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Innovativ, dynamisch, emergent – Netzwerke im Dritten Italien. Ihre Struktur in Raum und Zeit.

Artikel vom 26.11.2014

Ein Vortrag von Dr. Sieglinde Amelia Walter im Rahmen der Tagung „Dynamiken räumlicher Netzwerkstrukturen: Theorien und Anwendungen geographischer und soziologischer Netzwerkforschung“ 12./13. Juni 2014 im Schader-Forum Darmstadt

Einleitung

Das Dritte Italien gilt seit den 80er Jahren gleichsam als geflügeltes Wort für regionales Wachstum in vernetzten Strukturen. Durch die Vernetzung erlangen lokal verwurzelte kleine und mittelständische Unternehmen eine globale Performanz. Diese KMU-Netzwerke, auch (Neue) Industriedistrikte genannt, sind emergent, d.h. spontan und jenseits einer bewussten politischen Steuerung, für viele Beobachter sogar unerwartet entstanden. Sie sind das Ergebnis unzähliger Entscheidungen vieler Einzelner, ohne dass diese sich untereinander abgestimmt hätten. Diese Besonderheit legt die Vermutung nahe, dass neben anderen Faktoren gerade auch die kulturell geprägten Verhaltensstandards der regionalen Akteure für die Entstehung der Netzwerke von entscheidender Bedeutung sind.

Drei dieser emergenten Netzwerke1 wurden in einer empirischen Untersuchung in Venetien erhoben, einer Region des Dritten Italien. Das Datenmaterial gibt sowohl Aufschluss über die Netzwerke selbst als auch über ihre sozio-kulturellen Bedingungen.

Unter den Regionen des Dritten Italien nimmt Venetien, im Nord-Osten Italiens zwischen der Adriaküste im Süden und den Dolomiten im Norden gelegen, eine Sonderstellung ein. Bis in die 60er Jahre des 20. Jhs. die ärmste Region Norditaliens, agrarisch geprägt und von mehreren Auswanderungswellen gezeichnet, entwickelte sich Venetien zu einer blühenden Region auf der Basis einer Neoindustrialisierung, die im wesentlichen von kleinen und mittelständischen Unternehmen getragen wird. Der wirtschaftliche Aufschwung Venetiens kam auch für aufmerksame Beobachter überraschend. Unerwartet war nicht so sehr der Erfolg als solcher. Vielmehr erstaunte, wie schnell sich die Veränderungen vollzogen und wie wenig sie sich auf die soziale Stabilität auswirkten (vgl. Bernardi 1985, Krämer-Badoni 1993).

Die Netzwerke

KMU-Netzwerke, auch (Neue) Industriedistrikte genannt, bilden die Grundlage der ökonomischen Entwicklung des Dritten Italien. Es handelt sich um regional integrierte Unternehmensnetzwerke von mittelständischen, kleinen und Mikrounternehmen, in denen postfordistische Produktionskonzepte für eine differenzierte Qualitätsproduktion eingesetzt werden. Mit dem Konzept des Industriedistrikts werden über die allgemeinen Merkmale von Unternehmensnetzwerken (vgl. Sydow 1992) hinaus auch besondere territoriale, produktionstechnische, sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Merkmale (vgl. Marshall 1919; Becattini 1979) erfasst. Die Netzwerkakteure sind die Distriktunternehmen, Forschungseinrichtungen, Ausbildungseinrichtungen, Messen, Banken, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, öffentliche Verwaltung und Politik (vgl. Walter 2004, 186ff.).

Die Unternehmensnetzwerke des Industriedistrikts werden in der Literatur als raumbezogene, nämlich regionale Netzwerke bezeichnet. Die Ergebnisse der vorliegenden empirischen Untersuchung zeigen, dass diese Zuweisung problematisch ist. Zwar konzentriert sich die Agglomeration der Unternehmen tatsächlich räumlich, und zwar auf regionaler, wenn nicht sogar auf lokaler Ebene. Ebenso beziehen sich die Netzwerkakteure selbst auf den Distrikt als einen lokal oder regional verorteten. Faktisch aber hat sich diese Zuordnung überlebt.

Trotz einiger erheblicher Unterschiede zwischen den Industriedistrikten weisen die Unternehmensnetzwerke stets über den regionalen Bezugsrahmen hinaus. Entweder werden Unternehmen im Industriedistrikt von ausländischen Investoren gekauft oder aber die Distriktunternehmen gehen der niedrigeren Produktionskosten wegen selbst ins Ausland. Im Industriedistrikt 2 gibt es kein Unternehmen mehr, welches das Endprodukt ausschließlich vor Ort in Montebelluna herstellt. So gut wie alle final firms haben eine Niederlassung in Timisoara in Rumänien, wo zumindest die arbeitsintensiven Produktionsschritte, teilweise sogar die gesamte Produktion erfolgt. Die Kontakte zwischen Monebelluna und Timisoara sind so eng, mit regelmäßigen Flugverbindungen zwischen den beiden Orten, dass von zwei Teilen desselben Industriedistriks gesprochen werden kann. Fertigen lassen final firms aber auch in Kroatien, Slowenien, Tschechien, Bulgarien, Marokko, Korea, Vietnam oder China. Dennoch: Die Trends auf dem Sportschuhmarkt werden weiterhin im Industriedistrik gemacht. Dessen sind sich nicht nur die Distriktunternehmer bewusst. Alle multinationalen Konzerne aus der Sportschuhbranche haben zumindest ihre Abteilung für Design, Forschung und Entwicklung nach Montebelluna verlegten. Vielfach verleibten sie sich, wie etwa Nike, Lange, Rossignol oder Salomon/Adidas, ein kleines Unternehmen im Distrikt ein. In Montebelluna werden Trends gemacht,die auch diese multinationalen Konzerne nicht verpassen dürfen.

Der lokale Bezugsrahmen der Unternehmen eines Industriedistrikts wird zunehmend aufgeweicht und wurde bereits zu Gunsten eines globalen aufgegeben. Die Unternehmensnetzwerke des Industriedistrikts den regionalen Netzwerken zuzuordnen, entspricht also nicht (mehr) den Fakten. Es handelt sich um überregionale Netzwerke, und im Falle der Unternehmen mit eigenen Produktionsstätten in Rumänien und China muß richtiggehend von globalen Netzwerken gesprochen werden, wenngleich das Herzstück oder der „Kopf“ des Industriedistrikts immer noch lokal verortet ist.

Eine weitere Besonderheit, die sich aus der empirischen Untersuchung ergibt, betrifft das Zusammenspiel der einzelnen Akteure im Unternehmensnetzwerk. Aufgrund der besonderen Art der Regulierung können die erhobenen Unternehmensnetzwerke mit Tom Burns und George Stalker (1961) als organische Netzwerke bezeichnet werden, die durch dezentrale, offene, wenig standardisierte und formalisierte Strukturen gekennzeichnet sind. Die Netzwerke sind außerdem polyzentrisch und heterarchisch, ihre Regulation erfolgt nicht durch ein fokales Unternehmen, sondern durch mehrere oder wechselnde Akteure. Die Austauschprozesse erfolgen zwischen mehr oder weniger gleichberechtigten Partnern (vgl. Hirsch-Kreinsen 2002). In der Tat relativiert sich das Machtgefüge zwischen „Kleinen“ und „Großen“ in dem Moment, wie jedes an der Produktion beteiligte Unternehmen auf die Innovation ausgerichtet ist und die kleinen und Mikro-Unternehmen dermaßen spezialisiert sind, dass ihr Know-how für die großen final firms unverzichtbar wird. Aus der Sicht der großen Unternehmen sind die kleinen spezialisierten Betriebe sogar der Motor für die Innovation. So verwundert es nicht, dass sich final firms von den Zulieferern sogar abhängig fühlen. Das Verhältnis zwischen kleinen und großen Unternehmen ist äußerst vielschichtig. Mehr als um ein Machtungleichgewicht handelt es sich um eine Symbiose.

Das Produktionssystem

Als Distriktunternehmen werden Unternehmen bezeichnet, die unmittelbar an der Herstellung des Produkts beteiligt sind, das dem Distrikt seinen Namen gibt, bspw. Sportschuhe, Brillen, Schuhe etc. Die Produkte werden in kleinen Serien hergestellt. Sie sind typischerweise trendabhängig, design-intensiv und bedienen einen individualisierten Markt. Durch die Vernetzung erreichen die lokal verwurzelten, kleinen und mittelständischen Unternehmen eine globale Performanz bis hin zur Marktführerschaft.

Von den Knotenpunkten im Unternehmensnetzwerk eines Industriedistrikts werden hier nur die Distriktunternehmen betrachtet, wie sie für die Darstellung des Produktionssystems relevant sind. Ausgangspunkt ist die Typologisierung, wie sie im Industriedistriktdiskurs eingeführt ist (vgl. Brusco 1982, Die Ottati 2001). Um die in Venetien erhobenen Unternehmensnetzwerke tatsächlich zu erfassen, bedarf diese Typologie allerdings einer Präzisierung und Erweiterung. Die Kategorien (a.) final firm für Unternehmen, die das Endprodukt herstellen und selbst vermarkten, (b.) phase firm für Zulieferer und (c.) Komplementoren, die rund um das Produkt der final firm ihre Dienste anbieten, reichen für die Erfassung der Unternehmen innerhalb der Distriktnetzwerke nicht aus. Sie berücksichtigen nicht den Typus von Unternehmen, der in Venetien terzista genannt wird.

Terzista bedeutet „einer, der für Dritte arbeitet“. Es handelt sich um Unternehmen, die ein Endprodukt herstellen, es aber nicht selbst vermarkten. Mit dem Begriff terzista bezeichnen die Unternehmer Venetiens genau besehen drei Arten von Unternehmen, die allesamt ein Endprodukt herstellen, aber keinen direkten Zugang zum Markt haben. Entweder (Typ 1) läßt der terzista sein Produkt von Distributoren unter einer von ihm selbst gewählten „Phantasiebezeichnung“ vertreiben, oder (Typ 2) er stellt das Produkt für große Handelsketten her, die das Produkt mit ihrem eigenen Markennamen, dem sogenannten private label versehen oder (Typ 3) er stellt es für eine andere final firm her, die das Produkt mit dem eigenen Markenlabel versieht. Im ersten Fall  handelt es sich um einen terzista mit eigener Marke (Typ 1), in den anderen beiden Fällen um einen terzista ohne eigene Marke (Typ 2 und Typ  3).

Ein terzista mit eigener Marke (Typ 1) erfüllt streng genommen nicht die Kriterien einer final firm im Sinne Bruscos, denn er überlässt die Vermarktung der eigenen Produkte einem anderen Unternehmen, dem Distributor. Terzisti des Typ 2, die das Produkt bspw. an US-amerikanische oder europäische Handelsketten liefern, führen die Herstellung des Endprodukts eigenständig durch. Sie bestimmen selbst das Design, das Material und die Herstellungsverfahren und legen ihre Muster den Distributoren zur Auswahl vor. Diese bestellen dann eine bestimmte Menge der ausgewählten Modelle. Ein terzista vom Typ 3 ist eng an die Vorgaben der Auftraggeberfirma gebunden und hat keinen Einfluß auf die Entwicklung des Produkts. Er ist Unterauftragnehmer einer final firm und muss bei der Fertigung genaueste Vorgaben erfüllen. Insbesondere wenn der terzista den Auftrag deswegen erhält, weil die Auftrag gebende final firm die erforderliche Produktionsmenge in der vorgegebenen Zeit selbst nicht zu produzieren vermag, darf sich das Produkt des terzista nicht im Geringsten vom Produkt der final firm unterscheiden. In solchen Fällen liefern vielfach sogar die Zulieferer der final firm die Komponenten des Produkts direkt an den terzista.

Um den konkret vorgefundenen Distriktunternehmen gerecht zu werden, ist nicht unbedingt die Einführung neuer Kategorien erforderlich. Die von Brusco geprägte Kategorie der final firm ist  allerdings neu zu definieren. Beruht das entscheidende Merkmal der final firm ausschließlich auf der Herstellung des Endprodukts, so kann diese Kategorie auch alle terzisti aufnehmen. Zu unterscheiden bleiben dann (1) die final firms mit eigener Vermarktung ihrere Produkte und (2) die final firms ohne eigene Vermarktung. Letztere gliedern sich wiederum in (a) final firms mit eigener Marke (terzista Typ1), (b) final firms ohne eigene Marke (und eventuell mit private label des Distributors; terzista Typ 2) und (c) final firms als Unterauftragnehmer anderer final firms (terzista  Typ 3). Blieben die Definitionsmerkmale Bruscos, nämlich Herstellung des Endprodukts und der direkte Zugang zum Markt aufrecht erhalten, so wäre jedenfalls für den Typus des terzista, der lediglich Unterauftragnehmer für andere final firms im Distrikt ist, die Einführung einer neuen Kategorie unerläßlich.

Die Kategorie der Lieferanten von Material und Maschinen wird in der Darstellung des Produktionssystems als zusätzliche Kategorie genannt, weil sie gerade für die Innovation und für die Verbreitung von Wissen im Netzwerk eine bedeutsame Rolle spielt.

Mit der nötigen Spezifizierung für die erste Kategorie sind für das Produktionssystem relevant: (a.) final firms, (b.) phase firms, (c.) Lieferanten für Material und Maschinen und (d.) Komplementoren (Dienstleistungsunternehmen wie Designer, technische Berater, Distributoren, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte, Transportunternehmen sowie Hersteller von Accessoires.

Diese Unternehmen bilden eine „Mannschaft“ entlang der Wertschöpfungskette. Eine Mannschaft ist grundsätzlich stabil, viele Beziehungen bestehen seit Jahren, manche seit Jahrzehnten. Die Mannschaften werden aber aufgrund der Markttendenzen, die sich in der Brillen-, Sportartikel- und Schuhbranche saisonal ändern und denen sich die Unternehmen rasch anpassen, immer wieder neu zusammengesetzt. Trotz der Bevorzugung langfristiger Beziehungen gilt für die Formation einer Mannschaft als zeitlicher Bezugsrahmen eine Saison oder aber die Bearbeitungszeit für ein Projekt. Ausschlaggebend für die Wahl der Mannschaftsmitglieder ist dabei das Produktangebot der final firm, ob mit oder ohne eigene Vermarktung, für die jeweils anstehende Saison sowie die  Kompetenz der phase firms und der terzisti als Unterauftragnehmer. Diejenigen phase firms, die für nun nicht mehr erforderliche Produktionsschritte verantwortlich waren, verlassen die Mannschaft und neue Unternehmen mit den erforderlichen Kompetenzen kommen hinzu. Die Unternehmen stammen aber immer aus dem Industriedistrikt. Erst wenn ein Unternehmen nicht in diesem Pool fündig wird, sucht es anderweitig nach Geschäftspartnern. Über das Verbleiben der terzisti als Unterauftragnehmer entscheidet der Auftragsumfang und die Produktionskapazität der final firm.

Die Population der Unternehmen im Distrikt stellt einen Pool von ehemaligen Geschäftspartnern und potentiellen Kooperationspartnern dar. Sie unterhalten untereinander keine vertraglichen Beziehungen, die informellen Kontakte können aber jeder Zeit in solche umgewandelt werden. Es sind in gewisser Weise latente Geschäftsbeziehungen, die jederzeit aktiviert werden können und bei Bedarf auch tatsächlich immer wieder aktiviert werden. De facto überdauern die Beziehungen innerhalb einer Mannschaft oft Jahrzehnte.

Die Familienangehörigkeit ist für die Unternehmer nicht entscheidend, sondern zumeist ein Ausschlusskriterium für die Kooperation. Die meisten derjenigen, die ihr Unternehmen zusammen mit Geschwistern gründen, trennen sich über kurz oder lang wieder von ihnen als Mitgesellschafter. Auch Geschwister, die als Erben ein bestehendes Unternehmen gemeinsam weiterführen, trennen sich und sind sich nicht selten die schärftsten Konkurrenten. Am häufigsten finden Unternehmer ihre Mitgesellschafter unter etwa gleichaltrigen ehemaligen Arbeitskollegen.

Die Eigenart der Netzwerkakteure, ihre Kooperationspartner von Projekt zu Projekt neu zu bestimmen, dabei allerdings frühere Partner zu bevorzugen, die Auswahl kompetenzbasiert vorzunehmen und an den Anforderungen des neuen Projekts auszurichten, dürfte ausschlaggebend für die Innovationskraft und die Flexibilität der Unternehmensnetzwerke sein. Die Beziehungen sind grundsätzlich langfristig angelegt. Für eine bestimmte Leistung wird immer wieder, mit jedem neuen Projekt, auf dieselben Unternehmen zurückgegriffen. Letztendlich allerdings entscheiden die Anforderungen des neuen Projekts über die Auswahl und auch über die Anzahl der Kooperationspartner. Damit ist gewissermaßen ein objektives Auswahlkriterium gefunden, wodurch verhindert wird, dass es Akteure persönlich nehmen könnten, wenn sie bei der Zusammensetzung der neuen Mannschaft nicht berücksichtigt werden (können). In der eigenen Wahrnehmung der Unternehmer hat „der Markt“ entschieden, die Zusammenarbeit ist nur ausgesetzt, vorläufig und für das eine Projekt. Sie wenden sich anderen Projekten zu und werden zu einem späteren Zeitpunkt bei Bedarf wieder in die Mannschaft einbezogen. Die Zusammensetzung der Mannschaften ist auf diese Weise dynamisch genug, dass verkrustete Beziehungen vermieden werden, die Fluktuation ist aber andererseits nicht so groß, dass der Wissens- und Erfahrungsschatz einer Mannschaft verloren ginge. Langfristige Beziehungen und Innovation schließen sich also nicht aus. Vorteilhaft wirkt sich diesbezüglich auch die Redundanz der Beziehungen im Unternehmensnetzwerk aus. Ein Unternehmen arbeitet nicht zuletzt aufgrund dereingeschränkten Produktionskapazität häufig mit mehreren Zulieferern für denselben Produktionsschritt zusammen. Unternehmer setzen die Vielfalt der potentiellen Kooperationspartner bisweilen auch ganz gezielt ein.

Die Dynamik im Industriedistrikt ist allerdings um ein Vielfaches höher und die Vernetzung um ein Vielfaches komplexer, als es das Bild der Mannschaften vermitteln könnte. Ein Unternehmen kann nämlich mehreren Mannschaften angehören, und zwar nicht nur, weil es über eine Kompetenz verfügt, die von mehreren Partnern nachgefragt wird, sondern auch weil ein Unternehmen im Netzwerk verschiedene Kompetenzen anbietet.

Die in dieser Darstellung der Unternehmensnetzwerke bevorzugten Kategorien final firm und phase firm richten sich an der Rolle der Unternehmen in der Wertschöpfungskette aus und sagen wenig über das Unternehmen selbst. Die von Aldo Durante und Giorgio Brunetti vorgeschlagenen Kategorien gehen stärker auf die Profile der Unternehmen ein, wenn sie diese nach Größe und Aktionsradius ordnen. Bloß sind die einzelnen konkreten Unternehmen im Distrikt nicht eindeutig diesen Profilen zuzuweisen, weil sie mehreren entsprechen. Ein Unternehmen kann final firm mit eigener Vermarktung und terzista und phase firm sein, und zwar nicht nur nacheinander von Saison zu Saison, sondern gleichzeitig.

Die augenfälligste Besonderheit, die sich aus der empirischen Untersuchung ergibt, wirft ein völlig neues Licht auf die Art der multiplexen und polyzentrischen Netzwerkbeziehungen und auf die Typologie der Akteure in den Unternehmensnetzwerken. Ein und dasselbe Unternehmen gehört einem Unternehmensnetzwerk als final firm mit eigener Vermarktung und einem oder mehreren anderen Unternehmensnetzwerken als terzista und denselben oder anderen Unternehmensnetzwerken als phase firm an. Gerade wenn der Absatz des Produkts der eigenen Marke ins Stocken gerät, versuchen die Unternehmen durch die Arbeit als Unterauftragnehmer für andere final firms oder durch die Zusammenarbeit mit Distributoren den Absatzeinbußen entgegenzuwirken. Um seine Kompetenz nicht brachliegen zu lassen und die vorübergehende Krise zu meistern, arbeitet es als Unterauftragnehmer (terzista), bietet aber weiterhin sein eigenesProdukt auf dem Markt an. Zusätzlich kann das Unternehmen als phase firm für ein anderes Unternehmen ein Produktteil herstellen oder einen Produktionsschritt durchführen. Einige kleine Unternehmen setzen unabhängig von Krisenzeiten ganz bewußt auf diese Strategie der Mehrgleisigkeit, um ihr Risiko zu verringern.

Die Unternehmen switchenzwischen den verschiedenen Profilen hin und her. Dieses Verhalten ist im Industriedistrikt nicht als Makel stigmatisiert und nicht mit einem Reputationsverlust verbunden. Das Switchen zwischen den verschiedenen Kategorien wird vielmehr als unternehmerisches Geschick angesichts einer schwierigen und nicht selbst verschuldeten Lage auf dem Markt gewertet. Der Erfolg eines Unternehmers mißt sich in einer kritischen Lage daran, dass er sein Unternehmen gut durch die Wechselfälle des Marktes manövriert. Wie er das macht, bleibt ihm überlassen. Jedenfalls ist ein Wechsel innerhalb der Unternehmenskategorien in jede Richtung möglich, nicht zuletzt auch aufgrund der geringen formalen Barrieren. Sie erleichtern nicht nur den Markteintritt neuer, sondern auch die Neuorientierung bereits bestehender Unternehmen.

Angesichts dieser starken Dynamik der Unternehmensnetzwerke können sich im Industriedistrikt nur schwerlich Hierarchien herausbilden. Das Zentrum des Unternehmensnetzwerks, die final firm mit eigener Vermarktung oder der terzista, ist für jedes Projekt neu zu bestimmen. Der Beitrag der kleinen Unternehmen zur Innovation des Produktes ist ebenso entscheidend wie derjenige der großen Auftraggeberfirmen. Unter diesen Umständen kann das Netzwerk gar nicht anders als heterarchisch und polyzentrisch sein.

Anforderungen an die Unternehmen

Das beschriebene Produktionssystem setzt einheitlich hohe Produktionsstandards voraus. Jedes Unternehmen hat eine oder auch mehrere Kernkompetenzen und findet auf diese Weise seine Rolle(n) im Netzwerk. Unabdingbar ist eine starke Marktorientierung und eine große Flexibilität. Das einzelne Unternehmen ist bereit, seine Vorteile nicht kurzfristig, sondern mittelfristig zu kalkulieren.

Das Unternehmen selbst muss, damit es zur Kooperation im Netzwerk fähig ist, selbst in der Logik eines Netzwerkes organisiert sein. Insbesondere gibt es flache Hierarchien und eine ausgepärgte Mitarbeiterförderung jenseits von Arbeitsplatzbeschreibungen.

Schließlich ist ein solches Produktionssystem nur unter den Bedingungen der Exportorientierung denkbar. Die Mannschaften stehen wohl in einem starken Wettbewerb, aber der Begriff Konkurrenten wird nur für Unternehmen außerhalb des Industriedistrikts verwendet, ebenso wie „der Markt“ außerhalb des Industriedistrikts liegt. Die final firms bewegen sich nicht als Einzelunternehmen auf dem Markt, sondern im Bewusstsein, Teil eines größeren Systems zu sein. Sie handeln im Bewusstsein „Wir (Distriktunternehmen) gegen den Rest der Welt“.

Anforderungen an die Akteure

Die Emergenz dieser innovativen und sehr dynamischen Netzwerke weist ihren sozio-kulturellen Bedingungen große Bedeutung zu. Es wird die These vertreten, dass die Verhaltensstandards der Netzwerkakteure einer „Vernetzungsmentalität“ entspringen, die sie (auch) auf die Ebene ihrer ökonomischen Aktivitäten übertragen. An dieser Stelle werden nur einige der Verhaltensstandards der Netzwerkunternehmer in aller Kürze geannt.

Die Menschen im Industriedistrikt verbindet ein starkes „Wir“-Gefühl. Die Bezugsgruppe für das „Wir“ kann die Familie, die Mannschaft oder der Industriedistrikt sein und es gibt wechselnde Loyalitäten. Die Menschen sehen sich als Teil eines größeren Ganzen, des Indsutriedistrikts, und denken systemisch. Voraussetzung für die große Flexibilität, die sich etwa im Switchen der Unternehmen zwischen den Kategorien ausdrückt, ist die Definition von Erfolg. Erfolgreich ist, wer sein Unternehmen erfolgreich druch Krisen führt und seine Familie damit ernähren kann. Sollte eine Krise nicht gemeistert werden können – was angesichts schwierigster Marktbedingungen vorkommen kann –, ist erfolgreich, wer nicht aufgibt und wieder auf die Beine kommt.

Es gibt eine starke Beziehungsorientierung, eine ausgeprägte Präferenz für Face-to-Face und eine große Bereitschaft zur Beziehungspflege. Die Menschen sind parallele, redundante Handlungsressourcen gewohnt und halten sie für selbstverständlich. In Konfliktsituationen wird eine Eskalation grundsätzlich vermieden und die Voice- der Exit-Option vorgezogen.

Die Unternehmensnetzwerke sind auf Fairness und Vertrauen gegründet. Die Überschaubarkeit des Industriedistrikts erleichert die soziale Kontrolle und die Ahndung von Devianz. Gerade die Erweiterung des räumlichen Bezugsrahmens der Netzwerke über die Region hinaus macht deutlich, dass für die Wahl der Kooperationspartner nicht allein die regionale Zugehörigkeit ausreicht. Vielmehr geht es um übereinstimmende Werte (Community). Zur Community passt, wer an einem Ort verwurzelt und am Besten mit einem eigenen Haus und einer Familie gebunden ist, wer Unternehmer ist und ein ausgeprägtes Arbeitsethos hat.

Die Autorin: Dr. Sieglinde Amelia Walter ist Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Volksiwrtschafslehre, insbesondere Wirtschafts- und Sozialpolitik der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Beraterin bei Business Network Consulting in München.

1 Brillendistrikt von Segusino (Industriedistrikt 1); Sportschuhdistrikt von Montebelluna (Industriedistrikt 2); Schuhdistrikt an der Riviera del Brenta (Industriedistrikt 3).

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