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Bismarcks Fall 1890 und die Erfindung des deutschen Staatsschiffs

Artikel vom 15.05.2014

„Der Lotse geht von Bord“ als merkwürdiges Schiffs-Urbild der deutschen Politik: Wie Politikgeschichte, Ikonographie und politische Metaphern nachhaltig zusammenspielen - eine Bilder-Reise in einen Ausschnitt der deutschen Vergangenheit. Von Stephan Leibfried

Das „Staatsschiff“ als politische Metapher

Vortrag anlässlich der Verleihung des Schader-Preises am 15.05.2014

Vier Karikaturen vermessen den Aufstieg und Fall des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1918. (Bildergalerie Abb. 1) Zwei sind in Großbritannien und zwei in den USA entstanden, keines in Deutschland. Dennoch spielen zwei Bilder als Geburtshelfer der Metaphorik und die besondere Verwendung der deutschen Sprache eine große Rolle dabei, wie unser heutiges Bild vom Staatsschiff in Deutschland entstanden und zugeschnitten ist. Dieses Staatsbild hat sich als schlagkräftige politische Metapher erst im späten Kaiserreich auskristallisiert, und zwar in der gleichzeitigen Auseinandersetzung um nationale Einheit und „Weltgeltung“. „Reichsgewalt bedeutet Seegewalt“, so die Leitmaxime von Wilhelm II. (1859-1941).

Dieses Bild des Staatsschiffs hat in Sprache und Zeichnung bis heute in der Karikatur fortgewirkt, ohne dass wir uns an den Hintergrund noch erinnern. Weitergewirkt hat es im westdeutschen, zeichnerischen Blick auf die Wiedervereinigung 1989/1990, im gesamtdeutschen Blick auf die laufenden Verwerfungen der Europäischen Integration, im Blick auf aktuelle Personalien wie Angela Merkels Antritt als Kanzlerin 2005 („Lotsin, an Bord!“), Horst Köhlers Rücktritt 2010 oder Christian Wulffs Rücktritt 2012 – das Staatsschiff von 1890 hallt jeden Monat wieder im deutschen Bildgedächtnis nach. Sie finden es in der politischen Karikatur der Tagespresse immer wieder bei politischen Veränderungen vielerlei Art.

Wir Deutschen erinnern uns heute eigentlich nur an eine, unsere Ur-Zeichnung des Staatsschiffs, die von Sir John Tenniel1 (1820-1914),  „Der Lotse geht von Bord“, und daran erinnern wir uns inzwischen so, als sei es eine deutsche Karikatur gewesen. (Bildergalerie Abb. 2) Der „Flottenkaiser“ verabschiedet den bewährten Familienhelfer, den Reichsgründer Otto von Bismarck. Die Bildunterschrift wurde zum Sprichwort. Die Zeichnung deutet den am 22. März 1890 von Wilhelm II. bewirkten Rücktritt Bismarcks (1815-1898). Sie wurde in der 1841 gegründeten englischen Satirezeitschrift Punch auf zwei über DIN-A4-großen Seiten als Bildaufmacher veröffentlicht.

Das „Staatsschiff“ wurde zwar in vielen westlichen Ländern als politische Metapher oft, intensiv und nachhaltig verwendet. Seit dem 18. Jahrhundert geschieht das aber nicht mehr in Preußen und seit 1871 zunächst auch kaum im Deutschen Reich. Wie das?

Bei den westlichen Mächten finden wir das politische Bild schon früh und nachhaltig, meist über Jahrhunderte:

In Großbritannien – für Wilhelm II. das Land seiner gehassten Mutter, erst der Konkurrent, und dann der Gegner, der Feind – wurden mit dem Schiffsbild im 17. und 18. Jahrhundert die großen Probleme des nationalen Zusammenhalts des Königreichs angesprochen. Das geschah zunächst mit anglikanisch-staatskirchlichen Beiklängen, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wird es nur noch verdünnt genutzt, um den Zwei-Parteienkampf oder um militärische Vorgänge anzusprechen.2 

In den USA symbolisierte das Staatsschiff den neuen Zusammenhalt in der „Ausgründung“ gegen England und den stets gefährdeten neuen nationalen Zusammenhalt. Das Bild wurde im Vorfeld des US-Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 auch hoch sichtbar in der Lyrik verwendet: Das geschah schon 1849, als Henry Wordsworth Longfellow3 in dem Gedicht „The Building of the Ship“ vor dem aufkommenden Krieg warnte. Und dann geschah es 1865, als Walt Whitman auf die Ermordung Lincolns mit „O Captain! My Captain!“ antwortete. Das Staatsschiff stand aber auch in der Regierungszeit des skipper Franklin D. Roosevelt, vor allem im Zweiten Weltkrieg, hoch im Kurs.4 Das Bild reicht in den USA – verblassend – bis in die Jetztzeit hinein, bis in die Karikaturen von Präsident Obama oder bis nach Hollywood. Erinnern Sie sich noch an den Film Titanic? „I am the king of the world“, ruft Leonardo di Caprio, vorne, hoch auf dem Bug, 1997.

Auch die frührevolutionären Niederlande bauen ab 1572 auf diese, bei ihnen aber auch im 19. Jahrhundert verebbende Tradition. Allerdings waren hier das Staats- und das Kirchenschiff zunächst auf eine neue, calvinistische Weise wieder eins geworden. Das zeigt „Het Schip van Staat“ von Frans Schillemans, ein Stich anlässlich des Dordrechter Konzils der Reformierten von 1618/19. Dieses Konzil mündete unter anderem darin, dass Hugo Grotius (1583-1645), später einer der Urheber des Völkerrechts, als Häretiker – er war den Mehrheitscalvinisten zu tolerant – lebenslang eingekerkert werden sollte.5 Weil das 1621 durch seine Flucht aus der Festung Löwenstein scheiterte – er verbarg sich in einem für draußen bestimmten Bücherkasten –, kann Anne Peters noch heute auf seinen Büchern und Prämissen am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg aufbauen.

Nur in Frankreich dachte man auf altbewährte katholische Weise das Staats- immer zusammen mit dem Kirchenschiff, so dass daraus eine Metapher für das heilige Königtum wurde. Das zeigt das Gemälde von Peter Paul Rubens im Louvre aus den Jahren 1621 bis 1625: „Die Großjährigkeit Louis XIII.“ Allerdings ging dort die politische Metapher mit den alten königlichen Institutionen 1789 in der Französischen Revolution weitgehend unter, aber doch mit einigen militärischen Nachklängen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.6 Interessant jedoch: „Das Floß der Medusa“ von Théodore Géricault trat seit 1819 als staatsbezogene Katastrophen-Bild-Metapher an die Stelle des Staatsschiffs.

Lotse, Kapitän oder Steuermann?

Allein in Preußen finden wir nach dem Reformationszeitalter7 lange überhaupt nichts zum politischen Staatsschiff. Die Metapher taucht im allgemeinen Sprachgebrauch als zentrale politische erst wieder nach der Reichseinigung 1871 auf. Aber auch dann kristallisierte sie sich nicht sofort voll aus. Das geschieht erst ab 1890, langsam zunehmend, also nach Bismarcks Sturz, angestoßen durch die in Deutschland weit verbreitete englische Karikatur Tenniels. Aber, wie konnte das geschehen?

Preußen stieg als Landmacht auf. Es hatte Ambitionen zu Lande, keine zur See – das war britische Domäne. Und das sollte, so Friedrich der Große in seinem politischen Testament, auch unveränderlich sein. Für Preußens Elite gab es das Staatsschiff nur in einem Gedicht von Horaz, einer Komödie des Aristophanes oder im Bild vom Kirchenschiff, zurückreichend bis zur Arche Noah – oder eben in den politischen Selbstbebilderungen der konkurrierenden Nachbarstaaten. Das Staatsschiff war reines Bildungsgut oder nachbarliche politische Bildtradition, es war aber in Deutschland zunächst nicht zum politischen Gebrauch bestimmt.

Erst als Wilhelm II. wenige Jahre nach Bismarcks Entlassung den Flottenbau durchsetzte und das Reich als Seemacht gegen England in Stellung brachte, war das Klima für die umfassende Politisierung und breite Verwendung dieser Metapher auch in Deutschland reif geworden.

Zwar traf schon die Karikatur im Punch auf eine Situation, die von vielen im Aus- und Inland als bedrohlich und kriegsgefährdet empfunden wurde, und gab so den ersten Anstoß für die neue politische Sprachtradition. Aber erst die Konkretisierungen der Gefahr – im „Flottenkaiser“, der Umsetzung der Aufrüstung zur See, dem offenen Streben nach Weltgeltung gegen England – verankerten das Bild seit Mitte der 1890er Jahre nachhaltig im nationalen Bildgedächtnis.

Die Zeichnung Tenniels druckte die deutsche Presse vielfach nach und variierte sie immer wieder. Sie fand Eingang in Schulbücher, wurde selbst 1990 Gegenstand einer Ausstellung in Hannover8  und stieß bis heute hunderte von Nachfolge-Karikaturen in Deutschland an. Sie beziehen sich offen oder versteckt auf das Staatsschiff als politisches Bild von Einheit und/oder als Bild des Schutzes vor innerer und äußerer Gefahr. Das galt zunächst für Deutschland, dann aber auch für die Europäische Gemeinschaft: So besteigt Angela Merkel nach ihrer Wahl im November 2005 das EU-Staatsschiff von José Manuel Barroso, das in der Krise der Europäischen Verfassung auf Grund gelaufen war. „Lotsin, an Bord!“, in Europa, ruft ihr der Münchener Karikaturist Horst Haitzinger zu.9

Und welche inhaltlichen politischen Schatten wirft dieses Bild bis heute? Drei dieser Jahrhundertschatten will ich umreißen:

Der erste Schatten: Alle so Gezeichneten werden noch heute als „Lotsen“ gesehen, die an, von oder über Bord gehen, nicht etwa als Kapitäne oder Steuermänner. Das geschieht, obwohl John Tenniel mit pilot damals den „Steuermann“  Bismarck gemeint haben dürfte. Abstrakt gesehen lässt das Englische beide Deutungen zu. (Bildergalerie Abb. 3) Dass aber Steuermann gemeint war, zeigt Joseph Kepplers Karikatur zur Reichsgründung von 1871 – gleichzeitig überschrieben „Deutschlands größter Steuermann“ und untertitelt „The champion pilot of the age“. Sie dürfte Tenniel 1890 bei seiner Zeichnung ohnehin als Vorbild gedient haben, denn sie erschien im ersten Jahrgang des Puck Magazine, einem immer stärker werdenden Konkurrenten zum Punch – und der Blick in die USA war in London schon damals Pflicht. Das galt erst recht, als der Puck 1876 nach New York umzog und ausschließlich in englischer Sprache veröffentlicht wurde.10  Die gleichzeitig deutschen und englischen Titeleien von 1871 bis 76 verdanken sich dem Umstand, dass der Puck die europäische Satire in den USA einbürgern wollte. Die Zeitschrift wurde von deutschsprachigen Auswanderern zunächst für ihresgleichen und für Amerikaner gemacht.

Zurück zum Sprachbild: Wenn also ein Schiff auf hohe See ausläuft, dann macht es schon einen Unterschied, ob nur der Lotse nach getaner Arbeit oder gleich der Steuermann von Bord geht – und damit das Schiff führungslos im Wasser dahin treibt! So wurden nun in unserem kollektiven Gedächtnis alle zu „Lotsen“: Hindenburg, Otto Braun, Adenauer, Brandt, Schmidt, Kohl, Honecker, Genscher, Schröder, Stoiber, Merkel, die Bushs, Barroso, Obama, Köhler, Wulff11  und Gauck – immer wenn sie in der zeitgenössischen Karikatur an uns auf Staatsschiffen „vorbeigelotst“ werden.

„Der Lotse geht von Bord“? Das verniedlicht noch einmal und wirft einen zweiten Schatten bis heute: Bismarck ging nicht, er wurde vom gerade 31-jährigen Kaiser zwei Jahre nach der Krönung von Bord gegangen, nach 19 Jahren Kanzlerschaft und 28 – einmal unterbrochenen12  – Jahren im Amt des preußischen Ministerpräsidenten. Dropping, fallen lassen, drückt das deutlich aus. Insoweit könnte die preußische Zensur damals bei der Übersetzung leise die Feder mitgeführt haben – was bis heute unseren Sprachschatz prägt. Diese Zensur-Akten wären noch zu finden!

Wir verstehen daher dieses Bild heute in dem Sinne, dass Bismarck nach erfüllter Arbeit „als Lotse“ in den hochverdienten Ruhestand geschickt wird. Wir deuten es rentenpolitisch gewissermaßen als frühe, im Sachsenwald schon 1871 vorvergoldete „Rente mit 75“. Wir deuten es nicht als Charakterisierung einer Situation des Staatsstreichs und des gesamtpolitischen, gar weltpolitischen Kontrollverlusts, als Gefahrenlage fürs kontinentale Gleichgewicht.

Kontrastieren Sie noch einmal unsere deutsche Verrentungssicht mit der englischen Sicht: Dort deutete man 1890, also noch vor der Wilhelmschen Flottenpolitik, das Bild als Hinweis auf einen staatspolitischen Steuerungsverlust, als Heraufziehen einer Krisen- vielleicht gar einer Land-Kriegsgefahr unter einem „sprunghaften“, zum „persönlichen Regiment“ neigenden Kaiser, der von keiner berechenbaren, einem Gleichgewichtsdenken verpflichteten Vater-Führungsfigur mehr in Schach gehalten wurde. Die linke Hand Bismarcks hielt in dieser Sicht eine Kanonen-Pforte, eine „Stückpforte“, zu! Bismarck war weg, die Pforte konnte nun politisch leicht aufgestoßen werden..., es durfte wieder geschossen werden.

Wie unterschiedlich kann man denn ein Bild noch sehen?

Die tiefere politische Schicht dieser Geschichte vom Staatsschiff ist aber eine andere, und das ist der dritte Jahrhundertschatten, der den Kern des deutschen Staatsbilds erhellt: Das reichsdeutsche Staatsschiff ist eine Jacht, die Staatsjacht Hohenzollern I von Wilhelm II. Ihre Tennielsche Phantasieversion verlässt Bismarck 1890 auf dem Fallreep. Mangels Flotte und Flottentradition war auch wenig anderes zur Hand, wie uns der englische Zeichner wohl leise sagen will. Was den Niederländern das große Flaggschiff Die Sieben Provinzen, was den Briten Flaggschiffe wie die Sovereign of the Seas, was den Amerikanern die Superfregatte USS Constitution, das wurde den Deutschen unversehens das „private“ Spielzeug von Wilhelm II., das er auch für seine Nordlandfahrten nutzte. Natürlich wurde die Jacht staatlich über den Haushalt der Reichsmarine finanziert, war also Staatsjacht. Dennoch ändert das nichts daran, dass auf diese Weise des Kaisers „Privatunterkunft zur See“, sein Luxusdampfer, zum deutschen Nationalschiff wurde. Diese „private“ Vor-Prägung unseres hauptsächlichen Staatsselbstbilds finden wir in keinem anderen Land der Welt.

Die Staatsschiffe der USA und der Niederlande können wir auf Zeichnungen, Stichen, Gemälden, Briefmarken und in Schifffahrtsmuseen bestaunen, und einige auch als nationale Ikonen im Hafen von Boston oder nachgebaut auf der Batavia Werft in Lelystad. Sie gelten diesen Nationen viel. Nur, wo ist denn „unsere“ Hohenzollern I heute?13 Wilhelm II. war gerade dabei, sie durch die Hohenzollern II zu ersetzen, sie metallen zu „modernisieren“, als er Bismarck entließ. Beide Jachten wurden umgenutzt und die „I“ 1912 und die „II“ 1923 verschrottet.

Gäbe es diese Staatsdampfjachten noch, könnten sie denn heute in Berlin im Regierungsviertel als Ausstellungsschiffe liegen und unsere begehbaren Staatsschiffe sein? Wohl kaum, denn in ihnen mischt sich uns unauflösbar und falsch Privates und Öffentliches, Erratisches und Auratisches, Aufstieg und Fall. Dann aber bleibt uns heute nur die kollektive Erinnerung an diese eine Karikatur, an ein von Tenniel in London herbeiphantasiertes deutsches Staatsschiff – das aber ein konkretes Vorbild hatte – und an die historischen und heutigen Phantasien, wenn nicht Phantastereien vom deutschen Staatsschiff.

Ein letzter Blick auf die kaiserliche Selbstdeutung und Inszenierung der Entlassungssituation 1890 erhellt die Lage: Am Entlassungstag sandte Wilhelm II. ein durchaus für die Öffentlichkeit bestimmtes Telegramm an den Großherzog von Sachsen-Weimar. Inhalt: „Das Amt des wachthabenden Offiziers auf dem Staatsschiff ist mir zugefallen. Der Kurs bleibt der alte. Volldampf voraus!“

Der Kurs blieb nach Abgang „des Alten“ nicht der alte – „Weltmacht“ statt Großmacht musste es schon sein. Aber hatte das deutsche Staatsschiff überhaupt einen Kapitän in dem einsetzenden „Kalten Krieg“ gegen England? Der de jure-Kapitän, der Kaiser, gibt sich am Tag der Entlassungsgroßtat als der halt Dienst tuende „wachthabende Offizier“, … er schiebt ja nur Wache, hat eine Nebenrolle,14  wie schon der Lotse nach getaner Arbeit. Einen Steuermann an Bord gibt es – in dieser Metapherntradition – überhaupt nicht, denn Bismarck wurde uns 125 Jahre lang ja nur als Lotse vorgestellt. Manche sahen in ihm zwar den de facto Kapitän, aber der war ja jetzt auch von Bord. Fuhren die Deutschen also seit 1890 in ihrem Bildgedächtnis auf einem Gespensterschiff – ohne Kapitän, ohne Steuermann, ohne Lotsen, nur mit einem wachthabenden Offizier – in eine gefährliche Zeit hinein? War das Reich metaphorisch 1890 zum fliegenden Holländer geworden? Nun ja, wozu braucht es auch einen simplen Kapitän, wenn man als Nachfolger und allenfalls „Neu-Lotsen“ General Leo Caprivi (1831-1899) bestimmen konnte, der seit 1883 als Vizeadmiral Chef der Reichsmarine gewesen war? Die Marine-Hierarchie ersetzt doch jedes Kapitänspatent.

„Zeitgeist und Staatsschiff“ - zwei Alternativen

War die militaristische Entwicklung nach 1890 denn in der deutschen Bildtradition alternativlos? Lassen sich in den Bildern vom Staatsschiff auch hochrangige zivile Alternativen aufzeigen? Ja, in der kaiserlichen Familie selbst. Das will ich am Kontrast von zwei Skulpturen verdeutlichen. Sie sind um die Wende ins 20. Jahrhundert entstanden, also mitten in der frühen Hochzeit der Rede vom Staatschiff.

Die Deutschen Fürsten und die freien Städte überreichten Wilhelm II. zu seinem silbernen Regierungsjubiläum am 15. Juni 1913 einen 118 cm hohen Tafelaufsatz: ein Wikingerschiff, also das Eroberungsboot schlechthin. (Bildergalerie Abb. 4) Sie überreichten 1913 ein Modell. Erst 1925 konnte der Auftrag ganz erfüllt werden und das Ergebnis wurde Wilhelm II. 1927 im Exil überreicht. Der Erste Weltkrieg war „dazwischen“ gekommen.15 Dieses deutsche Staatsschiff war mit 25 Wappenschilden aller Bundesstaaten versehen, sie sind oben, jeweils an der Bordwand, zu finden; und 22 mal zeigt es Gemmenporträts aller Bundesfürsten – unten, rund um den Sockel; darunter findet sich, ein bisschen Darmstadt muss heute sein, natürlich auch das Porträt von Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein (1868-1937) und das Wappenschild des Großherzogtums Hessen mit hessischem Löwen – und ebenso, wenn auch gemmenlos, die Schilder der ebenfalls doch so liberalen Hansestädte, darunter Bremen. Allerdings sind sie alle steuerbord und wir sehen hier, wie üblich, backbord.

Wehrhaft stand das Schiff da, mit geblähtem Segel, der Bug bestand zudem aus Hals und Kopf eines Raubvogels, des Reichsadlers16 – keines Wikinger-Drachenkopfs. Im Heck die Krone. Im Segel erneut der Adler. Sich die „Raubfahrten der Wikinger auf den Nordmeeren“ allseits als Vorbild zu nehmen – das ist mehr als ein „aggressiver Unterton“, das ist eine klare Botschaft. Das zeichnet schon die weitere Flugbahn dieses Vogels der Geschichte jedenfalls bis zum August 1914 vor. Dieses Staatsschiff können Sie heute im Haus Doorn in den Niederlanden betrachten. Sie bräuchten sechs Männer, um es auf Ihre Tafel zu heben.

Das entsprechende zivile Gegenüber findet sich aber an versteckterem deutschem Ort, in Baden, bei Großherzog Friedrich I., dem Schwager und Briefpartner von Wilhelm II.: Die acht großen badischen Städte überreichten Friedrich I. zum 70. Geburtstag 1896 eine 142 cm hohe Bronzeskulptur. (Bildergalerie Abb. 5 und 6) In einem einfachen, eleganten Holzboot finden sich, angeleitet und ermuntert vom Großherzog: „Lehr-, Nähr- und Wehrstand“ und ein geflügelter Genius, also je zwei Männer und Frauen, knapp bekleidet im griechischen Stil dargestellt. Der „Lehrstand“ – die Wissenschaft – weist vorne im Boot mit der Fackel den Weg. Es ist keine kanonenbewehrte metallene Jacht, sondern ein einfaches Holzboot. Nicht einmal beim Wehrstand, dem Jüngling mitten im Boot, findet sich ein aggressiver Unterton. Ohne Riesenaufwand war auch dieser Frieden nicht zu haben: Darauf verweist der Herkules, der die ganze Konstruktion stemmt. Die Skulptur steht im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe.17  Warum hat Großherzog Ernst Ludwig nicht solche Kunstwerke auf sich gezogen? Dann hätte die heutige „Wissenschaftsstadt Darmstadt“ ein weiteres durchschlagendes Symbol, nicht nur für ihre Technische Hochschule von 1877... .

Zwei Mal „Zeitgeist und Staatschiff“, so verschieden. Unterschiedlicher geht es doch kaum.

Schon damals lagen sie also eng beieinander, die militaristische und die zivile Entwicklungsbahn, und zwar in einer Familie, fast zur gleichen Zeit. Heute im Rückblick auf bald 150 Jahre – und auf 100 Jahre Großer Krieg – ist die zivile Entwicklung verschüttet worden, vor Augen tritt der Gewalt-Zyklus von 1870/71 bis 1918, den die vier Karikaturen vorstellen: Aufstieg und Fall des Deutschen Reiches, gefasst in das Bild dieses eigentümlichen deutschen Staatsschiffs, der kaiserlichen Jacht.

Sie und ich kennen den Ausgang dieser Geschichte, die im „Großen Krieg“ der vielen „Schlafwandler“  mündete. Zumindest einer dieser Schlafwandler war mental-bildlich entsprechend vorgerüstet. Allerdings haben auch andere Kriegsbeteiligte dieses Urbild auf ihre Weise zum deutschen Thema weiterverwendet. Dazu zwei Nachträge:

Zum 100. Geburtstag von Bismarck und gleichzeitig zum 25. Jubiläum des Urbilds von Tenniel erschien im Punch am 29. März 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, eine Zeichnung betitelt „Das verwunschene, das verfluchte Schiff.“ (Bildergalerie Abb. 7) Der im Vergleich zum Urbild massiv gealterte Kaiser starrt entsetzt auf den rüstigen Wiedergänger Bismarck – einen Zombie, der das Fallreep wieder herauf kommt. Der Kommentar unter dem Bild: Der Geist des alten Steuermanns: „Ich wüsste gerne, ob er mich heute auch noch rausschmeißen würde.“

Mit diesem Bild schließe ich diesen Teil: (Bildergalerie Abb. 8) Die Zeitschrift Life – damals eine sehr bekannte US-Karikatur-Zeitschrift der Hearst-Gruppe und Nachfolgerin des Puck – zeigt in den Weihnachtstagen 1918 das Wunschbild der alliierten Soldaten: „Dropping the Pirate,” „entledigt Euch des Piraten“. Nun schaut auf Deck ein gewöhnlicher alliierter Soldat dabei zu, wie Wilhelm II., gekettet an eine Kugel, „ins Wasser geht“. Auf der Kugel steht „Gerechtigkeit“, im Wasser schwimmt ein Brett beschrieben mit „Ins Vergessen“. Kein Boot steht mehr bereit, es geht also um ein Todesurteil für Wilhelm II. Das Wortspiel „pilot/pirate“ war damals in aller Munde – seit dem Musical von Gilbert und Sullivan über The Pirates of Penzance, das seit 1879 dauernd aufgeführt worden war.

Wilhelm II. hatte allerdings schon am 28. November 1918 formell abgedankt und war schon am 11. November 1918 nach Doorn in die Niederlande ins Exil gegangen. Die Karikatur war also „wishful thinking after the fact“. Sie munitionierte aber das Verlangen nach der Auslieferung von Wilhelm II. und seiner Anklage vor einem internationalen Gericht gemäß Artikel 227 bis 230 des Versailler Friedensvertrags vom 28. Juni 1919.18

„What’s in a cartoon?“

Sie können eine ganze Staatsgeschichte darin entdecken, hier die der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts und unsere deutsche Teilhabe daran. Das „Schlafwandeln“ hält ja in unserem Bildbewusstsein bis heute an. Vielleicht werden Sie sich bei der nächsten Karikatur, die dieses Motiv benutzt, daran erinnern, dass unser Urbild dafür eine Staatsprivatjacht ist – die aus dem Ausland in unser Bildgedächtnis kam – und dass es eigentlich um Steuerungsprobleme eines deutschen Staatsschiffs ging, das keinen Kapitän hatte, nur „wachthabende Offiziere“ und Ein- und Ausfahrtshelfer, reine „Lotsen“ eben... . Niemand war so recht für die Steuerung auf hoher See zuständig..., keiner hatte so recht Schuld, ... . Sie kennen das Syndrom?

Unser deutsches politisches Selbstbild hat an dieser Stelle eine Art „schwarzes Loch“: Weil „Die Superfregatte ‚Preußische Verfassung’ ... nie vom Stapel (lief)“, wie Jürgen Kaube am 24. Oktober 2010 in der FAZ titelte – weil wir also weder 1848 noch 1867 oder 1871, sondern erst 1919, nach verlorenem Krieg, zu einer demokratischen Verfassung fanden –, haben wir an dieser Stelle keine durchschlagende, frühzeitige, eigene demokratische historische Symbolik entwickelt, wie etwa die USA, die sich mit der alten Rede vom Staatsschiff hätte verbinden lassen... . Und drum fahren wir leise, aber nachhaltig noch 2014 in unserem Bildgedächtnis auf der Hohenzollern I durch die zeichnerisch-metaphorische Welt der politischen Karikatur dahin... . Die Lotsen kommen und gehen – – – und das schwarze Loch bleibt, es schluckt viel symbolische Energie und tat das 124 Jahre lang so erfolgreich, dass kein Signal nach außen drang.

Der Autor: Stephan Leibfried ist Professor für Public Policy and Social Policy an der Universität Bremen und Sprecher des DFG-Sonderforschungsbereiches Staatlichkeit im Wandel. Er ist Schader-Preisträger 2014.

Dieser Beitrag baut auf drei früheren Beiträgen auf und entwickelt sie weiter: Die Superfregatte „Preußische Verfassung“ lief nie vom Stapel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. März 2010, Nr. 70, S. N4 (Geisteswissenschaften); Einheitsbilder – Deutsche und europäische Staatsschiffe in der Karikatur (1871-2010), Katalog einer Kabinettsausstellung zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 im Bremer Haus der Bürgerschaft und in Berlin im Bundesrat und im WZB (Bremen: Universität Bremen, Sonderforschungsbereich Staatlichkeit im Wandel); Stephan Leibfried, Bismarcks Fall 1890 und die Erfindung des deutschen Staatsschiffs: „Der Lotse geht von Bord“ als Schiffsurbild der deutschen Politik, in: Nicole Hegener und Lars U. Scholl, Hrsg., Vom Anker zum Krähennest: Nautische Bildwelten von der Renaissance bis zum Zeitalter der Fotografie (Bremen: H. M. Hauschild 2011), S. 120-129.

1 Zu einer Biographie siehe Frankie Morris, Artist of Wonderland: The Life, Political Cartoons, and Illustrations of Tenniel (Charlottesville, VA: University of Virginia Press 2005).

2 Stephan Leibfried, Philip Manow und Christopher Pierson, Britain’s Ship of State in the Century of the State, Neujahrskarte 2010/2011 (Bremen: Universität, Sonderforschungsbereich Staatlichkeit im Wandel, 8 S. und 14 Illustrationen).

3 Vgl. Stephan Leibfried, Die Galerie des Staatsschiffs 2008 – ein Gruß ins neue Jahr (Bremen: Universität, Sonderforschungsbereich Staatlichkeit im Wandel, 60 S.), S. 18f.

4 Zu den USA siehe: Stephan Leibfried und Lorraine Frisina, Neujahrskarte 2009/2010 (Bremen: Universität, Sonderforschungsbereich Staatlichkeit im Wandel, 4 S. und 4 Illustrationen). Ferner: Charles A. Miller, Ship of State: The Nautical Metaphors of Thomas Jefferson; with Numerous Examples by other Writers from Classical Antiquity to the Present (Lanham, MD: University Press of America 2003).

5 Vgl. den Nachtrag über die Niederlande zu Stephan Leibfried, Susan M. Gaines und Lorraine Frisina, Das Schiff Europa – Europe’s Ship of States: Über eine Kippfigur der Integration, in: Leviathan 2009, Jg. 37, S. 389-427, S. 417-420. Die Neujahrskarte 2011/12 galt den Niederlanden vom 17. bis ins 20. Jahrhundert.

6 Vgl. dazu die Neujahrskarte von 2012/2013 über die Bildgeschichte in Frankreich vom 17. bis zum 19. Jahrhundert.

7 In Reformation und Gegenreformation diente die Schiffsmetapher auch bildlich allen Kämpfenden zur Illustration ihrer jeweiligen kirchlichen wie staatspolitischen Position. Siehe dazu: Stephan Leibfried und Wolfgang Winter, Kirchen- und Staatsschiffe zwischen Reformation und Gegenreformation im 16. Jahrhundert: Segel hissen für die moderne Staatlichkeit, Neujahrskarte 2013/14 (Bremen: Universität Bremen, Sonderforschungsbereich Staatlichkeit im Wandel, 51 S.).

8 Vgl. Herwig Guratzsch, Hrsg., Der Lotse geht von Bord: Zum 100. Geburtstag einer Karikatur, Ausstellungskatalog: Wilhelm Busch Museum (Hannover: Deutsches Museum für Karikatur und kritische Graphik 1990).

9 Zur Wiedergabe der Zeichnung und Kommentierung vgl. Galerie des Staatsschiffs 2008, S. 44f. Zu zwei zentralen Europa-Übertragungen vgl. Einheitsbilder, S. 7.

10 Zu seinem Werk siehe: Richard Samuel West, Satire in Stone: The Political Cartoons of Joseph Keppler (Urbana und Chicago: University of Illinois Press 1988).

11 Vgl. dazu Galerie des Staatsschiffs 2008, S. 24f. (Adenauer), S. 26f. (Kiesinger), S. 32f. (Schmidt), S. 34f. (Honecker), S. 38f. (Genscher), S. 40f. (Kohl), S. 42f. (Stoiber), S. 46-51 (George W. Bush, Jr., drei Zeichnungen) und S. 52 f. (Obama).

12 Von Januar bis November 1873 war Albrecht Roon preußischer Ministerpräsident.

13 Zur Hohenzollern I vgl. Klaus Kramer, Hrsg., Vom Gondelcorso zum Ocean-Race: als Kaiser Wilhelm II. den Yachtsport nach Deutschland brachte, eine Dokumentation zur deutschen Yachtgeschichte 1815-1915 (Schramberg: Kramer 2002). Eine gut bebilderte Monographie zu diesem „deutschen Staatsschiff“, also zur Hohenzollern I, gibt es bis heute nicht. In dem Maße, wie dieses Schiff im Nebel der Vergangenheit versunken ist, sind stellvertretend die Konturen des Tennielschen Schiffs immer deutlicher hervorgetreten.

14 Dieser Vorfall wird referiert und kommentiert bei Helmut Quaritsch, Das Schiff als Gleichnis, in: Hans Peter Ipsen, Hrsg., Recht über See, Festschrift Rolf Stödter (Hamburg, Heidelberg: Decker), S. 251-286.

15 „Der Auftrag zu diesem Schiff erging 1913. Im Werkverzeichnis der Familie Miller wird als Entstehungsdatum 1914-1925/26 vermerkt. Am 17. Juni 1913 wurde im ‚Weißen Saal’ des Berliner Schlosses ein Modell in natürlicher Größe übergeben. Für Dezember war die Ausführung versprochen, es kam zu weiteren Verzögerungen, und dann begann der Krieg. Der Auftrag der Bundesfürsten und Städte stand lange unvollendet in der Münchner Werkstatt. Erst vier Jahre nach dem Tode Millers wurde das Schiff 1925 dem ehemaligen Kronprinzen Rupprecht ausgehändigt und einige Tage in der Münchener Residenz ausgestellt. Im Mai 1927 schließlich kam das Geschenk an den, für den es 1913 gedacht war.“ (Hans Ottomeyer, Wikingerschiff als Allegorie des Deutschen Reichs, in: Hans Wilderotter und Klaus D. Pohl, Hrsg., Der letzte Kaiser: Wilhelm II im Exil, Gütersloh/ München: Bertelsmann Lexikon Verlag/Deutsches Historisches Museum Berlin 1991), S. 328, 2. Spalte.

16 S. Hans Ottomeyer, Wikingerschiff als Allegorie des Deutschen Reichs (ebenda), S. 328f. Vgl. dort auch: Hans Wilderotter, „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser.“ Das Schiff als Metapher und die Flotte als Symbol der Politik des wilhelminischen Kaiserreichs (ebenda), S. 55-78.

17 Dazu Harald Siebenmorgen, „Zeitgeist und Staatsschiff“: Eine Huldigung auf Großherzog Friedrich I. von Baden, in: Bernd Mathias Kremer, Hrsg., Kunst und geistliche Kultur am Oberrhein: Festschrift für Hermann Brommer zum 70. Geburtstag (Lindenberg: Kunstverlag Fink 1996), S. 261-270.

18 Siehe dazu Christopher Clark, Die Schlafwandler: Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog (München: DVA 2013); und Herfried Münkler, Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918 (Berlin: Rowohlt 2013).

19 Vgl. www.jura.uni-muenchen.de/fakultaet/lehrstuehle/satzger/materialien/versa.pdf

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