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Alte Bilder und neue Territorien

Artikel vom 07.09.2009

Christina Kratzenberg: Schöngartenstraße – Asylsuchende in Deutschland, 2005, Copyright Christina Kratzenberg

„Fremdheit“ ist in Deutschland eine gängige Erklärung für Probleme in der Einwanderungsgesellschaft. Die Bilder sowohl vom Eigenen als auch vom Anderen sind hoffnungslos antiquiert. In der Zukunft wird es darum gehen, die seltsamen neuen Territorien vorsichtig zu sondieren und neue Bilder zu erfinden; Bilder, die von Nachbarschaft handeln und frischen Identifikationen, aber auch von Konflikt. Von Mark Terkessidis

Stereotype Bilder von „Fremdheit“

Eine „Kopftuch-Studentin“ der Erziehungswissenschaften erzählte einmal, dass sie stets erstaunt angeschaut wird, sobald sie zu sprechen beginnt. Denn akzentfreies, elaboriertes Deutsch, meinte sie, das sei nun wirklich nicht das, was die Leute erwarten würden – vielmehr ein irgendwie kaputtes Radebrechen. Das Staunen der (einheimischen) Betrachter ist ein interessantes Phänomen. Die Verwirrung entsteht, weil aus dem stereotypen Bild „Frau mit Kopftuch“ plötzlich ein Individuum heraustritt. Besagtes Bild illustriert oftmals Medienberichte zum Thema Einwanderung und so manches Mal geht es auch leibhaftig auf der Straße vorüber. Die Bedeutung dieses Bildes scheint unmittelbar präsent. Die „Frau mit Kopftuch“ verkörpert eine fremde Tradition; eine Tradition zudem, die sich verhüllt und dadurch undurchdringlich und rätselhaft wirkt. Die Person im Kopftuch verliert sich dabei im Hintergrund, sie wird schemenhaft. Wenn diese Person jedoch plötzlich zu sprechen anfängt und sich durch ihre Beherrschung der Sprache auch noch als eine von „uns“ zu erkennen gibt, dann löst das Befremden aus. Die Betrachter erkennen jäh ein Gesicht; in der Verhüllung zeigt sich ein Gegenüber. Auf verstörende Weise wird ein Individuum sichtbar, eines zudem, dass die geltenden Kategorien durcheinander wirbelt. Denn diese Person ist weder so fremd, wie „wir“ gedacht haben noch gehört sie einfach zu „uns“. Tatsächlich ist es nicht leicht, sich ein Bild von Menschen mit Migrationshintergrund zu machen.

Nun ist „Fremdheit“ in Deutschland eine gängige Erklärung für Probleme und Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft: Es klappt so manches Mal noch nicht mit dem Zusammenleben, heißt es, weil die Fremden „uns“ eben nicht vertraut sind. Doch das Beispiel oben zeigt, dass die sogenannten Fremden eigentlich wohlbekannt sind. Oftmals brauchen „wir“ nur bestimmte Signale – Aussehen, Akzent, kulturelle Accessoirs – und sogleich wissen „wir“ bereits alles über die Traditionalität der Muslime, die Gastfreundschaft der Griechen, die Gewalttätigkeit der Kosovaren, die krummen Geschäfte der Roma oder das Trinkverhalten der Russen. Tatsächlich fallen Menschen mit Einwanderungshintergrund häufig so lange nicht auf, wie sie dem (Klischee-)Bild ihrer „Fremdheit“ entsprechen. ““

Verweigerung gegenüber der Realität

Wenn sie sich allerdings als Deutsche definieren, dann sind sie gleich mit Vorstellungen darüber konfrontiert, welche Voraussetzungen man da mitbringen muss und wie man sich bei „uns“ zu benehmen hat. In den ersten verbindlichen Einbürgungsrichtlinien von 1977 definierte der Gesetzgeber die relevanten Kriterien der Mitgliedschaft in der Bundesrepublik durch die „Bejahung“ der deutschen Kultur und die „Einordnung“ in die „deutschen Lebensverhältnisse“. Dabei wurde „deutsch“ schlicht mit Wohlverhalten gleichgesetzt, was mit den Verhältnissen am Ende der 1970er Jahre kaum in Einklang zu bringen war. In einer Studie über „Deutsch-Sein“ stellte der Ethnologe Jens Schneider 2001 fest, dass „deutsch“ heute immer noch in Verbindung gebracht wird mit Organisationstalent, Ordnung, Fleiß, Zuverlässigkeit und romantischer Tiefe. Nun machen ein Streifzug durch die Hauptstadt, ein Termin mit einem Handwerker oder eine Fahrt mit Deutschen Bahn schnell klar, dass diese Eigenschaften mit dem richtigen Leben nicht viel zu tun haben. Und so konnte Schneider zeigen, dass die Einheimischen selbst ihre vielfältigen Erfahrungen und Lebensweisen im herrschenden Begriff von „Deutsch-Sein“ nicht mehr unterzubringen wissen.
 
In der Bundesrepublik sind sowohl die Bilder vom Eigenen als auch vom Anderen hoffnungslos antiquiert. Tatsächlich sind diese Bilder das Überbleibsel einer Jahrzehnte währenden Verweigerung gegenüber der Realität. Erst im Jahre 1998 hat zum ersten Mal eine Regierung von Deutschland als Einwanderungsland gesprochen – das war ganze 43 Jahre nach dem ersten Anwerbevertrag für Arbeitskräfte mit Italien. Zuvor wurde die Präsenz von „Ausländern“ als vorübergehend angesehen. Noch heute besitzt ein Großteil der Einwanderer nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, wenngleich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei 17,7 Jahren liegt. Obwohl diese Personen bereits seit Jahrzehnten ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, werden sie durch eine Sondergesetzgebung verwaltet, das sogenannte Ausländergesetz. Das zäh verlängerte Provisorium hat eine gesellschaftliche Gruppe hervorgebracht, die anwesend und abwesend zugleich ist.

Dadurch ist auch eine seltsame Dialektik von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit entstanden. Denn auf der einen Seite blieben die Einwanderer völlig transparent: Sie waren als Nicht-Bürger im politischen Leben der Bundesrepublik nicht repräsentiert und hatten auch kaum Einfluss auf ihre Darstellung in der Öffentlichkeit. Im Grunde wurden „Ausländer“ bloß verwaltet, was auf der anderen Seite zu einer enorm erhöhten Sichtbarkeit führte: Die staatlichen Stellen registrierten im Sinne einer reibungslosen Administration vornehmlich Auffälligkeiten, in den Medien kamen Migranten zumeist als Abweichung vor; und auch im Alltag wurden sie ständig als „Fremde“ identifiziert. Aktuell gilt die Bezeichnung „mit Migrationshintergrund“ als Synonym für Probleme: mangelnde Sprachbeherrschung, familiäre und ethnische Abschottung, Fundamentalismus.

Die Suche nach einem anderen „Wir“

Seit 1998 lässt sich eine Auflösung der starren Bilder vom Eigenen und Anderen beobachten, doch die strikte und normativ aufgeladene Trennung zwischen „deutsch“ und „fremd“ ist weiterhin von erheblicher Virulenz. Die teilweise schrillen Töne in der jüngeren Debatte über Integration rühren nicht zuletzt daher, dass die Menschen mit Migrationshintergrund sich den herrschenden Bildern und den einfachen Kategorisierungen entziehen. Sie bringen, wie der britische Literaturwissenschaftler Homi Bhabha schrieb, die herkömmlichen Ideen von Identität ins Wanken – sie bewohnen einen „dritten Raum“. Der Blick des Anderen ist für die Entwicklung der Subjektivität eines jeden Menschen relevant. Da dieser Blick aber im Falle der Einwanderer immer wieder nur das Klischee fixieren will, entfaltet sich deren Subjektivität in einem ständigen Vermitteln zwischen der Anpassung an das (Klischee-)Bild und seinem Hinterfragen. Dabei – das hat das Beispiel zu Beginn gezeigt – sprechen die Personen mit Migrationshintergrund nicht von dem Ort aus, an dem sie gesehen werden. Diese Differenz schafft einen neuen Raum. In diesem Raum herrscht keine Harmonie, sondern hier überlagern sich vielfältige Bilder, Sprachen und Diskurse. Hier fließt das Magma einer anderen, einer affektiven Rationalität, die Ambivalenz nicht als zu korrigierenden Zustand betrachtet, sondern als selbstverständlichen Ausgangspunkt.

In einem zu Unrecht weitgehend ignorierten Film des türkisch-deutschen Filmemachers Hussi Kutlucan aus dem Jahre 1998 mit dem Titel Ich Chef, Du Turnschuh verbirgt sich der Protagonist, ein armenischer Asylbewerber, vor einem lautstark nach der Miete verlangenden Hauseigentümer in einem Schrank. Als er hinaustritt, fragt ihn der Vermieter, was er denn im Schrank gemacht habe. Darauf antwortet er: „Ich habe gebetet. In meiner Religion betet man im Dunkeln.“ Dem Hausherrn leuchtet diese absurde Erklärung sofort ein. Tatsächlich nimmt man in Deutschland an, dass die Artikulationen von „Fremden“ sich von dem ableiten, was sich in jenem Schrank verbirgt – eine Art ethnische Essenz. Doch tatsächlich liegt sein Inhalt im Dunkeln, und häufig handelt es sich um einen leeren Zufluchtsort vor den Zumutungen der Gesellschaft. Viel interessanter jedenfalls ist der Raum zwischen dem Dunkel und der Aussage des Protagonisten über „seine“ kulturelle Praxis.
 
Dieser paradoxe Raum der Einwanderer lässt sich nicht in einfache Bilder übersetzen. Die Verwirrung aber, die dadurch im einheimischen Blick auslöst wird, könnte eine produktive Unordnung auslösen. Sie ist eine Aufforderung, die alten Annahmen über das „Wir“ über Bord zu werfen und Ausschau zu halten nach einem anderen „Wir“. In der Zukunft wird es darum gehen, die seltsamen neuen Territorien vorsichtig zu sondieren und neue Bilder zu erfinden; Bilder, die von Nachbarschaft handeln und frischen Identifikationen, aber auch von Konflikt. Dabei würde ein wenig Humor sicher nicht schaden.

Der Autor: Dr. Mark Terkessidis, geboren 1966, ist Migrationsforscher und Publizist.

Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Ausstellung „verborgen : gesehen. Bilder gesellschaftlichen Wandels 6“, die vom 31. Oktober 2009 bis 31. Januar 2010 in der Galerie der Schader-Stiftung stattfand. 

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