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Zuwanderung in Deutschland - Ohne Fremde keine Stadt

Artikel vom 08.03.2004

„Ein Land mit nur einer Sprache und einer Sitte ist schwach und gebrechlich. Darum ehre die Fremden und hole sie ins Land.“ (Stefan I., König von Ungarn, 969 - 1038) - Urbanität und Zuwanderung aus stadtsoziologischer Sicht.

Prototyp des Städters ist der Fremde

Der Fremde ist Kern jeglicher soziologischen Definition von „Urbanität“. Als marginal man (Park) lebt der Fremde, der Hinzukommende, auf der Grenze zwischen zwei Kulturen, nämlich der Herkunftskultur und der Aufnahmekultur - eine sowohl prekäre wie auch produktive Existenz. Aus ihr leitet sich der großstädtische Sozialcharakter (Simmel) ab, der bestimmt wird von Distanziertheit, Gleichgültigkeit, Intellektualität und Blasiertheit. Diese Eigenschaften benötigt der Städter nicht nur als Schutz gegen eine Überfülle fremder Eindrücke, sie sind darüber hinaus auch notwendige Eigenschaften, um die eigene Individualität zu entfalten und gegenüber anderen abzugrenzen. Ein Zustand unvollständiger, da jeweils nur partieller Integration also. Diese konstituierenden Merkmale ermöglichen, dass im urbanen Raum verschiedene Lebensweisen, Anschauungen und Kulturen nebeneinander existieren und zugleich in einen produktiven Austausch zueinander treten können (Bahrdt).

Internalisierung und Externalisierung von Differenz

Das Verhältnis unterschiedlicher und einander prinzipiell fremder Großstadtbewohner ist potenziell konfliktbehaftet. Wie dieses Zusammenleben dennoch möglichst konfliktfrei organisiert werden kann, ist eine der Grundfragen der Stadtpolitik, die auf zweierlei Weise beantwortet wird: Im idealtypischen Modell der Europäischen Stadt, die auf der sozialen Homogenität der ökonomisch gesicherten Existenz ihrer einzelnen Bürger beruht, wird Fremdheit gleichgültig, indem sie in sozialen Beziehungen ignoriert werden kann. Denn im Verhalten der Individuen verankerte Distanz braucht keinen zusätzlichen räumlichen Ausdruck.

Anders dagegen setzt das Modell der nordamerikanischen Mosaik-Stadt auf kleinere binnenintegrierte Gemeinschaften, die sich räumlich voneinander separieren und so die Koexistenz von fremden und konkurrierenden Gruppen ermöglichen. Prototypisch dafür ist die nordamerikanische Einwandererstadt mit Little Italy, der China Town oder German Village

Paradigma der „Mischung“

Das Modell der Europäischen Stadt bestimmt nach wie vor Stadtentwicklung und Raumplanung. Dazu schreibt in Deutschland das Baugesetzbuch (Stand 2004) eine Bauleitplanung vor, die bei ihrer Aufstellung die „Wohnbedürfnisse der Bevölkerung bei Vermeidung einseitiger Bevölkerungsstrukturen“ besonders zu berücksichtigen hat (§ 1 Abs. 5 S. 2 BauGB). Dieser städtebauliche Grundsatz drückt sich auf der Ebene planerischer Operationalisierung und kommunaler Praxis im Leitbild der „sozialen Mischung“ aus, das nicht nur die Vorstellungen vom „richtigen“ Umgang mit Zuwanderung, sondern generell mit der anzustrebenden Zusammensetzung der Bevölkerung auf Quartiers- und Stadtteilebene bestimmt. Der öffentliche Wohnungsbau als eine Domäne der Regulierung sozialer Prozesse entwickelte deshalb Instrumentarien wie Quotierungen oder Zuzugssperren, die im Lauf der Zeit häufig geändert, überarbeitet und verworfen wurden. Für Frankfurt am Main beispielsweise galten 1994 folgende Quoten (nach Bartelheimer): „Liegenschaften bzw. Siedlungen sollten höchstens 30 % nichtdeutsche Mieter, 15 % Sozialhilfebezieher und 10 % Aussiedler aufweisen, dagegen 25 % andere Bewerber aus dem umgebenden Stadtteil.“

Gefährdete Balance: Drinnen und Draußen statt Oben und Unten

Die Krise des Modells der Europäischen Stadt beschreibt Siebel: „...Urbanität als produktiver Umgang mit Differenz [setzt] soziale Integration voraus. Diese soziale Integration beruht auf handfesten, ökonomischen Bedingungen: ökonomisches Wachstum, funktionierende Arbeitsmärkte und ein haltbares Netz sozialer Absicherung. Erst dadurch wird soziale Integration abgesichert, indem die Gesellschaft jedem eine ökonomisch gesicherte Existenz und eine fraglos gesellschaftlich nützliche Rolle, d.h. einen Platz im Leben zuweist. Heute aber filtern die Wachstumsgewinne nicht mehr nach unten durch und der Arbeitsmarkt als zentraler Mechanismus der Integration versagt. Die wachsende Zahl der dauerhaft Arbeitslosen, viele der neu Zugewanderten drohen in eine Randexistenz zu geraten, wo sie vom ökonomischen, sozialen und kulturellen Leben der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben. Damit kann sich auch in Deutschland eine new urban underclass entwickeln, wie sie in den Ghettos US-amerikanischer Städte existiert: eine Minderheit von dauerhaft aus den Zusammenhängen der Gesellschaft Ausgegrenzten. Wenn aber die Stadtgesellschaft nicht nur hierarchisch gegliedert ist in ein Oben und Unten, sondern gespalten ist in ein Drinnen und Draußen, dann fehlt die soziale Integration, auf deren Basis erst sich eine Kultur der Differenz und eine produktive Auseinandersetzung mit dem Fremden entfalten kann.“ (Häußermann/Oswald, S. 33)

Leitbilder der Integration: von Assimilation bis Multikulturalismus

Die sich zwischen den Polen „Durchmischung“ versus „Ghettobildung“ vollziehende Diskussion um eine angemessene wohnungspolitische Praxis wird durch die Forschung von der Auseinandersetzung um das richtige Leitbild für die Integration von Zuwanderern flankiert. Der so langwierige wie verhärtete Streit um ein Integrationsleitbild, das sich eher an der Assimilation der Zuwanderer und an deren gleichmäßiger räumlicher Verteilung über ein Stadtgebiet orientiert, versus einem Integrationsleitbild des allgemeinen Multikulturalismus, der ein gleichwertiges Nebeneinander der Kulturen anstrebt und bei dem auch ethnische oder kulturelle Separierungen hingenommen werden, erweist sich für die Stadtentwicklung, wie die Praxis zeigt, als ungeeignet bis kontraproduktiv, da beide Ansätze „auf einem Auge blind“ sind. So strebt das Leitbild der Assimilation eine „geräuschlose“ und konfliktfreie Einordnung der Zuwanderer in die vermeintlich homogene Aufnahmegesellschaft an, während die undifferenzierte Propagierung der Bewahrung ethnisch-kultureller Identität, wie sie der Multikulturalismus verfolgt, eine heterogene Gesellschaft avisiert, die ohne common ground jedoch nicht existieren kann.

Konflikthaftes Zusammenleben - mehr als ein juristisches Problem

„Die Industriegesellschaft der Zukunft wird eine buntscheckige sein, nicht nur was die Hautfarbe, sondern auch was Motive, Mentalitäten, Wertgemeinschaften angeht“, prognostizierte Karl Otto Hondrich 1997 und behielt zumindest in Teilen Recht. Doch ist es gerade das Ende der Industriegesellschaft und der Wandel zu einer neuen, noch im Entstehen begriffenen und deshalb verunsichernden Arbeitswelt, der kulturelle Konfliktlinien zwischen Einheimischen und Zugewanderten, zwischen Migranten unterschiedlicher Herkunft, zwischen erster, zweiter und dritter Zuwanderergeneration, zwischen Autochthonen, Ausländern und Aussiedlern verstärkt und das Zusammenleben problematisch gestaltet.

Juristische Klärung erfordern mittlerweile Fragen wie: „Hat eine islamische Schülerin ein Anrecht darauf, vom Sportunterricht befreit zu werden, weil sie sich dem anderen Geschlecht nicht in Sportkleidung zeigen darf? (...) Können Zuwanderer verlangen, Verstorbene ohne Rücksicht auf die einheimische Friedhofsordnung zu bestatten? Muss in deutschen Städten der mit Lautsprechern übertragene Ruf des Muezzin genauso zugelassen werden wie das Glockengeläut der Kirchen? Muss Fremden das Schächten erlaubt werden, obwohl es den einheimischen Tierschutzregeln widerspricht?“ (Grimm) Die Frage, ob Migranten muslimischen Glaubens ihre öffentlich geförderten Mietwohnungen nach ihren religiösen Regeln umbauen dürfen, könnte diese Reihe bald fortsetzen.

Die nicht allein juristische, sondern vor allem alltägliche Herausforderung des Zusammenlebens und der Integration besteht folglich darin: „(...) In Zeiten weltweiter Migration ist es auch die Frage nach dem Recht des Menschen in einer anderen lokalen Welt als derjenigen, aus der er stammt. Es ist die Frage nach seinem Recht, dort als Fremder weiter in denjenigen Formen zu leben, die ihm vertraut, vielleicht sogar heilig sind. Es ist damit zugleich aber auch die Frage nach dem Recht der Einheimischen, ihre Lebensweisen und Werthaltungen mitsamt den rechtlichen Normen, die darauf beruhen, von den Zugewanderten geachtet zu sehen.“ (Grimm)

Das Anti-Beispiel: „America“

In dem Roman "America" schildert T. Coraghessan Boyle die Wandlung eines jungen, dynamischen, linksliberalen Amerikaners in Kalifornien vom glühenden Verfechter des Rechts der illegalen Zuwanderer aus Mexiko auf ein würdiges Leben in den Vereinigten Staaten zu einem mordbereiten Ausländerhasser. Weil die Mexikaner ein Stück vom amerikanischen Traum haben wollen und sich deshalb den Exklaven der weißen Mittelschicht immer mehr nähern, werden sie zusehends bedrohlicher - sowohl untereinander wegen der Konkurrenz um die Arbeit als auch für die Weißen durch ihre bloße Präsenz an jeder Ecke. Die Weißen befinden sich in einem dauernden Spannungszustand in Erwartung einer kriminellen Aktion der Migranten. Intellektuelle Einsicht der Mittelschicht in die Situation der Latinos weicht stupider Emotion. Boyle zeigt die hellen und dunklen Seiten beider Kulturen, die so hart aufeinander treffen und nicht zueinander finden können. Der „Clash of Civilisations“, den Samuel Huntington vorhersagt, spielt sich im Alltäglichen längst ab. Denn in Boyles „America“ baut die weiße Mittelschicht immer höhere Mauern und bestellt Sicherheitsdienste. Aber sie baut sich damit auch ihr eigenes Gefängnis, in dem sich die Insassen selbst bekriegen. Auf der anderen Seite führen die Migranten untereinander heftige Kämpfe. Keine Seite ist besser als die andere. Von Integration kann keine Rede sein. (T.C. Boyle: America. München: dtv 1998)

Literatur

Bahrdt, Hans-Paul: Die moderne Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1961

Bartelheimer, Peter: Durchmischen oder stabilisieren? - Plädoyer für eine Wohnungspolitik diesseits der „sozialen Durchmischung“. In: de Bruyn, Gerd (Hg.): Öffentliche Wohnungsbestände im Widerstreit der Interessen: Markt - Stadtplanung - Sozialpolitik. Werkstattbericht zum wohnungspolitischen Kolloquium. Darmstadt: Schader-Stiftung 1998. S. 8-21

BenJelloun, Tahar: Papa, was ist ein Fremder? Gespräch mit meiner Tochter. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000 (als Hörbuch gelesen von Jenny und Otto Schily)

Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“, seine Zusammenfassung und im Auftrag der Kommission verfasste Gutachten

Brech, Joachim: Ohne Fremde keine Stadt. In: Die Wohnungswirtschaft 5/2002.

Grimm, Dieter: Kann der Turbanträger von der Helmpflicht befreit werden? Nach dem Gesetz: Welche kulturellen Konflikte zwischen Einheimischen und Zugewanderten entstehen und wie ihnen juristisch begegnet werden kann. In: FAZ vom 21.6.2002, S.49

Häußermann, Hartmut: Stadtentwicklung und Zuwanderung - Wandel des Integrationsmodus? In: Wendt, Hartmut/ Heigl, Andreas (Hrsg.): Ausländerintegration in Deutschland. Materialien zur Bevölkerungswissenschaft Heft 101 2000. S. 33-47

Hondrich, Karl Otto: Ende oder Wandel? Über die mögliche Zukunft der Industriegesellschaft. In: Wiener Zeitung vom 2.4.1997

Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München, Wien 1996. (engl. Titel: Clash of Civilisations)

Park, Robert E: Human Migration and the marginal man. In: American Journal of Sociology. Vol. 33, No. 6, p.881-893

Schader-Stiftung (Hrsg.): Vom Gastarbeiter zum Einwanderer? - 40 Jahre Migration in Wissenschaft, Politik und Medien. Symposium am 2. November 1995 in Berlin sowie „Vom Fremdsein in der Stadt“. Migration - Begegnungen im Alltag. Kolloquium am 5. März 1996 in Bonn. Darmstadt 1996

Siebel, Walter: Die Stadt und die Zuwanderer. In: Häußermann, Hartmut/ Oswald, Ingrid (Hrsg.): Zuwanderung und Stadtentwicklung. Leviathan Sonderheft 17/1997. Opladen/ Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. S.30-41

Siebel, Walter: Die Stadt und die Fremden. In: Brech, Joachim/ Vanhué, Laura (Hrsg.): Migration - Stadt im Wandel. Darmstadt 1997. S.33-40

Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders.: Das Individuum und die Freiheit. Berlin: Wagenbach 1984

Simmel, Georg: Exkurs über den Fremden. In: Ders.: Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992

Mehr zum Amerika des T.C. Boyle und zu gated communities:
Eike Hennig: Einmauern. Die Zitadellengesellschaft und ihre „Gated Communities“. In: Schader-Stiftung (Hrsg.): wohn:wandel. Szenarien, Prognosen, Optionen zur Zukunft des Wohnens. Darmstadt 2001. S. 294-301

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