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Herkunft-Ankunft-Zukunft: Denkwerkstatt 08 Gender

Artikel vom 25.04.2017

Gemeinsam mit dem Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Hochschule Darmstadt (ISASP) und weiteren Partnern veranstaltete die Schader-Stiftung eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Herkunft-Ankunft-Zukunft“ zu Fragen der Integration.

Informationen zur Veranstaltung

Beginn: 13.12.2017 | 17:00 Uhr

Ende: 13.12.2017 | 20:00 Uhr

Ort: Schader-Stiftung | Goethestraße 2 | 64285 Darmstadt
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Denkwerkstatt 08 Gender

Die letzte Denkwerkstatt der Reihe setzte sich mit der Genderperspektive auseinander. Wie können wir mit dem Rollenverständnis und Frauenbild umgehen, das Migrantinnen und Migration nach Deutschland gebracht haben? Erfolgreiche Integration kann letzten Endes nur gelingen, wenn sie auch die zugewanderten Frauen mitberücksichtigt. Wie kann also die Geschlechterperspektive stärker in die Arbeit mit geflüchteten Menschen einbezogen werden? In diesem Kontext bietet sich zudem die Notwendigkeit, Inhalte und Ausrichtung von geschlechterspezifischen politischen Diskursen zu hinterfragen.

Weitere Termine der Veranstaltungsreihe: DW Integration am 8. Juni 2017 sowie DW Gesundheit am 23. Oktober 2017.  

Bericht der Veranstaltung:


 
Einleitung

Am 13. Dezember 2017 wurde die letzte Denkwerkstatt des Jahres 2017 der Veranstaltungsreihe Herkunft-Ankunft-Zukunft in Kooperation mit dem Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Hochschule Darmstadt (ISASP) in der Schader-Stiftung ausgerichtet. Die Denkwerkstätten dienen der Vernetzung von Akteurinnen und Akteuren aus unterschiedlichen Disziplinen und Sektoren und bieten eine Plattform des Austausches, um über politische Gestaltungsmöglichkeiten zu sprechen und einen generellen Diskurs über Integrationsfragen anzuregen. Der intensive Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis in Bezug auf konkrete Herausforderungen, die mit der Aufnahme von Ge-flüchteten einhergehen, sind zentrale Dimensionen.

In der achten Denkwerkstatt steht das Thema Gender im Mittelpunkt und eröffnet damit eine Per-spektive auf geschlechtsspezifische Ausgangssituationen, insbesondere die geflüchteter Frauen. Diese Perspektive ist in den öffentlichen und medialen Diskursen bislang selten thematisiert wor-den. Wenn wiederum von der spezifischen Situation geflüchteter Frauen geredet wird, besteht die Gefahr, einen Viktimisierungsdiskurs zu reproduzieren. So sollen geschlechtsspezifische Fluchter-fahrungen wie erforderliche Schutz- und Hilfsmaßnahmen verhandelt werden, ohne wiederum Frau-en auf eine Opferrolle zu fixieren. Daneben sollen Werte und Geschlechterrollen besprochen werden: Eine reziprok verstandene Integration bedeutet stets auch eine Neuverhandlung von Werten und Normen. Wie können unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf Geschlechterrollen miteinander vereinbart werden, ohne Geschlechtergerechtigkeit aus den Augen zu verlieren? Nicht zuletzt ist die Thematik in der Vergangenheit häufig für rassistische Zwecke instrumentalisiert worden. Eine ver-nunftgeleitete und nüchterne Debatte muss sich also auch mit Rassismus beschäftigen. Zwei Impul-se aus der praktischen Arbeit mit Geflüchteten setzen neben einem Impuls aus wissenschaftlicher Perspektive den Rahmen für diese Diskussion.

Eurozentrische Perspektiven auf Frauenrechte

Die Ethnologin Prof. Dr. Susanne Schröter von der Goethe-Universität Frankfurt gibt den ersten, wissenschaftlichen Impuls des Abends. Sie forscht zu normativen Ordnungen in der islamischen Welt sowie zu Konstruktionen von Geschlecht, Sexualität und Moral. In den Auseinandersetzungen um Flucht und Migration werden Geschlechterrollen und Frauenrechte oft aus einer eurozentrischen Perspektive verhandelt, stellt die Islamforscherin zu Beginn fest. Errungene Frauenrechte und neue Rollenbilder sind allerdings keineswegs Produkte rein westlicher Entwicklungen. In den urbanen Zentren des Orients waren Verhandlungen von Geschlechterverhältnissen ab der Mitte des 19. Jahr-hunderts so präsent wie in westlich geprägten Nationen. Die Forderungen drehten sich dabei ebenso um elementare Grundrechte, Bildungszugänge und politische Partizipation. Dieser feministische Islam wurde von Frauen wie von Männern getragen und stand in einem globalen Austausch. Frauen-rechtlerinnen aus intellektuellen Kreisen des Mittleren und Vorderen Orients wie auch aus Nordafri-ka beteiligten sich durchaus an den Auseinandersetzungen um Frauenrechte in den Zentren Euro-pas. Insofern kann Emanzipation nicht als rein westliches Konzept gedacht werden, sondern wird erst in ihrer globalen historischen Entwicklung begreifbar. Die UN-Frauenrechtskonvention muss nicht zuletzt im Kontext dieses globalen Austauschs gesehen werden, der unter anderem in interna-tional ausgetragenen Weltfrauenkonferenzen organisiert ist.
    
Die Verletzung von Menschenrechten ist häufig gekoppelt an kulturelle Praxen, die die Unterdrü-ckung der Frau implizieren. In Hinblick auf die körperliche Versehrtheit ist Genitalverstümmelung nach wie vor weit verbreitet. Die Vernachlässigung weiblicher Säuglinge, schlechtere Gesundheits-versorgung für Frauen und der Ausschluss von Mädchen vom Bildungssystem sind alltägliche For-men von Diskriminierung, die weltweit vorzufinden sind. Die Rechtfertigung dieser Diskriminierung erfolgt meist mit dem Verweis auf tradierte oder religiöse Werte. Insofern weisen Normenkonflikte in diesem Zusammenhang maßgebliches Konfliktpotenzial auf und erfordern eine besondere Ausei-nandersetzung. Dabei kann Pluralismus nicht derart verstanden werden, dass jeder normativen Vorstellung ein gleichrangiger Platz unter vielen zugewiesen wird. Den globalen Frauenrechtsbewe-gungen würde damit entgegengewirkt werden. Eine Perspektive der Menschenrechte bedeutet zwar kulturelle Praxen zu schützen, allerdings nur insoweit sie die Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht einschränken. Dies gilt vor allen Dingen, wenn die körperliche Unversehrtheit einer Frau gefährdet wird.
 
Kultur- und geschlechtersensible Beratung geflüchteter Menschen

Anschließend gibt Dagmar Zeiß, Geschäftsführerin der pro familia Beratungsstelle Darmstadt, mit ihrem Impuls aus der Praxis einen Einblick in alltägliche Erfahrungen aus der Beratung von Geflüch-teten. Pro familia ist ein bundesweiter Dienstleistungsverband, der für sexuelle und reproduktive Rechte eintritt und dabei einen besonderen Fokus auf die Schwangeren- und Familienhilfe setzt. Eine kultur- und geschlechtersensible Beratung wird als besonders relevant angesehen. Dafür be-darf es auch einer regelmäßigen politischen Weiterbildung für Beraterinnen und Berater. Insbeson-dere die Kenntnisse der politischen wie lebensweltlichen Verhältnisse in den jeweiligen Herkunfts-ländern zählen dazu. Auch das Erkennen von Anzeichen einer Traumatisierung und das Wissen um einen angemessenen Umgang mit Traumata sind Voraussetzung für die Arbeit mit Geflüchteten. Ein kultursensibler Zugang zu den Klientinnen bedeutet, feinfühlig mit den Werten und Prägungen der jeweiligen Personen umzugehen. Auch wenn Beratende bei pro familia ihre Arbeit als progressiv und positiv unterstützend werten, können frauenrechtsbasierte Forderungen schnell abschreckend wir-ken, wenn Frauenrechte in der Sozialisation betroffener Frauen bisher kaum präsent waren. Frauen, die die Beratung von pro familia nutzen, wissen im ersten Moment nicht um die Haltung der Ein-richtung, sondern suchen Schutz und Hilfe. Diese zu gewährleisten ist die Priorität. Das Themenfeld der Sexualität ist stets sensibel und stellt in der Beratung eine besondere Herausforderung dar. Oft fehlt Betroffenen banales Wissen um ihren Körper und ihre Rechte. Aufklärung in diesem Gebiet wird häufig als ein Tabubruch verstanden. Insofern müssen in der Beratung Schamgrenzen respek-tiert werden.

Darüber hinaus formuliert Dagmar Zeiß einige Aspekte einer beraterischen Haltung, die auf eine menschliche Begegnung auf Augenhöhe ausgerichtet ist. Dies setzt  eine Form der Verständigung voraus,  die das Gefühl der Fremdheit aushalten oder auch überbrücken kann. Außerdem kann im-mer auf einem kollektiven Erfahrungsschatz aufgebaut werden, der die Menschen eint – Geburt, Leben und Tod. Ein respektvoller Umgang muss auch bei für einen selbst befremdlich empfundenen Lebensentwürfen gewahrt werden. Grenzen müssen hier offen und klar kommuniziert werden. Schließlich soll die Beratung Orientierung bieten und Freiwilligkeit unterstützen.

Andrea Balmerth, Geschäftsführerin des Zentrums Information Beratung Bildung (ZIIB), führt im zweiten Praxisimpuls ihre Erfahrungen aus, die sie in der Gruppenberatung für geflüchtete Frauen gesammelt hat. Diese Beratungen sind auf ein Jahr ausgerichtet, in dem geflüchtete Frauen wäh-rend ihrer Ankunftszeit kontinuierlich begleitet werden. Frau Balmerth formuliert ausgehend von ihrer Wahrnehmung einige Hypothesen, die sie als nicht generalisierbar kennzeichnet:

Es ist nicht immer einfach, Solidarität zwischen den einzelnen Frauen herzustellen, da die Bezie-hungen untereinander in einigen Fällen von Feindseligkeiten geprägt sind. Rassismus ist unter vie-len Frauen in der Beratung zu beobachten und verhindert einen vertrauensbasierten Umgang mit-einander, so die Referentin. Dieses Misstrauen macht sich auch in Formen sozialer Kontrolle be-merkbar, die häufig religiös motiviert ist. Die Entscheidung, ob ein Kopftuch getragen wird oder nicht, wird dementsprechend über die Angst vor der Ausgrenzung durch Frauen in der Gruppenbe-ratung gelenkt. Die intensive Betreuung der Frauen durch das ZIBB mittels Begleitungen und Un-terstützungen bis hin zum Deutsch-Unterricht öffnet diese Perspektiven, bietet einen Halt im An-kunftsland und stellt damit häufig eine bessere Stellung der Frau gegenüber dem Partner dar. Inso-fern kann die Stärkung der Frauen einen Machtverlust für die Männer bedeuten, was wiederum zu Konflikten innerhalb der Familie führen kann. Insofern ist es wichtig, die Partner über Einzel- und Gruppensitzungen in die Beratungen einzubinden. In allen Formen der Beratung ist die zuverlässig verabredete Vertraulichkeit elementar. Sportangebote bieten den Frauen die Möglichkeit, außerhalb des gewohnten sozialen Kontextes alltägliche Erfahrungen mit der Ankunftsgesellschaft zu sammeln und sind entsprechend ein besonders effektives Mittel zur Integration. Zudem bedeuten gemein-schaftliche Erlebnisse wie Schwimmen-gehen eine Stärkung des Selbstbewusstseins und sie wirken präventiv gegen die Verfestigung von Stimmungsschwankungen.  

Mit der Erfahrung von Migration geht häufig eine Desorientierung der Betroffenen einher. Die Über-forderung durch neue Eindrücke und Gewohnheiten wird dann oft damit kompensiert, dass sich Betroffene stärker auf bekannte und tradierte Werte zurückbesinnen. Ein stärkerer Wunsch nach Selbstbestimmung und Partizipation wächst jedoch meist im Zuge der Beratungen und des fort-schreitenden Zurechtfindens in der Ankunftsgesellschaft.

Problemstellungen beim Dolmetschen

Mit der Debatte über Herausforderungen, Fallstricke und Potenziale beim Dolmetschen in der Sozia-len Arbeit mit Geflüchteten wird die Diskussion eröffnet. Dolmetschende können auf unterschiedli-che Weise auf den Prozess der Beratung einwirken. Eigene Deutungen und Werte können immer in die Übersetzung mit einfließen. Wenn Dolmetschende zusätzlich Teil der Community oder gar der Familien der betroffenen Frauen sind, entsteht schnell die berechtigte Angst, dass Gesagtes nach außen getragen wird. Eine Verschwiegenheitsklausel gilt allerdings formal für Beratende wie Dol-metschende gleichermaßen. Eine Teilnehmerin bringt in diesen Kontext die Geschlechterperspekti-ve mit ein. Aus ihrer Erfahrung im Gerichtsalltag berichtet sie, dass Betroffenenschicksale häufig nicht erkennbar sind, wenn männliche Dolmetscher für Frauen übersetzen, da diese oftmals die Position der Frau untergraben bzw. relativieren. Die beiden Impulsgeberinnen aus dem Praxisbe-reich bestätigen, dass es für die Arbeit mit geflüchteten Frauen elementar ist, Frauen als Dolmet-scherinnen in der Beratung einzusetzen.


Oft bringen betroffene Frauen ihre Kinder, die die deutsche Sprache bereits gut beherrschen, zum Übersetzen in die Beratung mit. Das Plenum ist sich weiterhin einig, dass es nicht vertretbar ist, Kinder oder Jugendliche übersetzen zu lassen. Wünschenswert ist eine Ausgangslage, in der ein fester Pool aus Dolmetscherinnen, die regelmäßig für die entsprechende Organisation arbeiten und hierbei für die spezifischen Anforderungen geschult werden können, etabliert wird. Ein Teilnehmer bringt ein, dass in diesem Kontext der Einsatz von Dolmetscherinnen, die ähnliche Erfahrungen wie Betroffene bereits gemacht haben und weiterhin Hilfsangebote im Zuge ihrer Ankunft in Deutsch-land nutzen, sehr sinnvoll sein kann.

Hemmnisse von Frauenrechtsbewegungen in den arabischen Staaten

Anschließend wird vertieft auf die feministischen Bewegungen in den arabischen Ländern eingegan-gen. Gefragt wird insbesondere danach, aus welchen Gründen die Forderungen der Frauenrechtsbe-wegung nicht umgesetzt werden konnten. Die Gründe finden sich maßgeblich in den politischen Machtverhältnissen. Mögliche Räume, um Emanzipation zu leben und zu fordern, sind in vielen Bereichen begrenzt. In autoritären Staaten wie dem Iran oder Saudi-Arabien ist seit mehreren Jahr-zehnten eine Entwicklung zu einer islamischen Militarisierung und Fundamentalisierung erkenn-bar. Im öffentlichen Raum ist die aktive Einforderung von Rechten insofern oft gefährlich. Frau Schröter spricht von einem „Roll Back“ in vielen islamischen Staaten, der Politik und Gesellschaft wieder religiös aufgeladen hat und versucht, progressive Strömungen zu nivellieren. Minderheiten, Frauen und LGBTQI*-Personen sind in diesen Zusammenhang besonders von Unterdrückung be-troffen. Die Ursachen dieser Entwicklungen sind historisch vielseitig und finden sich nicht nur im islamischen Nationalismus, sondern auch hervorgerufen durch den westlichen Imperialismus. Die Jugend kann in diesen Ländern als Hoffnungsträger einer neuen progressiven Entwicklung verstan-den werden, da diese bereits anhand vieler subversiver Akte ihre Opposition zu militantem islami-schem Glauben wie zu autoritären Systemen ausdrückt. Ähnliche Bewegungen lassen sich indes auch hier in Deutschland finden. Als Beispiel wird das Gewaltpräventionsprojekt HEROES ange-führt. Hier engagieren sich hauptsächlich junge Männer mit Migrationshintergrund aus sozialen Milieus mit patriarchalen Strukturen, die sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter und Men-schenrechte einsetzen.

Gender und Migration

Wie steht es um den öffentlichen Diskurs zum Thema Gender und Migration? Auseinandersetzungen um Rollenbilder von Migrantinnen und Migranten sind häufig von pauschalen Annahmen gestützt und werden emotionalisiert vorgetragen. Am Beispiel der Debatte um das Frauenschwimmen wird deutlich, wie Forderungen nach Integration in einigen Bereichen an dem Kern der Problematik vor-beigeht, wenn der Grad an Integration daran bemessen wird, ob Frauen auch mit Männern schwim-men gehen. Viel Wesentlicher ist es jedoch, Frauen über ihre eigenen Rechte aufzuklären und die Dimension der Machtverhältnisse wieder in den Vordergrund der gesellschaftlichen Debatte zu rü-cken. Basierend auf Erfahrungen aus den Erstaufnahmeeinrichtungen wird berichtet, dass Informa-tionsblätter in den jeweiligen Sprachen zu den Rechten der Frauen – sowohl als Information für Frauen, als auch als Hinweis und Orientierung für Männer – ein sinnvoller Anfang dieses Aufklä-rungsprozesses sein kann. Ein Teilnehmer gibt zu bedenken, dass ein gewisses ‚zivilisatorisches Gefälle‘ zwischen Menschenrechten und alltäglichen Erfahrungen von Machtasymmetrien und Ge-walt herrscht, das beispielsweise in der aktuellen #MeToo- Debatte offensichtlich geworden ist. Auf dieser alltäglichen Ebene kann wirkungsvoll angesetzt werden, um eine emanzipatorische Praxis zu entwerfen. Die Debatte um Integration ist weiterhin zu wenig an empirische Forschung geknüpft. Die vielen Hilfsprogramme, die geflüchteten Menschen in Deutschland angeboten werden, könnten wesentlich besser an den Bedürfnissen und Situationen von Betroffenen ausgerichtet werden, wenn ein Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis forciert würde. Auch bedarf es weiterer For-schungsprojekte in diesem Bereich, um zusätzliche belastbare Daten zu erhalten.

Strukturelle Diskriminierung

Über die rechtliche Ebene hinaus wird häufig die Ebene struktureller Diskriminierung vernachläs-sigt, wirft eine Teilnehmerin ein. Wenn beispielsweise geflüchtete Mütter keinen Sprachkurs in An-spruch nehmen können, weil die benötigte Infrastruktur zur Kinderbetreuung schlicht nicht vorhan-den ist, fehlt es bereits strukturell an Zugängen zur Integration. Eine räumliche Umverteilung stellt auch für Geflüchtete, die gerade ihr eigenes Netzwerk aufgebaut haben und erste Orientierungen im Ankunftsland erworben haben, einen erneuten Einschnitt in ihre Lebenssituation dar und hemmt Möglichkeiten, sich in den neuen Umständen zurechtzufinden. Ebenso werden in den Beratungen zu Berufsaussichten Frauen häufig ausschließlich ‚typische Frauenberufe‘ vorgeschlagen. Ambitio-nen, beispielsweise ein Handwerk zu erlernen, werden oft früh zurückgewiesen. Versteht man In-tegration nicht einseitig, sondern vielmehr als Prozess, in dem Aufnahmegesellschaft und Einge-wanderte beiderseits aktiv teilhaben, so kann eine emanzipatorische Praxis erst dann gewährleistet werden, wenn diesen Formen struktureller Diskriminierung in den Institutionen entgegengewirkt wird.


Religion im öffentlichen Raum

Die Diskussion führt zur Frage nach dem Stellenwert von Religion im öffentlichen Raum. Während Frau Balmerth in ihrem Impuls die große Präsenz von Religion und kirchlichen Institutionen im öf-fentlichen Raum bemängelt und darin steigendes Konfliktpotenzial erkennt, verstehen andere Teil-nehmer Religion als Ressource für die Soziale Arbeit. Die Möglichkeit der freien Ausübung der eige-nen Religion ist nicht zuletzt auch ein Grund, warum Menschen nach Deutschland migrieren. Frau Balmerth entgegnet, dass Grundrechte wie die Religionsfreiheit selbstverständlich unverhandelbar sind. Kirchliche Organisationen, die Kindergärten betreiben oder auch religiöse Symbole in öffentli-chen Räumen, empfindet sie jedoch als zu weit reichende Präsenz von Religion. Darauf wird entgeg-net, dass Frankreich als laizistischer Staat, das Ideal der Verdrängung des Religiösen aus dem Öf-fentlichen, besonders stringent durchsetzt und dennoch mit den gleichen Problemstellungen kon-frontiert ist wie Deutschland. Ein möglicher öffentlicher Umgang mit wachsender Präsenz diverser Religionen beschreibt eine Teilnehmerin mit dem Konzept eines überkonfessionellen Ethikunter-richts. In Form eines interreligiösen Dialogs können Schülerinnen und Schüler von den jeweiligen Religionen lernen. Bislang fehlt jedoch der politische Wille, dieses Anliegen durchzusetzen. Der Landesschülerrat Hessens setzt sich bereits für einen überkonfessionellen Ethikunterricht ein.
Im Bereich der Religion, wie in der generellen Debatte um Migration, werden Grenzziehungsprozes-se in Gang gesetzt, indem sich Menschen einem homogen gedachten ‚Wir‘ ein ebenso homogen ge-dachtes ‚Fremdes‘ gegenüberstellen. Konfliktpotenziale entstehen wiederum vor allem über Macht-ansprüche und nicht über Diversität an sich. Dem wird entgegnet, dass sich Identität immer in Ab-grenzung zum ‚Fremden‘ entwickelt. Diese Identitätsentwicklung ist dabei prozessual und hybrid zu denken. Dem ‚Fremden‘ haften dabei immer sowohl positive wie auch negative Bezugspunkte an. Das Verlockende und Positive in der Anschauung vom ‚Fremden‘ zu stärken anstatt das Fremde gänzlich zu negieren, könnte wiederum Konfliktpotenziale minimieren.

Resümee

Der Genderaspekt ist ein elementarer Bestandteil in der Diskussion über Integrationspotenziale von Geflüchteten. Aus der Diskussion wird deutlich, dass die spezifischen Situationen geflüchteter Frau-en speziell auf sie zugeschnittene Hilfsangebote erfordern. Eine Begegnung auf Augenhöhe ist dabei generell unerlässlich. Wesentlicher Bestandteil dieser Hilfe ist das Informieren über die Rechte, die Frauen in Deutschland zustehen. Dabei sind diese Rechte nicht eine rein westliche Erfindung. Der Verweis auf die Menschenrechte an sich reicht nicht aus, um Frauen in Deutschland eine neue Per-spektive zu bieten. Damit dies geschehen kann, müssen auch die institutionellen Rahmenbedin-gungen betrachtet werden, unter denen ein Leben als Geflüchtete in Deutschland aufgebaut wird. Auch das kritische Hinterfragen von Machtverhältnissen gehört zu diesen Überlegungen. Eine kon-stante politische Weiterbildung von Beraterinnen und Akteuren aus der Integrationsarbeit ist daher unerlässlich für eine angemessene Begegnung auf Augenhöhe. Letzen Endes werden klassische Normenkonflikte innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft nie gänzlich zu vermeiden sein.  

Ein Bericht von Laszlo Göring und Natascha Riegger



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