So leid es manchem von uns also auch tun wird: Wenig gibt Anlass zur Hoffnung, dass sich allgemeine Solidarität verordnen und aufrechterhalten lässt, ohne die Identitätsfrage zu beantworten (Was verbindet uns?) und ohne die Demokratiefrage zu stellen (Wie entziehen wir uns etwaig überschießenden Identitätszumutungen?).

„Alltagskommunismus“

Führen wir uns darum vor Augen, dass die Thematisierung öffentlicher bzw. kollektiver Güter dieser Jahre und auch ganz konkret derzeit sozusagen Hochkonjunktur hat. Die Arbeiten Mariana Mazzucatos machen Furore – Plädoyers, die Wertfrage der Wertschöpfung und die Frage der öffentlichen Teilhabe an den privatisierten Profiten einer nachweislich durchweg staatlich garantierten Marktwirtschaft wieder zu stellen. Analog bezeichnet Wolfgang Streeck dieser Tage öffentliche Güter als jenen „Alltagskommunismus“, der unseren realen Kapitalismus garantiert. Der Habermas-Schüler Lutz Wingert arbeitet an einem ganzen Buch über öffentliche Güter. Und der Ökonom Birger Priddat bezeichnet das Theorem öffentlicher Güter längst als eines „politischer Güter“. Winfried Kluth ruft dazu auf, Genossenschaften – jene Unternehmensrechtsform des späten 19. Jahrhunderts, die im 20. Jahrhundert vielerorts zunächst politisch zerstört und später rechtlich zerfasert wurde – als Bürgerbeteiligungsformen zu feiern und als Auswege aus einer „Krise der Demokratie“ zu begreifen. Damit wird im Übrigen daran erinnert, dass der Genossenschaftsbegriff einst als wirtschaftsdemokratischer Gegenbegriff der Herrschaft fungierte: Der Genosse war kein Untertan eines Herrn. Er wollte nicht beherrscht werden, sondern selbst ökonomisch ‚beherrscht‘, das bedeutet maßvoll und selbstbestimmt in vor- und fürsorglicher Gemeinschaft agieren.

Überdies könnten wir dieser Jahre diverse Manifeste aufrufen, das „Konvivialistische Manifest“ etwa, und wir könnten an die zunehmenden Bemühungen erinnern, den öffentlichen Sektor wieder zu popularisieren – ich denke an Dirk van Laaks Arbeiten über Infrastrukturen oder an das von Berthold Vogel und Kolleg*innen verfasste Buch über gesellschaftlichen Zusammenhalt, ein Lob von „Bürokratie und Demokratie.“ Ja, wir scheinen beinahe auf eine Art Ernst-Forsthoff-Revival zuzusteuern: Denn noch immer – oder: wieder zunehmend – bedürfen wir der von Forsthoff so benannten „Daseinsvorsorge“. Das heißt: Für die Lösung nahezu jedes individuellen Problems (und selbstredend auch für die Sicherung des nicht-staatlichen und privaten Raumes) bedarf es öffentlicher Infrastrukturen. Und selbst wenn wir uns einmal für kurze Zeit einreden wollen, dem wäre nicht so, werden wir bekanntlich schnell eines Besseren belehrt – und sei es, weil wir, von astronomischen Renditeversprechen geblendet, staatliche Bankenaufsicht lange für lästig erachtet hatten. Zu der neuen alten Einsicht verholfen, dass es keine staatsfreien und außerstaatlichen Räume mehr gibt und dass der Staat strukturell mit immer mehr Anforderungen konfrontiert, vielleicht hier und da auch überfordert wird, zu dieser erneuerten Einsicht haben uns offenbar nicht zuletzt jüngere Finanz- und Wirtschaftskrisen und deren Folgen verleitet.

Doch wir finden auch Bedenklicheres. Angesichts der ökologischen Katastrophe werden heute nicht nur Klimafonds gefordert. Bekanntlich machen mittlerweile ja diverse Staaten in Fonds. Souveräne Vermögensfonds bündeln etwa Anteile an privaten Unternehmen oder öffentliches Betriebseigentum; oder sie finanzialisieren Sozialversicherungen, z.B. Rentenversicherungsfonds, mit dem Ziel, entweder (a) Dividenden auszuschütten bzw. öffentliche Güter zu finanzieren, oder um (b) Druck und Macht auf den Finanzmarkt zu gewinnen, oder um (c) fiskalische Stabilisierung durch Krisenreserven zu ermöglichen. Das Finanzvolumen staatlicher Fonds jedenfalls hat sich allein im letzten Jahrzehnt weltweit verdoppelt – mehrheitlich allerdings gerade nicht in demokratischen Staaten. Vielmehr sind es Autokratien, die heute strategische Finanzmarktmacht aufbauen, eine Gewalt, die sich nicht nur innenpolitisch nutzen lässt – also rentierstaatlich, als Partizipationsverhinderungs-Etat –, sondern eine fiskalische Feuerkraft auch, die sich konzertiert gegen schwache demokratische Staaten richten lässt und Kettenreaktionen auszulösen vermag.

So und so aber lässt sich feststellen: Es türmt sich dieser Jahre ein regelrechter Widerstand auf gegen einen naiven, wenn nicht primitiven Modellbegriff, der öffentliche Güter nur als Ausdruck eines noch ungenügend perfekten Marktgeschehens denunziert und ein Politikverständnis pflegt, das in der Privatisierung öffentlicher Güter das Heil erblickt und gemeinwohlverträgliches Wirtschaften für einen Ausdruck leistungsfeindlicher Schwäche hält. Pointiert: Öffentlichkeit kehrt in die öffentlichen Güter zurück, ganz sicher auch in das öffentliche Gut der Demokratie. Auch dafür empfiehlt sich die Versammlung öffentlich bestellter Theater, der Urform der Demokratie.

 

Dr. Sebastian Huhnholz ist akademischer Rat am Institut für Politikwissenschaft der Leibniz Universität Hannover.

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