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Über die Hinfälligkeit des Staates der Daseinsvorsorge

Artikel vom 15.08.2001

Foto: Krysztof Mieszczanek/shutterstock.com

Thesen zur Zerstörung des äußeren Verteidigungsrings des Sozialstaats. Von Stephan Leibfried

1. Der Sozialversicherungsstaat ist nur die sichtbare „Spitze des Eisbergs” des Sozialstaats

Der deutsche Sozialstaat wird normalerweise als ein - weitgehend nationaler - Sozialversicherungsstaat gesehen, ummantelt von Fürsorge und Versorgung. Das ist aber nur die sichtbare „Spitze des Eisbergs“.

Seit dem 19. Jahrhundert ist der Sozialstaat zusammen mit dem „Staat der Daseinsvorsorge“ gewachsen, wie ihn Ernst Forsthoff 1938 (1938, 1958; s. a. Scheidemann 1991) gekennzeichnet hat. Diese Daseinsvorsorge, die zunächst vor allem im kommunalen Bereich angesiedelt war, umfasste die ganze öffentliche Infrastruktur ,,Vorsorge“, also Sozialleistungen, die nicht als Geldtransfers oder persönliche Dienstleistungen erbracht werden konnten: Sie reichte von der Versorgung mit Elektrizität und Gas über Transportleistungen (Bahnen, Busse) weiter zu öffentlichen Bädern u.a. Anlagen bis hin zu Straßenbau und Kanalisation.

2. Öffentliche Daseinsvorsorge als äußerer sozialstaatlicher Umverteilungsring

Diese öffentliche Daseinsvorsorge lässt sich in Deutschland als ein äußerer, in einem Jahrhundert selbstverständlich gewordener sozialstaatlicher Umverteilungsring verstehen. Sein sozialstaatliches Wesen ist vor allem durch folgende Merkmale bestimmt:

  • Es geht, erstens, um lebenswichtige Güter, deren Nichtbereitstellung soziale Risiken für alle Bürger nach sich zieht, so etwa hygienische im Fall von Wasserversorgung und Kanalisation.
  • Es geht, zweitens, um Güter, die gewissermaßen Beveridge-Qualitäten haben, die also universalistisch bereitgestellt werden müssen, wenn Seuchenschutz usw. wirklich funktionieren soll. Haverkate und Huster drücken das juristisch aus: „Die staatliche Daseinsvorsorge“ soll „eine flächendeckende Versorgung mit bestimmten lebenswichtigen Gütern sicherstellen“ (1999, S. 296). Es besteht daher, etwa bei Wasser, Anschluss- und Benutzungszwang, der historisch durch eine monopolistische Herausnahme aus dem Markt bewerkstelligt wird. Damit war dieser ganze Bereich vor der EU automatisch dem Wettbewerbsrecht entzogen.
  • Die Versorgungsströme selbst fließen, drittens, auch klassenmäßig anders als sie es in einem Markt getan hätten: Der Staat der Daseinsvorsorge ist in seiner „Tarifgestaltung durch Sozialtarife geprägt“, wies also „deutliche Umverteilungszüge“ auf (Haverkate / Huster 1999, S. 296). Diese Umverteilung lässt sich zunächst typischerweise im „Oben-unten-Modell“ der sozialen Schichtung denken, etwa als preiswerter Zugang der städtischen Lohnarbeiter zu Wasser, Verkehr, Straßen, Strom, Gas, Bädern pp. Umverteilung findet aber auch im „sozialräumlichen“ Sinne statt (Regionalpolitik) - also gewissermaßen klassenindifferent -, wenn die Peripherie (das Land) zu billigeren Kosten angeschlossen wird, als sie es in einem Markt werden würde.

3. Umsturz des deutschen Staats der Daseinsvorsorge in den 1980ern

Mit Haverkate und Huster (1999, S. 296) lässt sich allgemein sagen: Dieser deutsche Staat der Daseinsvorsorge ist seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gewissermaßen „über Nacht umgestürzt worden“.

Es handelt sich hier um einen „Nebenkriegsschauplatz“ der europäischen, der europarechtlichen Transformation des gesamten deutschen Wirtschaftsrechts (vgl. Schwarze, 2001). Die Qualität der Auswirkung der europäischen Integration kann im Vergleich der Wirtschaftssektoren bestimmt werden: „Seit der Grundentscheidung für den europäischen Binnenmarkt in den römischen Verträgen (von 1957 - SL) ist das geltende Wirtschaftsrecht der Mitgliedstaaten durch nichts anderes so grundlegend verändert worden wie durch die Anwendung des Art. 90 Abs. 1 EGV (Art. 86 Abs. 1 EGV n.F.)“ (296).1 Die Übersicht 1 zeigt die Startzeitpunkte der einzelnen Privatisierungsschübe und ordnet sie größeren Epochen zu.

4. Schlagartige Umkristallisierung einer ganzen Sozialsphäre

Wie Übersicht 1 zeigt, geht es hier um den relativ seltenen Fall einer schlagartigen Umkristallisierung einer ganzen Sozialsphäre in maximal einem Jahrzehnt. Das ist als „Zerstörung“ einer etwa ein Jahrhundert alten Formation leichter zu gestalten, als es ein Neuaufbau eines sozialstaatlichen Netzes wäre: Das positive Schaffen einer sozialstaatlichen Formation brauchte Jahrzehnte und zwar selbst bei der Bismarck'schen Sozialversicherungsgesetzgebung, die ohne Vorläufer (Kassen, Haftpflicht, einige Betriebsrenten plus Beamten- und Militärversorgung) und „Nachrundungen“ (bis zur Reichsversicherungsordnung 1911) nicht zu denken ist.

Für die Zerstörung reicht es aus, wenn die Fundamente an einigen zentralen Stellen brüchig gemacht werden: Dann ergibt sich eine race to market conditions bzw. erfolgt eine race away from the welfare State oder away from the provision State. Ein Neubau, also eine race to the welfare State, ließe sich auf diese schlichte Weise nicht vornehmen. Die Formierung verläuft also im Rückwärts- und im Vorwärtsgang nicht strukturell symmetrisch.

Übersicht 1: Ringe der Zersetzung des klassischen Staates der Daseinsvorsorge durch die EG in Deutschland

Periode I
Binnenmarktprogramm: 1986-1992 (Delors-Programm, Einheitliche Europäische Akte, EEA)

Initiierung
der Reformen       Sektor
1987 ff.                Post I (Telekommunikation)
1991 ff.                Bahn
1992 ff.                Monopolversicherungen (Gebäude etc.)

Periode II
Nachfolgeprogramme ab 1992

Initiierung
der Reformen       Sektor
1994 ff.                Flughafenbodendienste
1995 ff.                Post II (Briefpost pp.)
1995 ff.                Post III (Postbank)

Periode III

Initiierung
der Reformen       Sektor
1995 ff.                 Strom (Kommunal I)
2000 ff.                Erdgas (Kommunal II)
Demnächst          Wasser (Kommunal III)
Demnächst          Städtische Verkehrsbetriebe (Kommunal IV etc.)
Demnächst          Straßenbau und -betrieb, etc.

Quelle: Zusammengestellt nach dem Text von Haverkate/ Huster (1999: S. 290-295)

5. Strategischer Ansatz: Ausgliederung der finanziellen „Milchkühe” des Daseinsvorsorgestaats

Die Umkristallisation dieser Sozialsphäre setzte dabei strategisch immer an der kritischsten Stelle an („Rosinenpickerei“). Die Fundamente wurden zuerst an der tragenden Stelle brüchig gemacht: Die finanziellen „Milchkühe“ des gebührenbasierten Staats der Daseinsvorsorge wurden als erste aus der Herde aller Einrichtungen ausgegliedert. In wettbewerbsrechtlicher Sprache: Die Quersubventionierung durch andere Gebühren wurde unterbunden.2

Das hatte automatisch zur Folge, dass der Rest der Herde sehen musste, wie er ohne diese Milchkühe anderwärts seine Versorgung sicherstellen konnte. Dafür kamen nur noch zwei Auswege in Betracht: Steuerstaat oder Markt. Diese großen Kapitalbedarfe konnten in den 1990er Jahren nur noch vom Markt, nicht aber mehr vom Staat gestillt werden. Damit waren die nächsten Wellen der Privatisierung programmiert. Für den Teil der Daseinsvorsorge, in dem bundesweit einheitlich organisiert gleichheitlich Leistungen erbracht wurden, bildete die Herauslösung des Telefondienstes aus der Bundespost (Post I) die kritische Schwelle; daraus folgten dann alle Weiterungen (Post II, Post III). Für den Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge, der Stadtwerke usw., war die Stromversorgung (Kommunal I) die kritische Schwelle. Ihrer Herauslösung kommt kommunal die gleiche Bedeutung zu wie der des Telefondienstes bei der national standardisierten Daseinsvorsorge (Kommunal II, III etc.). Über den verborgenen Kommunal-Haushalt, der sich aus hohen Gebühren im Strombereich speiste, waren bis dahin viele defizitäre kommunale Infrastrukturleistungen (Bäder, Transport) finanziert worden. Das wird nun unmöglich - und kann auch vom offiziellen Kommunalhaushalt kaum noch aufgefangen werden.

6. Die De-Regulierung wird künftig auch den Sozialstaat im engeren Sinne umfassen

Mit dem Entfallen des Staats der Daseinsvorsorge steht der Sozialstaat im engeren Sinne nun ohne diese schützende Einbettung dem EG-Recht gegenüber. Diese Entwicklung ist in der Wissenschaft weitgehend nicht gesehen worden, weil die Studien auf Brüssel (De-Regulierungs-Richtlinien) oder national auf Sektoren (Telekommunikation, Energie) orientiert waren.3 Die „tieferliegende“ sozialstaatliche Einbettung ist dabei aus der Sicht geraten. Die De-Regulierung des Öffentlichen dürfte aber in weiteren Runden umfassend auch auf den sozialstaatlichen Bereich im engeren Sinne erstreckt werden, wenn nicht durch Sperrklauseln in den Europäischen Verträgen Einhalt geboten wird: Alle Aktivitäten, die Private ebenso anbieten oder anbieten könnten4 werden für den Wettbewerb geöffnet. Dafür war der Staat der Daseinsvorsorge nur das erste Exempel, der Probelauf.

Nur dort, wo der Staat sich in größerem Umfang auf Umverteilung konzentriert bzw. in Zukunft konzentrieren will, wird er von De-Regulierung ausgenommen: Denn für Umverteilung lassen sich keine privaten Anbieter finden. Die meisten Sozialstaatsreformen in der OECD-Welt und in Deutschland gehen eher in Richtung von weniger Umverteilung und mehr quid pro quo. Deshalb wird man generell sagen können: Der deutsche Sozialstaat bewegt sich immer näher an die Schwelle heran, wo einzelne seiner Elemente „von oben“ für private Konkurrenz systematisch geöffnet werden. Eine Rentenreform, die das Äquivalenzprinizip immer stärker macht, schafft am Ende auch das „Soziale“ an der „Sozialversicherung“ ab. Sie öffnet diesen Sektor so - weit über die 4 Prozent der Riester'schen Rentenreform von 2000/2001 - für die privaten Finanzdienstleister. Am weitesten ist dieser Prozess in Deutschland im Bereich der Gesundheitspolitik vorangeschritten. Dort finden sich auch erste deutliche Urteile des Europäischen Gerichtshofes Anfang der 1990er Jahre, etwa Kohll und Decker.

7. Wettbewerb wird zum Regelfall

Soweit die EU bei sozialen und finanziellen Dienstleistungen den Wettbewerb nicht greifen lässt, beschränken sich die Ausnahmen, wie die Übersicht 2 zeigt, auf wenige Tatbestände, deren Vorliegen positiv nachgewiesen werden muss und die den zerstörten Sozialstaatsring der Daseinsvorsorge nicht mehr umfassen.

Übersicht 2: Wo gilt das Wettbewerbsrecht nicht?

Wo gilt das Wettbewerbsrecht nicht? Die Messlatten des Weißbuchs über Services of General Interest in Europe

1. Nicht-wirtschaftliche Aktivitäten (Seite 12)
Dieses Kriterium entscheidet über den Ausgang des ganzen Verfahrens. Zwei „kulturelle Filter“ wirken hier:

  • Gibt es „generische“ Ausnahmen - solche für eine „Gattung von Handlungsarten“ -, die sich aus einem allgemeinen europäischen kulturellen Verständnis ergeben und die ein marktliberales „reduktionistisches“ Verständnis von Kultur - „alles ist ökonomisch“ - überwinden können? Was ist die „Seele der EG“? Nur der Markt oder auch ein europäisches Kultur- und Sozialmodell?
  • Wenn solche allgemeinen Ausnahmen nicht geduldet werden, werden dann Ausnahmen „vom Ergebnis (outcomes) her“ gemacht? Je mehr ein Staat umverteilt, je weniger wird dies als „wirtschaftliches Handeln“ gesehen und je mehr kann dieser Bereich ourcomes-generisch aus wirtschaftschaftlichem Handeln herausgenommen werden. Was heißt dann „umverteilen“?

Nach dieser Stufe ist die Beweislast definitiv verschoben: Nun steht fest, dass „wirtschaftliches Handeln“ vorliegt. Wer das anders sieht, muss selber darlegen, warum für ihn ausnahmsweise anderes gelten soll, so:

2. Wenn Handel nicht betroffen wird  (Seite 13)
Aber was ist „Handel“? Das ist ein weiterer „kultureller Filter“. Hier können wieder generisch Ausnahmen gemacht werden oder es wird der marktliberale Weg weiter gegangen, wonach grundsätzlich „alles handelbar“ ist. Dann fallen alle sozialen und finanziellen Dienstleistungen, im weitesten Sinne, unter „Handel“.

3. De minimis  (Seite 14)
- wenn die öffentliche Tätigkeit nicht ins Gewicht fällt.

4. Ausnahmsweise Zulässigkeit I (Seite 14)
Wo der Vertrag solche Aktivitäten dennoch erlaubt, so als „Beihilfen, die den Erfordernissen der Koordinierung des Verkehrs oder der Abgeltung bestimmter, mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes zusammenhängender Leistungen entsprechen“ (Art. 73 des Ver-trages von Amsterdam) oder „zur Förderung von Kultur und der Erhaltung des kulturellen Erbes“, Art. 87 (3) des Vertrages von Amsterdam, was einschließt:

  • Beihilfen für Kleinbetriebe
  • Unterstützung für städtische Problemgebiete
  • Beschäftigungsprogramme
  • Qualifizierungsprogramme
  • Regionalpolitik
  • Umweltschutz
  • Forschung und Entwicklung

5. Ausnahmsweise Zulässigkeit II (Seite 10)
Wenn die Mitgliedstaaten dennoch „Unternehmen“ mit „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut“ haben - Art. 86 (2) des Vertrags von Amsterdam.

Quelle: EU-Kommission, KOM (2000) 580 endgültig5

8. Tendenz: Alles sozialstaatliche Handeln gilt als wirtschaftliches Handeln

Abschließend sei allein auf das erste Kriterium aus diesem Schaubild näher eingegangen, weil dort die Weichen gestellt werden: Für nicht-wirtschaftliche Aktivitäten gilt das Wettbewerbsrecht nicht.

  • Entscheidend ist, wie man in diese Thematik einsteigt: Der EuGH nimmt wohl an, alles ist wirtschaftliches Handeln, wenn das Gegenteil nicht nachgewiesen werden kann. Damit ist die Beweislast verschoben. Ist alles Handeln im Zweifel wirtschaftlich? Oder können wir in Europa von einem breiten Verständnis des „Nicht-ökonomischen“, von jedenfalls einem alternativen Fokus ausgehen.weil wir eine andere Kultur als die USA haben und erhalten wollen? Gibt es ein europäisches Modell, das den Markt überschreitet, überwölbt? Gibt es also einen Bereich, der sui generis und damit definitionsgemäß nicht-wirtschaftlich ist?“6 Gibt es damit einen Bereich, der nicht in jedem Einzelfall ad hoc als nicht-wirtschaftlich nachgewiesen muss? Gäbe es einen solchen Bereich, entfiele auch die Beweislastverschiebung, die alles Andersartige als zu beweisende Ausnahme an die Wand drückt - dann wäre wirtschaftliches Handeln ebenso nachzuweisen wie nicht-wirtschaftliches.
  • Gibt es einen solchen Alternativ-Bereich nicht, dann fällt sowohl der Transfer- wie der Dienstleistungsstaat unter wirtschaftliches Handeln. Dann befinden wir uns mitten im Gefälle des zweiten beim ersten Kriterium angegebenen Tatbestands: Kann etwas als deutlich umverteilend nachgewiesen werden, fällt es unter die Ausnahme. Ein stark (zwischen Klassen) umverteilender Wohlfahrtsstaat hätte mit dem Wettbewerbsrecht keine Probleme. Das geht das Marktrecht nichts an, denn es geht um politics against markets (Gösta Esping-Andersen), staatliches Handeln in diametraler Opposition zum Markt. Aber hier wird die Ausnahme nicht auf eine Art des Handelns, sondern auf Auswirkungen des Handelns gegründet: Die umverteilende Wirkung muss nachgewiesen werden. Was „Um“-Verteilung heißt, steht nicht eindeutig fest, aber wenn sie vorliegt, gilt das Wettbewerbsrecht nicht. Wenn es keine generischen Ausnahmen nach der Art des Handelns gibt, so gibt es doch solche, die von den Folgen her rückwärts gerechtfertigt werden. Aber diese Ausnahmen sind gefährlicher: Die Folge muss als faktisch durchgreifend immer wieder und für jeden Bereich nachgewiesen werden und sie muss wohl auch deutlich das Geschehen bestimmen. Dabei geht die Wirklichkeit der Sozialstaatsreform eher von Umverteilung weg: Kurzum, der nachweisbare Ausnahmebereich schrumpft zusehends.
  • Die Umverteilungsfrage ist vielleicht bei Geldtransfers leichter zu beantworten: Wir könnten die Sozialhilfe als (vertikale) Umverteilung ansehen, weil Steuern schwerpunktmäßig eher von Nicht-Armen eingenommen und eher an Arme verteilt werden. Aber wie steht es um soziale Dienste? Wirken Kinderhorte oder -gärten umverteilend? Ist dabei nur auf die Kostenseite und nicht auch auf die Dienstleistungsseite abzustellen? Wie viele hypothetische Unterstellungen sind da nötig? Wie kann das jeweils im Einzelfall nachgewiesen werden? Läge es nicht näher, auf den Typ des Handelns abzustellen, auf eine andere moralische Ökonomie von Dienst, von Dienen? Da es generell schwieriger ist, die Umverteilungseffektivität des Dienstleistungsstaates in all seinen Komponenten als die des Geldtransfer-Staates konkret zu beweisen, ist der care State auch weit gefährdeter dafür, gänzlich unter „wirtschaftliches Handeln“ zu fallen und zu verschwinden.
  • Folgt man dem amtlichen Verständnis, ist Kriterium 1 schnell erledigt: Da alles mehr oder weniger wirtschaftliches Handeln ist, kommt es nur auf die Ausnahmen der Kriterien 2 bis 5 an. Aber hinter diesem Schnellgang verbirgt sich das eigentliche Problem: Wie versteht man in Europa „wirtschaftlich“ versus „sozial“? Ist soziales, wohlfahrtliches Handeln ein Handeln eigener Art oder „marktlich“ wie jedes andere Handeln auch? Bricht jede Unterscheidung im Angesicht des Begriffs „Markt“ zusammen? Der EuGH unterscheidet dabei nicht zwischen wirtschaftlichem und wohlfahrtsstaatlichem Handeln. Er hat den Begriff „Unternehmen“ zügig auf die soziale Sicherung ausgedehnt. Den Durchbruch brachte eine Entscheidung 1991 gegen das Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit bei höheren Angestellten (Höfner and Eisner Rs. C-41/90; EuGH Amtl. Slg. 21, 271ff.). Diese Entscheidung ist durchaus typisch: Der EuGH behandelt die Bundesanstalt als Unternehmen und stellt ein Instrument in Frage, das er für ineffektiv hielt. Daraufhin hat der Bundestag 1994 gleich das ganze Vermittlungsmonopol gekippt. Aber wie Haverkate und Huster schreiben (1999, S. 298): „Die spannende Frage war nun, zu welcher Haltung sich der EuGH im Bereich der eigentlichen Sozialversicherungsleistungen entschließen würde.“ Wenn wir der deutschen Sozialrechtsliteratur Glauben schenken dürfen (ebenda, S. 299ff.), ist auch diese Frage nicht mehr offen, sondern die Tendenz geht klar in die Richtung: Alles sozialstaatliche Handeln wird als wirtschaftliches eingeordnet. Jedenfalls stehen diese Türen sperrangelweit offen.

Der Autor: Prof. Dr. rer. pol. Stephan Leibfried ist seit 1974 Professor für Sozialpolitik und Sozialverwaltung an der Universität Bremen und hat dort das Zentrum für Sozialpolitik und den Sonderforschungsbereich „Statuspassagen und Risikolagen im Lebenslauf“ (1988-2001) mit aufgebaut. Seine Arbeitsschwerpunkte sind das Zusammenwirken von Weltmarkt und Wohlfahrtsstaat, die Zukunft des Wohlfahrtsstaats unter den Bedingungen der europäischen Integration und Armut in Westeuropa und in Deutschland. Stephan Leibfried wurde 2014 mit dem Schader-Preis ausgezeichnet.

Literatur

Forsthoff, Ernst, 1938: Die Verwaltung als Leistungsträger. Stuttgart: Kohlhammer.

Forsthoff, Ernst, 1958: Die Daseinsvorsorge und die Kommunen. Ein Vortrag. Köln Marienburg: Sigillum Verlag.

Haverkate, Görg/Huster, Stefan, 1999: Europäisches Sozialrecht. Eine Einführung. Baden-Baden: Nomos.

Ipsen, Knut, 1997: Soziale Dienstleistungen und EG-Recht. Auswirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts auf die mitgliedstaatliche Förderung sozialer Dienstleistungen im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege. Berlin: Schmidt.

Joerges, Christian, 1991: Markt ohne Staat? - Die Wirtschaftsverfassung des Gemein schaftsrechts und die regulative Politik. In: Rudolf Wildenmann, (Hrsg.): Staatswerdung Europas? Optionen für eine politische Union. Baden-Baden: Nomos, S. 225-267.

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1996: Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa. Mitteilung der Kommission (KOM (2000) 580 endgültig).

Leibfried, Stephan, 2001: Summing-Up of the Main Points and Arguments of the Expert Meeting. In: Observatory for the Development of Social Services in Europe (Hrsg.): Services of General Interest in Present and Future Europe - The Future of Municipal and Charitable Social Services. Frankfurt a.M.: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, S. 94-109.

Scheidemann, Dieter, 1991: Der Begriff der Daseinsvorsorge: Ursprung, Funktion und Wandlungen der Konzeption Ernst Forsthoffs. Göttingen u.a.: Muster-Schmidt.

Schwarze, Jürgen, 2001: Daseinsvorsorge im Lichte des europäischen Wettbewerbsrechts. Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, Jg. 12, Heft 11, S. 334-339.

1  Zum allgemeinen Europäisierungskontext des Wirtschaftsrechts s. Joerges, 1991.

2  Dabei wirkten die Steuergesetzgebung und die De-Regulierung der Sektoren selbst infolge des EG-Rechts zusammen. Bisher lässt sich dieses Zusammenwirken nicht im Einzelnen historisch nachvollziehen. Steuerrechtlich wurde vor allem dafür gesorgt, dass etwaige Subventionen nicht mehr vor Steuern abgezogen werden konnten, also für die subventionierende Sparte teurer wurden.

3 Haverkate /Huster sind insofern eine große, systematische Ausnahme, eine erste Synthese. Allerdings begrüßen sie diesen Prozess des disembedding.

4 Sofern also Monopole der Aktivität Privater entgegenstehen, hindert das diese Argumentation nicht.

5 Die Kriterien werden hier in der Reihenfolge aufgeführt, wie sie Peter Martin Smith (Europäische Kommission) auf dem 75. Deutschen Fürsorgetag in Hamburg (14./15. November 2000) dargestellt hat. Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf das Weißbuch.

6 Einen solchen Bereich nimmt Ipsen (1997) an.

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