Filtern Sie im Bereich "Themen"

Thema
  • Gemeinwohl und Verantwortung
  • Demokratie und Engagement
  • Nachhaltige Entwicklung
  • Vielfalt und Integration
  • Kommunikation und Kultur
  • Stadtentwicklung und Wohnen
  • Demographie und Strukturwandel

Zur Filterung muss mindestens ein Thema ausgewählt sein.

Fokus
Zeitraum
Was bewegt Sie?

Sie haben offene Fragen? Anregungen? Ideen?

Wir kommen gerne mit Ihnen ins Gespräch. Bitte hinterlassen Sie das, was Sie bewegt, im Schader-Dialog.

Becoming Cosmopolite

Artikel vom 03.06.2020

Caroline Y. Robertson- von Trotha, Sprecherin des Kleinen Konvents, mit ihrem Amtsvorgänger Klaus-Dieter Altmeppen am Großen Konvent 2019 der Schader-Stiftung. Foto: Christoph Rau

Caroline Y. Robertson-von Trotha auf ihrem Weg von Schottland in die Öffentliche Wissenschaft.

Sie sind jung aus Schottland mit Umwegen nach Deutschland ausgewandert und durchliefen einen außerordentlichen, untypischen akademischen Werdegang. Hätten Sie schon in der Schule erklären können, was „Kulturwissenschaften” sind?

Die Jahrgangspreisträger*innen der Hotelschule 1966/67. Foto: Caroline Y. Robertson- von Trotha

Meine Lieblingsfächer waren Englisch, Geschichte und Kunst. Am meisten faszinierte mich allerdings das damals ganz neu und immer noch nur in Schottland eingeführte Fach Modern Studies. Die Vermittlung aktueller sozialer und politischer Prozesse in lokalen, nationalen sowie in internationalen Kontexten stand im Mittelpunkt. Allerdings war meine Schulzeit sehr kurz. Nach dem plötzlichen Tod meines Vaters verließ ich die Schule mit 15 Jahren ohne Schulabschluss und richtete zuhause über die Sommermonate eine Bed and Breakfast-Pension ein. Es folgte eine Ausbildung im Hotelfach.

Was Kulturwissenschaften sind, hätte ich damals sicherlich nicht erklären können. Erst in den 1980er Jahren setzte eine breitere Diskussion in Deutschland über Definition, Ansätze, Ziele und Umsetzungen in Forschung und Lehre ein. Kurz beschrieben konnte zwischen einer eher geisteswissenschaftlichen oder eher sozialwissenschaftlich geprägten Diskussion unterschieden werden. Hinzu kam das zunehmende Interesse für die Tradition der Cultural Studies, die Frage nach dem erweiterten Kulturbegriff und damit die zwingende Frage nach der Notwendigkeit interdisziplinärer Zugänge. Ebenso stellte sich die Frage nach der Anwendung und Rückbindung in die Praxis sowie die Festlegung, ob wir den Begriff Kulturwissenschaft im Singular oder im Plural verwenden wollen, und schließlich, welche konkrete Umsetzungsverantwortung in Forschung und Lehre sich daraus ergibt. Wir haben diese Diskussion in der interdisziplinären „Forschungsstelle Kulturwissenschaft“, die 1983 von den Professoren Bernd Thum und Götz Großklaus an der Universität Karlsruhe (TH) initiiert wurde, sehr intensiv geführt. Aus ihr ging das 1989 gegründete „Interdisziplinäre Institut für Angewandte Kulturwissenschaft“ hervor, dessen Geschäftsführerin ich 1990 wurde. Im Wintersemester 1990/91 führten wir das Begleitstudium Angewandte Kulturwissenschaft ein, mit dem Ziel, Studierende aus allen Fakultäten erreichen zu wollen. Damals ein einmaliges Angebot in Deutschland.

Hatten Sie damals Idole und wie haben sich diese mit der Zeit verändert?

Von Idolen würde ich nicht sprechen. Aber Mahatma Gandhi, Nelson Mandela und die Schriftsteller George Orwell und Albert Camus haben mich sicherlich als Teenager sehr beeindruckt. Alles Männer. Das hat sich ganz sicherlich geändert! Eine Frau aber gab es schon damals, die mich besonders faszinierte, Joan Baez: durch ihre wunderbare Stimme, aber vor allem durch ihr standfestes Engagement für die Bürgerrechtsbewegung. Zu dieser Zeit war für mich die Anti-Apartheid-Bewegung von großer Bedeutung. Wichtiger als die „Idole“ war aber das Erfahrungswissen aus der Arbeitswelt, das ich in diesem jungen Alter sammeln konnte. Ich machte eine Hotelschulausbildung. Sie dauerte lediglich sechs intensive Wintermonate, bevor ich dann zwei Jahre lang in unterschiedlichen Positionen und Orten im Hotelfach arbeitete. Sehr schnell musste ich Verantwortung übernehmen, insbesondere als Hausdame in einem angesehenen großen Hotel.

Gab es in Ihrem Lebensweg besondere Wendepunkte, die Sie zu Ihrem akademischen Werdegang bewogen haben?

An der Grenze von Griechenland nach Jugoslawien 1969. Foto: Caroline Y. Robertson-von Trotha

Die Ereignisse und Anekdoten, die zu meiner Entscheidung führten, einen akademischen Weg anstreben zu wollen, sind vielfältig und zu einem nicht unerheblichen Teil von zufälligen Konstellationen geprägt. Wäre ich in der Schule geblieben, hätte ich sehr wahrscheinlich das schottische Äquivalent zum deutschen Abitur auf „normalem Weg“ gemacht. So musste ich autodidaktisch und in einem zeitlich begrenzten Rahmen in Schottland die Prüfungen über den Zweiten Bildungsweg absolvieren. Schon vor meinem Weggang aus der Hotelpraxis war mir sehr bewusst, dass ich einen anderen Weg gehen wollte – dies trotz oder vielleicht gerade wegen eines sehr attraktiven Angebots, nach London zu gehen, um dort eine Ausbildung im Hotelmanagement bei einer großen Hotelkette zu absolvieren. Es herrschte damals eine „Hire and Fire”-Praxis in der Branche. Die Arbeitszeiten waren extrem und der Job wurde schlecht bezahlt. Vor allem aber waren die Entwicklungsmöglichkeiten für Frauen sehr begrenzt und damit auch die Möglichkeiten, etwas zu verändern. Über das mittlere Management hinaus wäre ein Aufstieg nicht möglich gewesen. Die metaphorische „glass ceiling“ (die sogenannte Gläserne Decke) war eher aus Panzerglas! Die weite Verbreitung und die vielfältigen Dimensionen von Ungleichheit, vor allem die Zähigkeit einer gelingenden Umsetzung von Frauenrechten konnte ich nicht erahnen.

Im Sommer 1969 begann ich eine ganz besondere Reise als Backpackerin. Ich trampte zunächst bis in die Türkei. Ausschlaggebend war ein Buch über die Türkei mit handschriftlichen Notizen meines Vaters. Ich trat die Reise an, die er nicht mehr unternehmen konnte und erlebte innerhalb weniger Wochen und Monate sehr viele und letzten Endes lebensprägende Begegnungen und Ereignisse. Dazu gehörte die Begegnung mit drei Studenten aus Karlsruhe in Marmaris. Meine im November 1969 erfolgte Migration nach Deutschland, die sehr unterschiedlichen Erfahrungen einer für mich fremden Kultur und das Kennenlernen und die Auseinandersetzung mit der 68er-Bewegung  führten zu dem Wunsch studieren zu wollen. Im Wintersemester 1972/73 begann ich das Studium der Politologie und Soziologie in Heidelberg. Um das Studium finanzieren zu können, arbeitete ich als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Soziologie der Universität Karlsruhe (TH), an dem ich später als Doktorandin von Hans Linde angenommen wurde. Meine Dissertation hatte das Thema Ethnische Identität und politische Mobilisation, meine Habilitationsschrift Dialektik der Globalisierung.

Haben Sie aus Ihrer Mehrsprachigkeit besondere Vorteile gewinnen können, die sie heute als wertvolle Ressource wahrnehmen? Sehen Sie die Sprache beim Erleben der Anderen als Hindernis oder Potenzial?

Preisverleihung des KI-Science Filmfestivals 2019. Foto: Felix Grünschloss (ZAK)

Sehr mehrsprachig im herkömmlichen Sinn bin ich leider gar nicht. Oft reden wir von Sprache, als ob immer klar wäre, was wir mit einem Wort meinen. Dem ist aber nicht so. Reduziert auf ihre wortwörtlichen semantischen Übersetzungen und Regeln ist Sprache zunächst ein Hindernis. Gerade im Alltäglichen bleibt das beispielsweise ein Problem für Austausch- und Kommunikationsprozesse in Europa. Das ist auch ein Grund, weshalb sich eine breitere europäische Öffentlichkeit noch kaum entwickelt hat. Aber darüber hinaus ist Sprache viel mehr. In sozialen, kulturellen und politischen Kontexten und auch in den Wissenschaften ist Sprache feingliedrig, assoziativ und mehrdeutig. Das interkulturelle Verstehen in diesen breiteren Kontext zu stellen und auch ganz praktisch umsetzen zu können, stellt eine große Herausforderung dar. In unserer globalisierten digitalisierten Zeit mehr denn je. Denn wie wir wissen, aber oft zu wenig beachten, kann Sprache allzu schnell und zunächst unbemerkt als Machtinstrument missbraucht werden: intentional und politisch etwa durch die bewusste Reduktion auf vereinfachende und negativ besetzte stereotypisierende Begriffe und Zuordnungen. Mit unseren Experten- und Wissenssprachen schließen wir auch die Teilnahme weiter Teile der Zivilgesellschaft am Diskurs zunächst einmal aus.   

Persönlich habe ich schlimme Alltagsbeschimpfungen und Diskriminierungen erlebt, als ich noch kein Deutsch sprach. Geld hatte ich nicht, so dass ein Sprachkurs nicht möglich war. Es blieb das Lernen durch Zuhören, die Geduld meines Freundeskreises, deutsch mit mir zu reden und auch sehr hilfreich war der Kinobesuch. Ohne Sprache ist man stumm, kann sich schlecht wehren, „ist ja dumm“ und auch der Vermittlung der eigenen Position, Identität und Persönlichkeit beraubt. Sprache bleibt stets ein Hindernis und ein Potential. In die Konzeption meiner vielfältigen Formate der Öffentlichen Wissenschaft sind sowohl wissenschaftlich gesichertes Wissen als auch persönliche Erfahrungen dieser Art eingeflossen.

 

Sie sind Vorreiterin für eine Öffentliche Wissenschaft und pluralistische Gesellschaft. Konnten Sie hier im Laufe der Zeit einen grundsätzlichen Wandel erkennen?

Bei den ersten „Karlsruher Gesprächen“ 1997 zum Thema Stadt-Ansichten führte ich den Begriff Öffentliche Wissenschaft ein. Neben dem fachlichen Austausch mit der Praxis in Form eines öffentlichen Symposiums – in den ersten zwei Jahren von Hermann Glaser geleitet – ging es bei den Karlsruher Gesprächen vor allem darum, verschiedene Öffentlichkeiten und Publika über ein dicht gefülltes Wochenende für das jeweilige Thema zu gewinnen: mit einer langen Nacht des Films, mit Theater, Lesung und Matinee. Die Veranstaltungen fanden an unterschiedlichen Orten statt; alle außerhalb der Universität. Das wissenschaftliche Konzept basierte auf Glasers dialogorientierten „Nürnberger Gesprächen“, die aber mithilfe neuer Ansätze, Erfahrungen und Formate weiterentwickelt wurden. Wichtig hierfür waren die anglo-sächsische Public Science auf der Grundlage einer Public Understanding of Science und einer Wissenschaft im Dialog, die erst später in Deutschland Eingang fanden. Die Komplementarität der Wissenschaften, das Expertenwissen der Praxis, die internationale Erfahrung der NGOs, das lokale Wissen der Stadtgesellschaft und das pointierte Infragestellen durch Kunst und Kultur zusammenzubringen war stets mein Anliegen. Dies war nur durch Sponsoren und die Kooperationsoffenheit des Badischen Staatstheaters und weiterer Karlsruher Institutionen wie etwa das Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) möglich .

Mit der Gründung des ZAK 2002 erhielt ich die Möglichkeit, Öffentliche Wissenschaft neben Forschung und Lehre als gleichberechtigte Säule unseres vom Universitätssenat gebilligten Auftrages als zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Universität Karlsruhe (TH) zu realisieren. Wissenschaft und ihre Institutionen tragen eine hohe Verantwortung, Neues zu entwickeln und Innovationen voranzutreiben. Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes Gut! Gleichwohl besteht die Verpflichtung für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen über intendierte und nicht-intendierte gesellschaftsändernde Folgen ihres Tuns zu reflektieren, innerhalb und außerhalb der jeweiligen Fächer, und ihre Inhalte Thesen und Ergebnisse stets in Frage zu stellen, sie empirisch zu validieren und darüber zu streiten. Aus meiner Sicht ist aber auch die allgemeine Verständigung über das Wie, Was und Wozu der Wissenschaften zwingend als grundständiger Bestandteil demokratischer Ordnung zu verstehen: Wissenschaft hat dazu beizutragen, dass nachvollziehbare Austauschmechanismen in zunehmend komplexen systemischen Wechsel- und Veränderungsstrukturen nicht nur möglich, sondern auch gefordert und gefördert werden. Es geht dabei um das sogenannte persönliche und institutionelle „Capacity Building“. Dies hat auf der Grundlage von theoretisch fundierten Thesen und konkreten Erfahrungswerten und der Notwendigkeit im Dialog kritisch weiterzuentwickelnder Standards zu erfolgen. In den letzten Jahren haben sich Ansätze und bisherige Ergebnisse innerhalb der Wissenschaftskommunikation weiter ausdifferenziert: von eher Outreach-orientiert bis zu partizipativen Modellen einer ko-produktiven „Citizen Science“. All das hat seine Berechtigung. Nach meiner Auffassung ist Öffentliche Wissenschaft aber viel mehr als die Summe ihrer Teilbereiche. Sie ist ein demokratischer Auftrag! Oder präziser: Sie ist ein Auftrag in demokratischer Verantwortung und Verantwortbarkeit.

Vorhandene Ansätze wurden lange nicht rezipiert oder aber verpönt und als „unwissenschaftlich“ diffamiert. Die Umsetzung von Interdisziplinarität in Forschung und Lehre war und ist ohnehin schwierig. Besonders wichtig ist es daher, dass in Einzeldisziplinen Konzepte zur Umsetzung einer Öffentlichen Wissenschaft erarbeitet und breiter zur Diskussion gestellt werden; zum Beispiel durch die Initiative von Stephan Lessenich, „DGS goes public“ 2015 in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und auch als Mitglied des Kleinen Konvents der Schader-Stiftung. Viele erinnern sich ganz sicher, dass diese Thematik 2015 auch Gegenstand des Großen Konvents der Schader-Stiftung war.

Auf Initiative von Marlis Prinzing, Marc Eisenegger und Larissa Krainer wurde unter Mitarbeit weiterer Expertinnen und Experten, darunter auch ich, die Charta „Kommunikationswissenschaft als Öffentliche Wissenschaft in der Digitalen Mediengesellschaft“ 2019 veröffentlicht und inzwischen von 256 Kommunikationswissenschaftler*innen unterzeichnet. Mit Sitz in Zürich will der Verein „Öffentliche Medien und Kommunikationswissenschaft“, dessen Vorstand ich angehöre, sich um die weitere Förderung der Grundsätze der Charta bemühen und sie damit in Forschung, Lehre und Öffentlichkeit im deutschen Sprachraum sichtbar etablieren.

 

Wie schätzen Sie die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung insbesondere in Bezug auf Fremdenfeindlichkeit und Populismus, sowie den potenziell problematischen Diskurs in den sozialen Medien ein?

„Die pluralistische Gesellschaft und ihre Feinde“. Eröffnung der Karlsruher Gespräche 2017 im Audimax mit Festrede von Prof. Dr. Zlatko Lagumdzija, ehem. Premierminister von Bosnien und Herzegowina, Mitglied des Club de Madrid, Gründer der Stiftung Shared

Immer wieder bemühen wir uns aufzuzeigen, dass Migration und kulturelle Vielfalt stets unsere europäischen Gesellschaften geprägt haben: eine historisch-empirisch nachweisbare Tatsache, die weder linear verläuft noch eine vereinfachende „Bewertung“ verträgt. Der Versuch einer theoretischen Ein- und Zuordnung ist wichtig – oft wirkt die Diskussion jedoch sehr akademisch. Eine allgemein verständliche Vermittlung der Bedeutung von Kontinuitäten und Brüchen fehlt oft. Eine kritische Betrachtung gegenwärtiger Prägungen und Wirkungen, jenseits von Polemisierungs- und Polarisierungsstrategien auf der einen oder aber naiven Kulturrelativierungsversuchen auf der anderen Seite, bilden eine zunehmende Herausforderung: Vielfaltsfragen laufen immer häufiger Gefahr, gleich politisiert und polarisiert zu werden. Dies obwohl das, was wir hierunter verstehen, nämlich welchen Stellenwert offene pluralistische Gesellschaftsstrukturen in einer zunehmend globalisierten Welt haben und wo auch Grenzen der Vielfalt klar gezogen werden müssen, ein zentrales und entscheidendes Anliegen einer toleranten rechtsstaatlich basierten demokratischen Grundordnung bleibt. Der Anknüpfung an frühere Wissenschaftsdiskurse über den Wettbewerb der Ideen, dem konstruktiven Streit über normative Ziele und Rahmenbedingungen bis hin zu Vorstellungen eines „anything goes“ gilt es, komparative empirische Beobachtungen entgegen zu stellen. Mit den 21. „Karlsruher Gesprächen“ 2017 unter dem Titel „Die pluralistische Gesellschaft und ihre Feinde“ haben wir einen solchen Versuch unternommen.  

Nicht besorgt zu sein über die Ausbreitung von Fremdenfeindlichkeit und Populismus, die derzeit nicht nur in den sozialen Medien eine besorgniserregende Verbreitung, Vernetzung und Vertiefung erfahren, wäre geradezu fahrlässig! Gekoppelt mit der immer schneller werdenden Erfassung von Stimmungen und Trends in Meinungsumfragen erleben wir in vielen demokratischen Ländern, wie die Politik sich geradezu opportunistisch ausrichtet, um bei den nächsten Wahlen zu gewinnen. Das ist zwar zum Teil unvermeidbar ein systemisch angelegter Bestandteil demokratischer Parteien, die sich im Wettbewerb um die Wählergunst befinden. Mit der rasanten und zunehmend unüberschaubaren Entwicklung von KI, die dazu genutzt werden kann, die gezielte Einmischung und Manipulation von Wahlen durch unsichtbare Dritte zu ermöglichen, beobachten wir eine ganz neue „Qualität“ und neuartige Symbiose von Technik und Gesellschaft. Der Fall etwa von Cambridge Analytics ist einer der wenigen bekannt gewordenen Vorgänge. Er sollte eine eindringliche Warnung davor sein, wie eine systematisch geplante und technisch umgesetzte Beeinflussung durch andere Staaten eine ernstzunehmende Gefahr darstellt. Ohne eine ethisch legitimierte Grundhaltung, die anhand von beobachtbaren Fakten und antizipierten Wirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen transparente Positionierungen erlaubt und vermittelt, die dann in einer demokratischen Agora diskutiert werden können, steigen die Möglichkeiten der Desinformation, der Instrumentalisierung und der Verbreitung sogenannter „Fake News“, aber auch die gezielte Verbreitung von Verschwörungstheorien. Inzwischen ist eine emotionalisierte und zugespitzte Polarisierung unserer Gesellschaften sowie die Gefahr einer schleichenden Autokratisierung evident geworden.

 

Wo sehen Sie den besonderen Mehrwert in Ihrem Stiftungsengagement. Gibt es eine besondere Motivation für Ihren Einsatz bei uns?

Die Schader-Stiftung legt besonderen Wert zum einen auf den interdisziplinären Austausch zwischen den Sozialwissenschaften und zum anderen mit der Praxis, zunehmend auch mit einer breiter verstandenen Stadt- und Zivilgesellschaft. Als Stiftung kann sie Themen und Formate entwickeln und unterstützen, die im spezialisierten universitären Wissenschaftsalltag nur schwer zu organisieren sind und sich vor allem in der Förderpraxis der einschlägigen Wissenschaftsförderinstitutionen der öffentlichen Hand selten durchsetzen.

Meine Motivation ergibt sich aus der grundlegenden Überzeugung, dass die Schader-Stiftung mit ihrem engagierten Team, ihren Gremien einschließlich des aus den hochrangigen Schader-Preisträgerinnen und -trägern bestehenden Senats ein anspruchsvolles Forum konstruktiver Auseinandersetzung bietet. Die Schader-Stiftung ist mir schon lange in ihrer zugrundeliegenden Zielrichtung wichtig, insbesondere in der Erkenntnis, dass Wissenschaft und Praxis sich besser begegnen und austauschen müssen. Gerade in der Förderungspraxis eines strukturierten und dennoch offen gefassten Jahresprogrammes wirkt die Stiftung in diesem Sinne als „Ermöglicher“. Und ganz besonders ist der Große Konvent hervorzuheben, der aktuelle Fragestellungen im Dialog problematisiert. Damit wird der unerlässliche interdisziplinäre Auftrag der Sozialwissenschaften verdeutlicht und im Austausch mit der Gesellschaft sichtbar gemacht. Ich freue mich, wenn ich als Mitglied und Sprecherin des Kleinen Konvents ein wenig dazu beitragen kann.

Dazu waren die Begegnungen mit Herrn Schader im Großen Konvent, an dem er immer teilnimmt, wenn ich das zunächst feststellen darf, äußerst empathisch. Sein weitreichendes Interesse für Prozesse des gesellschaftlichen Wandels, seine Neugierde und Fähigkeit zuzuhören, vorausdenkend zu analysieren, daraus ganz konkrete Handlungsmaximen zu entwickeln und in und mit der Praxis umzusetzen, haben mir imponiert. Mit seiner Stiftung will der Stifter verantwortungsvoll gestalten. Seine konsequente Haltung, seine Großzügigkeit und seine beständige Bereitschaft, seine Stiftung weiter zu entwickeln, sind motivierend.

 

Kosmopolitisch, deliberativ, kommunikativ? Können Sie sich mit diesen Adjektiven identifizieren? Würden Sie sich als Kind Europas bezeichnen?

Bürgerfest des Bundespräsidenten 2013. Mit Lale Akgün und Canan Kalac. Foto: Caroline Y. Robertson-von Trotha

Vorneweg zu den Adjektiven - das ist nämlich so eine Sache mit Zuschreibungen! Mit meinem Interesse für kulturelle Vielfalt, für internationale Belange und Zusammenhänge, meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit Prozessen der Globalisierung und des Kulturwandels sowie meiner Neugierde auf das Neue empfinde ich mich als kosmopolitisch aufgeschlossen. Mit dem Goethe-Institut zusammen koordiniere ich mit meinem Team das deutsche Netzwerk der Anna Lindh Stiftung. Die Stiftung mit ihren Netzwerken in 42 Staaten hat sich die interkulturelle Verständigung durch ihr „Netzwerk der Netzwerke“ zivilgesellschaftlicher Akteure und NGOs zum Ziel gesetzt. Als Vorsitzende der Wissenschaftsinitiative Kultur und Außenpolitik (WIKA) am Institut für Auslandsbeziehungen (ifa, Stuttgart und Berlin) habe ich die Möglichkeit, Themen der Internationalisierung in den Arbeiten von jungen Nachwuchswissenschaftler*innen kennenzulernen – ein großes Privileg! Schließlich bin ich Mitglied des Kulturausschusses der Deutschen UNESCO. Das sind Ämter und Tätigkeiten, die eine kosmopolitische Grundeinstellung voraussetzen. Ohne kollektive und auch individuelle Ziele zu setzen kann man nicht gestalten. In diesem Sinn bin ich ganz sicher deliberativ. Deliberatives Handeln kann aber auch darin bestehen Stopp-Schilder zu setzen! Da ich persönlich interessiert bin an anderen Menschen, ihren Erfahrungen und Lebensumständen, bin ich selbstverständlich kontaktfreudig; allerdings in vielen Situationen auch zurückhaltend, was durchaus missverstanden werden kann.

Ich bin derzeit ein sehr besorgtes Kind Europas! Als Schottin habe ich nach dem aus meiner Sicht desaströsen Ausgang des „Brexit-Referendums“ umgehend die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt und erhalten. Seitdem betrachte ich das Geschehen „auf der Insel“ mit noch größerer Sorge, aber leider auch mit potentiell viel weiterreichenden Konsequenzen: die Stärkung eines populistisch angefachten Neo-Nationalismus; die Stärkung der Position von demokratisch gewählten Anti-Demokraten; die fehlenden Kompetenzen der Europäischen Kommission effektive Sanktionierungsmaßnahmen durchzusetzen; die allgemeine Entsolidarisierung, insbesondere die inhumane Weigerung hinreichend Verantwortung zu übernehmen und konkrete Maßnahmen für Flüchtlinge vorzusehen; die strukturellen Schwächen der durchaus reformbedürftigen „Architektur“ Europas, die weder Exit- noch Ausschlussverfahren im Einklang mit rechtsstaatlichen Prinzipien vorsieht und schließlich trotz aller verdienstvollen Austauschprogramme – wie etwa Erasmus+, an dem ich selbst beteiligt bin – das Fehlen einer konsequenten politischen Bildung in europäischer Hinsicht. Alle diese nicht gelösten Problembereiche führen zu einer Europawahrnehmung, die dem Zusammenwachsen nicht förderlich ist.

 

Ist die Begeisterung am Erleben der Anderen etwas Erlernbares oder wird man als Kosmopolitin geboren?

Global DemocraCITIES. Zwischen Triumph und Niedergang, Karlsruher Gespräche 2015 mit Saskia Sassen zum Thema „Die Stadt: Wo die Machtlosen Geschichte schreiben“. Foto: Caroline Y. Robertson-von Trotha

Das Erleben der Anderen setzt das Einlassen auf andere Lebensumstände und das Kennenlernenwollen voraus. Das hört sich zunächst plausibel an. Wir leben aber oft, und teilweise mit zunehmender Tendenz, in (selbst)organisierten homogenen Lebensräumen, analog und auch virtuell: in ethnisch und sozial strukturierten Quartieren und Stadtteilen und in virtuellen Blasen und Milieus. Das Erleben des Anderen setzt heterogene Begegnungsmöglichkeiten voraus. Ein Angebot hierzu muss unter Einbeziehung der Stadtgesellschaft organisiert und fortdauernd revidiert, verbessert und weiterentwickelt werden: städtebaulich durch entsprechende Konzepte der Quartiers- und Stadtteilplanung, mit Angeboten, Anreizen und Fördermaßnahmen der lokalen Kulturpolitik und durch gezielt aufgesetzte Bildungsprogramme. Wissenschaftlich muss man allerdings feststellen, die Kontaktthese ist aus guten Gründen umstritten. Sie ist nicht hinreichend, wie man aus der Diskussion über Parallelgesellschaften und Diaspora-Erfahrungen weiß, dennoch in vielen Situationen wichtig und brauchbar. Kosmopolitin zu werden ist nicht selbstverständlich, aber durchaus erlernbar – an der Umsetzung dieser Realutopie müssen wir hart arbeiten!

Nach diesem weiten Weg – wo möchten Sie ganz persönlich leben?

Abendstimmung in Celima la Manga in Andalusien. Foto: Caroline Y. Robertson- von Trotha

Landschaften sind mir sehr wichtig. Ich lebe gerne im ländlichen Umfeld mit erreichbarer Nähe zum urbanen Leben. Schottland ist ein wunderschönes und interessantes Land, dorthin zurückkehren möchte ich aber nicht. Das Badische, das ich in den ersten Jahren ganz und gar nicht als liberal im Sinn seines Selbstverständnisses empfand, ist inzwischen zur Heimat geworden. Es gibt zudem einen dritten Ort, wo ich als Europäerin sehr gerne bin, nämlich Andalusien. Die landschaftliche Symbiose von Berg und Meer, die Rauheit der Natur und der Reichtum der Kultur in seinen sichtbaren historischen  Ausprägungen, der Blick auf Afrika und damit das verpflichtende Wissen, wie privilegiert wir im sogenannten globalen Norden – insbesondere in Europa – sind, ist für mich ein unverzichtbarer Teil meines Lebens geworden.

 

Seit März 2020 ist Prof. Dr. Caroline Y. Robertson-von Trotha Sprecherin des Kleinen Konvents (Wiss. Beirat) der Schader-Stiftung, dem sie bereits seit 2017 angehört. Mit ihr sprachen unsere Praktikanten Cedric Faust und Philipp Gierlich.

Einen Kommentar hinterlassen

Es existieren zur Zeit keine Kommentare zu diesem Beitrag.

Cookie-Einstellungen

Unsere Seite verwendet Cookies und ähnliche Technologien. Hierbei wird zwischen technisch notwendigen Cookies zum Bereitstellen der Webseite und optionalen Cookies, z.B. zur Auswertung der Webseitennutzung, unterschieden.
Mehr Informationen dazu finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen. Dort können Sie auch jederzeit Ihre Präferenzen anpassen.

Erweiterte Einstellungen