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Welche Stadt sehen wir? Die Urbanisierung des Tourismus

Artikel vom 16.04.2015

Marion Eichmann: ISTANBUL (Polis) 2009. Copyright Marion Eichmann

Die Urbanisierung des Tourismus als Simulacrum des Städtischen: Immer mehr Reisende zieht es weltweit in die Städte. Diese Urbanisierung des Tourismus verändert vor allem die Städte selbst und verwandelt sie in Simulationen einer städtischen Wirklichkeit. Von Andrej Holm

Ursprüngliche Authentizität und touristische Erwartungen

Die Zeiten des Strand- und Naturtourismus sind zwar nicht beendet, doch erleben wir weltweit eine Schwerpunktverlagerung der touristischen Destinationen in die Metropolen der Welt. Ob Marco Polo oder Lonely Planet: Statt der Ruhe in der Abgeschiedenheit einer idyllisch empfundenen Natur stehen im modernen Tourismus die urbanen Selbsterfahrungen in der quirligen Dichte einer authentisch empfundenen Nachbarschaft im Zentrum der beworbenen Wünsche.

Dabei hat sich auch der Charakter der Städtereisen selbst verändert. Der klassische City-Trip zu Sehenswürdigkeiten, Sakralbauten und Hochkulturmuseen wird Reise für Reise von einem Tourismus der Alltagserfahrungen, Nachbarschaften und Subkulturen verdrängt. Auf dem Programm stehen immer seltener die Besichtigungen von repräsentativen Orten und städtischen Wahrzeichen als vielmehr das Erleben von Originalität in authentischen Milieus. Der Wunsch, auf den Märkten der Einheimischen einzukaufen, in den echten Nachbarschaftscafés einzukehren und sich als Teil des Alltags zu fühlen, findet seine Entsprechung in den personalisierten Angeboten von Airbnb und anderen Ferienwohnungsportalen.

Ob Stadtführungen durch das abrissbedrohte Fener in Istanbul, die Favela-Tours in Rio oder die Pub-Crowd in Kreuzberg: je älter, kaputter und prekärer das Stadtquartier, desto größer der Anreiz für die wachsenden Ströme des neuen Städte-Tourismus. Die darin gespiegelten Erwartungen zielen auf das Beständige, das aus der Vergangenheit Erwachsene und das Ursprüngliche der Nachbarschaften. Der Reiz des touristischen Authentizitätserlebens jedoch besteht vor allem in der Vorstellung einer aktiven Aneignung der städtischen Räume. In den klassischen Pionier-Methaphern werden dabei neue Stadtgebiete entdeckt und bisher unentdeckte Orte erobert und es wird in (bis vor ein paar Jahren) gefährliche Zonen der Stadt vorgedrungen.

Der touristische Konsum einer rauen Bodenständigkeit ist nicht nur eine emotionale Kompensation für ein meist geordnetes und durchgeplantes Alltagsleben, sondern auch die Simulation einer Echtheit, die den Betrachtenden selbst in den Mittelpunkt einer städtischen Erfahrung setzt. Auch Sharon Zukin unterschied in ihren Arbeiten zur Veränderung in New Yorker Nachbarschaften zwischen einer historisch gewachsenen Ursprünglichkeit und einer aus der ständigen Neuerfindung des Raumes erwachsenen neuen Authentizität (Naked City. The Death and Life of Authentic Urban Places, 2010). Sie sieht in der Behauptung einer Authentizität die Strategie, ein moralisches Recht auf Stadt zu beanspruchen, um einen Stadtraum zu benutzen, zu bewohnen und zu gestalten. Die Erfindung authentischer städtischer Orte ist für sie eng verbunden mit der wachsenden Konkurrenz um die Nutzung der Stadt. Die faktische Macht, die eigenen Interessen an einem Ort durchzusetzen, geht dabei immer auch einher mit dem Anspruch auf eine moralische Rechtfertigung für die eigene Dominanz. Retrospektive und aktive Formen der Authentizitätsbehauptung versteht Zukin als gegensätzliche Strategien von unterschiedlichen Gruppen mit oft unvereinbaren Interessen.

Veränderungsdruck einer Touristification urbaner Milieus

Im beschriebenen Städte-Tourismus überlagern sich jedoch beide Formen in paradoxer Weise: Wenn die ursprüngliche Authentizität eines Viertels als täglich erfüllte Erwartung verstanden wird, dass die Nachbarinnen und Nachbarn, die Gebäude und Geschäfte, die mich heute umgeben, auch morgen noch hier sind, dann ist es gerade der Tourismus, der diese Erwartungen immer wieder aufs Neue zerstört. Die Anpassung der gastronomischen Angebote an die touristische Nachfrage, die Verdrängung von Langzeitbewohnern für das lukrative Geschäft mit den Ferienwohnungen und auch die Verwandlung von Wohnstraßen in Party-Zonen stehen für den drastischen Veränderungsdruck einer Touristification von Nachbarschaften.

Doch auch das Erlebnis der aktiven Stadtentdeckung selbst erweist sich angesichts der schnell wachsenden Tourismus-Cluster als ein Simulacrum der Authentizität. So gehört es an schönen Tagen in Istanbul mittlerweile zu den größten Herausforderungen, überhaupt ein Fotomotiv der historischen Fassaden und authentischen Nachbarschaften ohne einen anderen touristischen Entdecker mit großer Kamera ins Bild zu bekommen. In den aufgewerteten Favelas von Rio haben ausgerechnet die Alternativ-Touristen mit ihrer Erwartung an bargeldlose Bezahlmöglichkeiten die Formalisierung der lokalen Geschäfte forciert und gefährden damit die, auf Informalität beruhende, Existenz vieler Bewohnerinnen. In Kreuzberg und Neukölln bestärken sich dänische Erasmusstudierende und spanische Kreative in von irischen Aussteigern betriebenen Bars gegenseitig in ihren Lobpreisungen über das ach so spezielle Berlin-Feeling. Im La-Rambla-Effekt findet diese touristische Simulation der Authentizität ihren vorläufigen Zenit: In der touristisch überformten Straße im Zentrum Barcelonas reduziert sich die Rolle der Einheimischen inzwischen auf Händlerinnen, Schausteller und Taschendiebe.

In Barcelona, aber auch in Berlin und anderen Städten haben sich in den letzten Jahren Protestbewegungen zu Wort gemeldet, die sich einer solchen Touristification ihrer Städte entgegenstellen. In öffentlichen Diskursen wurden diese tourismuskritischen Bewegungen schnell in die Nähe von Fremdenfeindlichkeit und Zukunftsverweigerung gestellt. Doch im Kern verteidigen sie genau die Stadt, die der Städte-Tourismus für sich entdecken wollte.

Der Autor: Dr. phil. Andrej Holm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gentrification, Wohnungspolitik im internationalen Vergleich und Europäische Stadtpolitik.

Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Ausstellung „Künstlertourist: Urban Views", die vom 17. April bis 6. September 2015 in der Galerie der Schader-Stiftung gezeigt wurde.

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