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Die Bürgerstadt

Artikel vom 25.08.2008

Foto: Pavel L Photo and Video / Shutterstock.com

Bürgerstadt - städtische Bürgergesellschaft - Stadtgesellschaft - am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main. Von Peter Lückemeier

Mein Thema ist etwas lapidar und zugleich weltumspannend: die Bürgerstadt

Vortrag anlässlich der Konferenz „Zuhause in der Stadt“ am 17. und 18. Juni 2008 in Darmstadt

Ich stelle mich kurz vor: Mein Name ist Peter Lückemeier. Ich habe einen schrecklich langweiligen Lebenslauf: Ich wollte immer Journalist werden und bin es auch geworden. Seit 28 Jahren bin ich Lokalredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und seit achtzehn Jahren dort gemeinsam mit einem Kollegen Leiter dieser Lokalredaktion. Nur nebenbei: Lokaljournalismus ist für mich die schönste Form des Journalismus. Jedenfalls, wenn man ihn unter drei Bedingungen betreiben kann: Unabhängigkeit von Anzeigeneinfluss, Verzicht auf Vereinsberichterstattung und interessanter Standort.

Alle drei Voraussetzungen treffen für meine Arbeit zu. Frankfurt ist für mich ein solcher idealer Standort: klein genug, um ihn in den Griff zu kriegen, groß genug, um immer genügend interessanten Stoff zur Berichterstattung und Kommentierung abzugeben.

Meine Damen und Herren, ich werde in meinem Vortrag natürlich auch über das  sprechen, wovon ich am meisten verstehe, von Lokaljournalismus also, und ich werde wie ein Lokaljournalist vorgehen, das heißt, ich komme vom Besonderen zum Allgemeinen. Ich werde Ihnen ein paar Szenen schildern, ich werde daraus einige Thesen ableiten. Meine Hauptthese schenke ich Ihnen schon jetzt. Sie lautet:

Die Bürgerstadt ist aus vielerlei Gründen gefährdet.

Alle vier Szenen, die ich Ihnen jetzt schildere, haben sich kürzlich abgespielt, im Mai und im Juni 2008.

Sonntag, 4. Mai, Paulskirche. In der Wiege der deutschen Demokratie bekommt Alice Schwarzer den Börne-Preis. Laudator ist Harald Schmidt, der eine witzige und kluge Rede hält. Darauf kommt es aber jetzt nicht an. Wir fragen uns: Wer ist gekommen? Wer nimmt sich an einem Sonntag um 11 Uhr Zeit für einen Festakt in der Paulskirche? Es sind Viele. Es ist ein intelligentes, lachbereites, weitgehend feingemachtes, eher älteres Publikum mit ein paar jungen Einsprengseln. Ich würde nicht zögern, bei diesem Publikum von „Bürgerstadt“ und „Stadtgesellschaft“ zu sprechen. Was dies bedeutet – darauf kommen wir noch näher. Aber ein erstes definitorisches Merkmal hätten wir an diesem Beispiel schon gefunden. Die Bürgerstadt handelt. Sie ist partizipatorisch. Sie ist an einem Sonntag pünktlich und gewaschen und irgendwie wachsam bereit für intelligente Reden an Ort und Stelle. Die Bürgergesellschaft wird nach diesem Festakt Gesprächsstoff haben. Aber solch ein Gesprächsstoff ist noch lange kein  Stadtgespräch.

Samstag, 31. Mai, Sheraton Hotel am Flughafen. Hier beginnt gerade der Pink Tie Ball. Pink Tie, die rosa Krawatte zum gedeckten Anzug oder die rosa Fliege zum Smoking, ist das Erkennungszeichen von Komen e.V. So heißt der Verein, der über Brustkrebs informiert und ihn durch Unterstützung von Forschung bekämpft. Erlös durch Tombola, stille Versteigerung und Eintritt an diesem Abend: mehr als 500.000 Euro. Das ist für einen ehrenamtlich organisierten Ball geradezu sensationell. Unter den Gästen viele zahlungsfähige, zahlungsbereite Menschen. Klar, hier tanzt die Oberschicht, aber sie tanzt munter. Sarah Connor als Stargast kriegt die Leute kaum noch von der Tanzfläche. Sie verzichtet übrigens für den guten Zweck auf ein Honorar. So wie alle Damen – es sind nur Damen – vom Organisationskomitee, die ehrenamtlich diesen Ball sozusagen von Hand gemacht haben: Sponsoren gesucht, Band ausgesucht, Lose besorgt, das Sheraton becirct, Essen und Wein kostenlos herzugeben. Wer je einen Ball vorbereitet hat, glaubt aufs Wort, dass solche Vorbereitungen tatsächlich fast ein Jahr währen.

Aber wer tanzt jetzt hier, wer hat hier organisiert? Ich würde gern sagen, es sei die Bürgerstadt, aber zumindest im buchstäblichen Sinne des Wortes trifft dieser Begriff hier kaum zu. Ich schätze, dass die allermeisten dieser besser verdienenden Gäste gar nicht in Frankfurt wohnen, sondern im sogenannten Umland, in Königstein, Kronberg, in Bad Soden, in Hofheim, vielleicht noch in der Wetterau oder Wiesbaden. Frankfurt produziert seine Bürgerstadt weitgehend außerhalb seiner Stadtgrenze. Man könnte auch sagen: Frankfurt lässt seine Bürgerstadt gar nicht in die Stadt hinein, denn es mangelt an gehobenem Wohnraum. Die meisten, die auf sich halten, ziehen in den Speckgürtel. Auch darauf kommen wir noch. Nächste Szene.

Sonntag, 1. Juni, Opernhaus, Premiere von Fidelio. Längst nicht mehr ist das Schauspiel in Frankfurt ein Mittelpunkt der Stadt, ein urbaner Kristallisationspunkt kluger Diskussion. Seit einigen Jahren nimmt die Oper diese Rolle ein. Man darf sie getrost als eines der geistigen Zentren Frankfurts beschreiben. Vor allem zu den Premieren findet sich regelmäßig eine intelligente Zuhörerschaft ein, ganz unterschiedlich gekleidet, von fein bis lässig, ein sachkundiges, urbanes Publikum, das weder mit Bravos noch mit Buhs geizt. Die Bravo-Rufe aber überwiegen, das Haus war mehr als einmal „Oper des Jahres“. Das Publikum hier tut etwas, das das Publikum sonst selten tut: Es redet sogar in der Pause über das Geschehen auf der Opernbühne, es spricht über den aktuellen Konflikt zwischen Intendant  und Dirigent, es spricht über die Inszenierung, die allgemein als zu statisch empfunden wird, über die musikalische Leistung, die alle großartig finden.

So stellt man sich die Stadtgesellschaft einer Bürgerstadt vor. Aber auch hier gilt der Begriff im übergeordneten, nicht im unmittelbaren Sinne: Das Premierenpublikum dürfte nur in der Minderheit aus Frankfurt stammen. Die Mehrheit ist abermals aus dem Speckgürtel hergekommen, aus dem Hochtaunus- und Main-Taunus-Kreis, aus dem Kreis Offenbach, kurzum von überall her, wo es sich gut wohnen lässt, wenn  man es sich leisten kann. Mit drei Einschränkungen: Die Wiesbadener, die Mainzer und die Darmstädter besuchen die Frankfurter Oper eher selten. Sie haben ihre eigenen Opernhäuser und ihren Stolz. Lokalpatriotismus ist im Rhein-Main-Gebiet ein verbreitetes Phänomen.

Vierte und letzte Szene. Sonntag. 8. Juni, eine Stadtvilla in Frankfurt.
Sonnenschein, ein wunderschönes Haus mit großem Garten. Eine junge angesehene Familie lädt zum Frühstück, gekommen sind sicherlich 150 Gäste, es können auch mehr sein. Sie bedienen sich am Frühstücks-Büffett, stellen sich auf dem Rasen an Stehtischen zueinander, nehmen an den Tischen rund um die Hecke Platz. Die Oberbürgermeisterin ist auch da, viele Kulturschaffende sind gekommen, Anwälte, Intendanten, Museumsdirektoren, Lokalpolitiker, bildende Künstler, ein buntes Frankfurter Allerlei, die meisten dürften tatsächlich aus der Stadt kommen. Wollen die Gastgeber Blumen und Bücher als kleine Gastgeschenke? Nein, Sie haben um Spenden gebeten fürs Literaturhaus.

Womit wir bei einem weiteren Bestimmungsmerkmal der Bürgerstadt sind: Frankfurt hat eine lange Geschichte bürgerlicher Beteiligung an den städtischen Dingen. Der Zoo geht auf eine bürgerliche Gründung zurück, der Palmengarten, die Goethe-Universität. Frankfurt hat in dieser bürgerlichen Stiftungstradition gelitten durch den Untergang des jüdischen Kosmos, aber die Tradition ist noch heute lebendig. Erst vor kurzem kam die Universität in den Genuss einer Erbschaft von 33 Millionen Euro. Und bei der Stiftung Polytechnische Gesellschaft ging ein Anruf ein; ein Spender, der anonym bleiben will, bot 1,3 Millionen Euro an. Das Städel-Museum wurde renoviert mithilfe einiger Großspender, aber eben auch durch die Unterstützung vieler Bürger durch kleine Spenden. Diese Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen.

Meine Damen und Herren kommen wir jetzt vom Besonderen zum Allgemeinen. Schauen wir noch einmal auf diese Szenen und fragen wir uns: Was genau lässt sich aus ihnen über die Bürgerstadt sagen?

Bleiben wir zunächst einmal ganz stofflich und sozusagen topographisch. Dann lässt sich an der ersten These nicht zweifeln. Meine erste These lautet:

Wohnort und Wirkungsort fallen zunehmend auseinander.

Die Bürgerstadt lässt sich nicht mehr nach Wohnsitz definieren. Das bedeutet: Zur Bürgerstadt zugehörig fühlen sich Menschen, die gar nicht in der Stadt wohnen. Die alte These, nichts interessiere die Menschen mehr, als der Ort, an dem sie leben, stimmt nicht mehr.

Denn „Wohnen“ bedeutet in Ballungsräumen nicht mehr automatisch auch „Leben“. Im Gegenteil: Ballungsräume wie das Rhein-Main-Gebiet definieren sich eben dadurch, dass sich oft genug Wohnort und Wirkungsort unterscheiden. Ganz praktisch: Als Manager der Deutschen Bank lebe ich zwar sehr angenehm in Oberursel oder Bad Homburg, ich schätze auch die dortigen Schulen für meine Kinder, aber mein Interesse gilt Frankfurt, meinem Wirkungsort, dem Ort, an dem ich arbeite, an dem ich im Rotary Club bin, wo ich im IHK-Ausschuss meiner Branche sitze und im Vorstand des Fördervereins des Museums für Angewandte Kunst und wo ich die Oper und den Mousonturm besuche.

Ich denke, ähnliche Konflikte zwischen Wohn- und Wirkungsort wird es auch in Köln oder Hannover geben, in Frankfurt scheinen sie mir aber ausgeprägter zu sein.

Meine Damen und Herren, in allen vier geschilderten Szenen (der Oper, der Stadtvilla, beim Ball und in der Paulskirche) kommt eine Bürgergesellschaft zusammen, die sich mit folgenden Merkmalen beschreiben lässt: emanzipiert, teilhabend, engagiert, aufgeklärt und informiert. Alle diese Merkmale sind Merkmale der Oberschicht. Was mich zu meiner zweiten These bringt:

Die partizipatorische Bürgerstadt ist eine Oberschichtenveranstaltung.

„Oberschicht“ darf dabei nicht platt als Kaste der Reichen beschrieben werden. Es handelt sich vielmehr auch oder zugleich um eine Bildungs- und Informationselite.

Was lässt sich noch aus den vier geschilderten Szenen weiter an Erkenntnissen gewinnen?

Zwei dieser Anlässe waren geschlossene Gesellschaften, nämlich das Frühstück in der Stadtvilla und der Ball. Aber Opernpremiere und Paulskirche waren offene Veranstaltungen. Jeder, der wollte und es rechtzeitig tat, konnte sich eine Karte für Fidelio kaufen (am Preis hätte es nicht scheitern müssen, die billigsten Opernkarten sind nicht viel teuerer als ein Kinoticket). Und in der Paulskirche waren nur die ersten drei Reihen für Ehrengäste reserviert, jedem hätte es frei gestanden, in die Paulskirche zu kommen und Bestandteil der Bürgerstadt zu werden.

Nun wissen Sie und ich aber, dass es eine Menge Menschen gibt, die sich noch immer nicht in die Oper, schon gar nicht in eine Premiere trauen. Das ist natürlich kein spezifisch Frankfurterisches Problem, aber es muss einem Sorgen machen, dass ein bestimmter Teil der Gesellschaft einen anderen, größeren Teil der Gesellschaft offensichtlich von Teilhabe abhält. Neben diesem überall zu beobachtenden Trend, beobachte ich in Frankfurt eine zunehmende VIP-Bändchen-Kultur – oder- unkultur. VIP-Bändchen bekommen Sie ums Handgelenk, damit Sie Zugang erhalten für Räume, die für die Normalos nicht zugänglich sind. Mit dem VIP-Bändchen kommen Sie in den VIP-Bereich, in den VIP-Raum, ins VIP-Festzelt. Das gilt im Stadion, in der Edel-Diskothek, beim Radrennen, bei der Premierenfeier oder bei der 200-Jahr-Feier der IHK. Nein, dort trugen Sie als Ehrengast kein VIP-Bändchen ums Handgelenk, sondern bekamen einen Zettel in die Hand gedrückt, ich zitiere: „Für den Festakt haben wir für Sie einen Platz reserviert. Für Gespräche, einen Imbiss und das Showprogramm haben wir für Sie als Treffpunkt die Tribüne gegenüber der Hauptbühne vorgesehen. Sie werden dorthin begleitet.“

Neben dem VIP-Bändchen-Phänomen gibt es die Vorher-und-Nachher-Kultur. Längst richtet sich der Ehrgeiz der Stadtgesellschaft nicht mehr darauf, in den ersten Reihen platziert zu werden. Nein, richtig zum Kreis der Auserwählten zählt man erst, wenn man vor dem Empfang zu einem Vorempfang und nach dem Empfang zu einem kleinen Essen in kleinem Kreise geladen wird.

Wie gesagt, dies ist keine singulär Frankfurterische Tendenz, ich könnte mir vorstellen, dass sie etwa in München noch stärker ausgeprägt ist, aber es ist keine gute Tendenz. Sie bringt mich zu meiner zweiten These:

Die Stadtgesellschaft läuft Gefahr, sich abzukapseln.


Ich komme damit unmittelbar zu meiner dritten These:

Die Vitalität einer Bürgerstadt ist von ihrer Informiertheit abhängig.

Meine Damen und Herren, eine Bürgerstadt, die über ihr Gemeinwesen  diskutiert, die über Kommunalwahlen und die Wahl des Oberbürgermeisters das Geschick der Stadt bestimmt, muss als Minimalbedingung informiert sein, muss bescheid wissen  über alles Wichtige in einer Stadt. Weder Internet, noch Lokalradio noch Stadtmagazine können derzeit dabei die regionale Abonnementzeitung in ihrer Geltungskraft überflügeln. Noch immer gilt in aller Regel die Lokalzeitung als Transporteur solcher Informationen. Die Lokalzeitung liefert die wichtigen Neuigkeiten, sie kommentiert sie aber auch, sie bietet also Orientierung. Sie nimmt auch das  scheinbar Kleine wahr, und vor allem bietet sie immer wieder die kleine Ewigkeit des Gedruckten, des Aufhebbaren, des Vorzeigbaren, des Wiedervorzeigbaren, schwarz auf weiß.

Aber die Zeitungen müssen wachsam auf ihre Verbreitung und ihren Einfluss achten. Nehmen wir wieder Frankfurt als Beispiel. Die Stadt gilt noch immer als Paradies der Zeitungsvielfalt. Frankfurt, heißt es, sei im Gegensatz zu vergleichbaren Städten wie Düsseldorf, Köln, Essen eine echte Zeitungsstadt, mit drei veritablen Titeln: der Frankfurter Neuen Presse, der Frankfurter Rundschau und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, alle drei mit ausgeprägten Lokal- und Regionalteilen. Überdies erscheint hier auch noch eine sehr ordentlich gemachte Regionalausgabe der Bild-Zeitung mit ausführlichem Lokalteil und es kommen etliche Anzeigenblätter mit redaktioneller Berichterstattung hinzu, außerdem ein Stadtmagazin. Hessischer Rundfunk und der erfolgreiche Privathörfunksender Radio FFH berichten, wenn nicht flächendeckend, so doch über die wichtigsten lokalen und regionalen Geschehnisse. Die Hessenschau ist überdies die erfolgreichste Fernsehsendung des HR.

Aber betrachten wir diesen Mythos „Zeitungsstadt“ einmal etwas genauer: Frankfurt hat rund 650.000 Einwohner. Die drei Tageszeitungen bringen es aber – in der Stadt – auf eine geschätzte Gesamtauflage von 100.000 Exemplaren.

Woran liegt das? Zum einen sicherlich am überdurchschnittlich hohen Frankfurter Ausländeranteil von rund 30 Prozent, von denen viele, nicht alle, als Leser wegfallen. Sie lesen entweder gar keine Zeitung oder Blätter in ihrer Landessprache.

Ein weiterer Grund liegt sicherlich an dem Umstand, dass Frankfurt überdurchschnittlich viele junge Singles anzieht, die hier ihre Karriere beginnen. Deren Interesse an lokaler Information wird in der Regel durchs Kinoprogramm und eine Liste guter Restaurants gedeckt, sie brauchen keine Lokalzeitung, ein vierzehntägiges Stadtmagazin oder das Internet reichen da völlig.

Das Internet ist ein Grund für junge Leute, auf Zeitungslektüre verzichten zu können. Was sie an bunten Geschichten interessiert und was sie an Veranstaltungstipps brauchen, beziehen sie schnell und sicher aus dem Internet.

Und schließlich machen wir Zeitungen gewiss auch selber Einiges falsch.

Zu diesen Fehlern zählt sicherlich, dass sich Regionalzeitungen in Ballungsgebieten nicht genügend darauf einstellen, was ich in meiner ersten These beschrieben habe:

Wohnort und Wirkungsort fallen auseinander. Der Wohnort ist nicht mehr automatisch Objekt des größten Interesses. Es gibt heute in Ballungsräumen wie dem Rhein-Main-Gebiet so etwas wie einen Stadt-Land-Bürger. Er lebt klassischerweise auf dem Land, arbeitet in der Stadt, nutzt die Freizeitmöglichkeiten auf dem Land wie in der Stadt, ist möglicherweise aber an der Stadt mehr interessiert als am Land.

Meine nächste These lautet deshalb:

Regionalzeitungen müssen sich stärker als bisher auf die Bedürfnisse des Stadt-Land-Bürgers einstellen.

Regionalzeitungen haben da heute also einen Spagat zu üben: Eine große Zahl von Lesern in den eher ländlich strukturierten Gegenden ist fast ausschließlich am Wohnort interessiert und möchte darüber so viel wie möglich erfahren. Eine andere Gruppe, die m.E. immer größer wird, interessiert sich mindestens so intensiv für die Metropole, in der sie arbeitet, wie für den Ort, an dem sie lebt.

Konkret: Ich lebe in Hofheim am Taunus, ich arbeite in Frankfurt. Ich interessiere mich als Privatmensch und Leser mindestens so viel für Frankfurt wie für Hofheim. Meine Abonnements-Zeitung ist das „Höchster Kreisblatt“. Daraus erfahre ich für meinen Geschmack zu wenig über Hofheim, viel zu viel über alle anderen Orte des Kreises, zu wenig über die Kreispolitik und viel zu wenig über Frankfurt.

Im Lokalteil der F.A.Z. versuchen wir ein anderes Konzept. Aber ehe ich Ihnen das erkläre, will ich Ihnen kurz einen Schiffbruch schildern, den wir im F.A.Z.-Regionalteil vor einigen Jahren erlitten. Sie können sich vorstellen, dass wir uns natürlich dauernd fragen, wie wir unsere Zeitung attraktiver machen können, und so kamen wir eines Tages auf Wechselseiten.

Was sind Wechselseiten? Sie haben die identische Anzeige, werden aber mit unterschiedlichen Inhalten in verschiedene Gebieten ausgeliefert. Wir sammelten also in der ersten Form die Berichterstattung aus Südhessen und wechselten sie in der zweiten Seite gegen Nachrichten aus Wetterau und Main-Kinzig-Kreis und stellten dann auf der dritten Seitenform für die Leser im übrigen Gebiet Nachrichten und Berichte aus Hessen. Der Vorteil sollte sein: Die Leser in Südhessen und die in Wetterau und Main-Kinzig finden ihre Berichterstattung geballt und vermehr auf ihrer Seite. Wir dachten, die Leser würden darüber erfreut sein.

Das Gegenteil war der Fall: Denn Leser aus Südhessen erfuhren nichts mehr über Wetterau/Main-Kinzig. Und Leser aus Wetterau/Main-Kinzig erfuhren nichts mehr über Südhessen. Und beide erfuhren nichts mehr über Hessen. Wir hatten also unser Prinzip „Das Wichtigste für alle“ verraten. Und am schlimmsten war dabei Folgendes. Nehmen Sie an, wir hatten über einen interessanten, verdienten Menschen aus Darmstadt ein Porträt geschrieben, das auf der Wechselseite erschien. Und dieser Darmstädter Leser fuhr an seinen Arbeitsplatz, sagen wir: in der Commerzbank, und sagte erwartungsfroh zu seinem Kollegen aus der Wetterau, von dem er wusste, dass auch er F.A.Z.-Leser war: „Na, hast du den Artikel über mich in der F.A.Z. gelesen?“ – dann verstand der nur Bahnhof. Kurzum, die Wechselseiten waren keine gute Idee.

Zurück zu unserem Konzept: Wir berichten in unserer Rhein-Main-Zeitung, die der F.A.Z. beiliegt, also nicht nur über eine Stadt, über einen Landkreis, sondern über die vier hessischen Großstädte Frankfurt, Wiesbaden, Darmstadt und Offenbach, bundeslandübergreifend auch über Mainz und Aschaffenburg, ferner über die acht Landkreise rings um Frankfurt. Natürlich spielt die Musik in unserer Region in Frankfurt, natürlich steht die Stadt im Mittelpunkt unserer Berichterstattung. Aber Rhein-Main ist zugleich polyzentrisch, die Region ist unglaublich vielgestaltig, heterogen und hochinteressant. Und deshalb ist es unser Ehrgeiz, an jedem Tag das Wichtigste aus diesem ganzen Gebiet zu berichten. Vor- und Nachteil liegen bei diesem Konzept auf der Hand. Das Informationsbedürfnis des Einwohners von Darmstadt, Rüdesheim, Hanau oder Friedberg an seinem Wohnort können wir nie zur Genüge befriedigen.

Aber wir bieten dem interessierten Leser das Wichtigste aus einem großen Ballungsgebiet, wir ersetzen sozusagen die Lektüre von rund 15 einzelnen Regionalblättern. Wir tragen damit den vielfältigen Interdependenzen Rechnung, die es in einem Ballungsraum gibt. Wer also in Frankfurt arbeitet, in  Bad Vilbel wohnt, wer ein Abo hat in der Frankfurter Alten Oper und ins Ballett nach Wiesbaden fährt, wer sich  für die Museen am Frankfurter Museumsufer und die Darmstädter Mathildenhöhe interessiert und sich für die Spiele der Offenbacher Kickers und der Opel Skyliners begeistert – der wird über alle diese Ereignisse und Institutionen aus dem F.A.Z.-Regionalteil informiert. Dennoch sind es gerade einmal rund 85.000 Menschen, die dieses Angebot wahrnehmen, abonnieren und bezahlen.

Meine Damen und Herren, die Bürgergesellschaft, die Bürgerstadt nähert sich ohnehin der kleinen Zahl. Vereine klagen nicht über die Nutzung ihrer Angebote, aber doch über die immer geringer werdende Zahl derer, die sich im Verein aktiv engagieren. Die Zahl der Mitglieder in Parteien sinkt genau so wie das Alter der Konzertbesucher steigt. Drastisch und besorgniserregend sinkt auch das vornehmste Instrument bürgerlicher Partizipation, die Wahlbeteiligung. Dies ist der stärkste Indikator für die Gefährdung der Bürgerstadt.

Gewiss, die Bürger haben, seitdem es in Deutschland freie Wahlen gibt, immer differenziert. Die Hitparade der bürgerlichen Beteiligung geht von der Nr. 1, der Bundestagswahl, allmählich über Landtagswahl und Kommunalwahl zurück und endet bei der unpopulärsten, der Europawahl. Bei den Direktwahlen von Bürgermeistern und  Oberbürgermeistern, die in Hessen 1992 eingeführt wurde, lässt sich grob die Regel aufstellen: je kleiner der Ort, desto höher die Wahlbeteiligung. Die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth war 1995 zum ersten Mal bei einer Wahlbeteiligung von 56 Prozent gewählt worden. Sechs Jahre später lag sie bei 46 Prozent, Nach weiteren sechs Jahren bei nur noch 33 Prozent.

Meine Damen und Herren, wie soll man in einer Großstadt, in der zwei Dritteln der Wahlberechtigten die Bestimmung ihres  Stadtoberhaupts gleichgültig ist – wie soll man da noch von einer Stadtgesellschaft, von einer Bürgerstadt sprechen?

Ich komme damit zu meiner letzten These:

Es gibt kein Stadtgespräch mehr.

Ohne in allgemeinen Kulturpessimismus zu verfallen, müssen wir lernen, bestimmten eingeübten Begriffen zu misstrauen. Als ich eingangs von der Fidelio-Premiere in der Oper sprach, hätte ich beinahe gesagt, der Zwist zwischen Intendant und Dirigent sei Stadtgespräch gewesen. „Stadtgespräch“ aber scheint mir ein unglaublich unzutreffendes Wort geworden zu sein. Damit etwas tatsächlich eine ganze Großstadt als Gesprächsstoff erfasst, muss schon viel passieren. Denn es muss ja alle bewegen, alle interessieren, die Menschen, die sonntags um 11 in die Paulskirche gehen und die, die im Traume nicht darauf kämen, die Ausländer, die Singles, die Reichen und die Hartz IV-Empfänger. Noch nicht einmal ein Abstieg der Eintracht in die zweite Bundesliga wäre noch ein echtes Stadtgespräch, weil sich viele Menschen halt für Fußball nicht interessieren.

Ich habe lange nachgedacht, wann überhaupt in den letzten 28 Jahren, die ich überblicken kann, etwas Stadtgespräch war. Die Studiengebühren? Nein. Da fehlt die allgemeine Betroffenheit. Die Kommunalwahl? Nein, dazu haben sich an ihr ja zu wenige beteiligt. Der Flohmarkt, der Neubau des Völkerkundemuseums, das Wiedererstehen der Frankfurter Altstadt? Nein, alles zu schwierig, da handelt es sich nur um das Stadtgespräch der Eingeweihten, derer also, die Zeitung lesen. Mir sind lediglich zwei Ereignisse eingefallen, die tatsächlich Gegenstand eines allgemeinen Gesprächs waren bei alt und jung, deutsch und nicht-deutsch, arm und reich. Das eine war die Entführung des kleinen Jakob von Metzler und der Versuch des stellvertretenden Polizeipräsidenten Daschner, dem Entführer das Versteck des Jungen  durch Drohung abzutrotzen. Das zweite war die Einführung des Rauchverbots in Lokalen per Gesetz. Dazu scheint wirklich jeder eine Meinung zu haben.

Nein, die Chance, dass es in einer Großstadt wie Frankfurt zu einem alle interessierenden Thema käme, die ist gering. Peter Sloterdijk hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Medien für die Nation keine geringe Rolle spielen, ich zitiere: „Es ist doch eine verblüffende Aufgabe, eine Gesellschaft von 80 Millionen Menschen so zu synchronisieren, dass diese glauben können, in einer gemeinsamen Wirklichkeit zu leben.“ Solche Synchronisation aber ist m.E. national leichter herzustellen als auf Stadtebene. Auf nationaler Ebene ist dafür das Fernsehen zuständig. Auf lokaler Ebene fehlt es an dem einen Medium, das diese gleichsam zentralistische Aufgabe übernehmen müsste.

Meine Damen und Herren, ich blicke noch einmal auf meine Thesen zurück. Sie lauten:

  • Die Bürgerstadt ist aus vielerlei Gründen gefährdet.
  • Die Bürgerstadt lässt sich nicht mehr nach Wohnsitz definieren.
  • Die partizipatorische Bürgerstadt ist eine Oberschichtenveranstaltung.
  • Die Stadtgesellschaft läuft Gefahr, sich abzukapseln.
  • Die Vitalität einer Bürgerstadt hängt an ihrer Informiertheit.
  • Regionalzeitungen müssen sich stärker als bisher auf die Bedürfnisse des Stadt-Land-Bürgers einstellen.
  • Und schließlich: Es gibt kein Stadtgespräch mehr.

Sie werden jetzt sicherlich fragen:

Wo, bitte, bleibt das Positive?

Vielleicht wäre es nützlich, einmal nicht zu fragen, was denen fehlt, die sich von der Bürgergesellschaft fernhalten, die bewusst oder unbewusst kein Teil der Bürgerstadt sein wollen. Sondern vielleicht wäre es produktiver, einmal diejenigen näher zu betrachten, die gern und bewusst Teil dieser aktiven Stadtgesellschaft sind. Die sich informieren aus allen offiziellen und informellen Quellen. Die Ehrenämter übernehmen. Die Geld spenden für öffentliche, auch für städtische Zwecke. Die mitreden, sich aufregen, die protestieren und anregen, die zur Wahl gehen.

Es sind doch die, die Freude haben an ihrem Leben, an ihrer Arbeit, an ihrer Stadt, sei sie nun Wohn- oder Wirkungsort. Und so kann zumindest die theoretische Antwort auf die Frage, wie man die Lust an der Bürgerstadt wiederbeleben könne, nur lauten: Wer immer die Bürgerstadt will, muss alles tun, um die Freude an der Partizipation zu steigern. Die Bürgergesellschaft darf sich nicht abschotten, die Zeitungen und natürlich alle anderen Medien müssen sich dem geänderten Nutzungsverhalten anpassen und attraktiver, auch einfacher, werden.

Und umgekehrt trägt zur Verdrossenheit an der Bürgerstadt sicherlich bei, dass sich eine größer werdende Zahl der Bürger nur noch als Einwohner fühlt. Je mehr Menschen das Gefühl haben, an Wohlstand, Wachstum und Entscheidungen keinen Anteil mehr zu haben, je mehr Menschen den Eindruck haben, es werde über ihren Kopf hinweg regiert, es bringe ja doch nichts, sich einzubringen, desto eher fühlen sie sich ausgegrenzt und reagieren darauf mit Partizipartionsabstinenz.

Ich weiß, das sagt sich recht leicht – die einen mitnehmen und bestätigen, die anderen nicht ausgrenzen und zur Teilhabe ermutigen. Ich weiß auch, dass der Fortschritt sich im Schneckentempo bewegt.  Reden hilft da gar nichts, nur Handeln.

Und es gibt durchaus solche praktischen, sehr konkreten Ansätze. Einen einzigen von vielen, die es allein in Frankfurt gibt, will ich nennen. Die Stiftung Polytechnische Gesellschaft hat Geld investiert in ein soziales Projekt, das sich „Stadtteilbotschafter“ nennt. 20 deutsche und ausländische junge Leute werden gefördert, die in ihrem Stadtteil etwas bewegen. Das kann die Gründung einer Theaterwerkstatt, eines Jugendtreffs oder einer Multi-Kulti-Küche sein. Die jungen Stadteilbotschafter werden bei ihren Projekten von der Stiftung begleitet, sie bekommen 4000 Euro, ein kleines Reisestipendium in Frankfurter Partnerstädte und werden in Grundqualifikationen wie Moderieren, Präsentieren oder Öffentlichkeitsarbeit geschult.

Dies ist gewiss nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber der richtige Ansatz, weil nicht lange herumgeredet, sondern gehandelt wird. Wer die Rückkehr zur partizipatorischen Bürgerstadt will, der kommt an solchen praktischen Projekten nicht vorbei. Nicht nur hier, aber vor allem hier gilt die Kästner’sche Maxime: Es gibt nicht Gutes, außer man tut es. Ich danke Ihnen.

Der Autor: Peter Lückemeier ist Leiter der Lokalredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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