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Dokumentation: Denkwerkstatt 07 - Gesundheit

Artikel vom 30.11.2017

Die siebte Denkwerkstatt der Veranstaltungsreihe „Herkunft-Ankunft-Zukunft“ widmete sich dem Thema Gesundheit. Von David Meier-Arendt und Natascha Riegger

Einleitung

Die siebte Denkwerkstatt der Veranstaltungsreihe „Herkunft-Ankunft-Zukunft“ widmete sich dem Thema Gesundheit. Viele der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge sind traumatisiert durch körperlichen oder seelischen Missbrauch in der Folge von Krieg oder Bürgerkrieg im Heimatland beziehungsweise auf der Flucht. Sie haben Folter, Verfolgung, Vergewaltigung oder den Tod nahestehender Menschen erlebt. Schon die Flucht an sich hinterlässt körperliche wie seelische Spuren. Die Folgen der psychischen Traumatisierung stellen eine besondere Herausforderung an unser bestehendes Gesundheitssystem dar. Die psychosoziale Versorgung ist ebenso wie  das Wissen um die Vulnerabilität der Geflüchteten unzureichend und die Handlungsoptionen einzelner Einrichtungen je nach Status- und Aufenthaltsrecht der Geflüchteten stark begrenzt. Es fehlt an Konzeptionen zur strukturellen Erhöhung der Resilienz, oft auch an geeigneten diagnostischen Möglichkeiten. Außerdem stellen die Regelungen für die gesundheitliche Versorgung von Asylbewerbern zusätzliche Hürden dar, die eine schnelle und angemessene Hilfe verhindern. Neben all diesen Faktoren kommen weitere Herausforderungen bei der medizinischen Versorgung von Geflüchteten hinzu, wie beispielsweise die sprachliche Barriere oder kulturspezifische Gender-Fragen, auf die sich Akteure im medizinischen Bereich vorbereiten müssen.
In der inhaltlichen Einleitung in das Thema der siebten Denkwerkstatt wies Professor Volker Beck von der Hochschule Darmstadt darauf hin, dass das Thema Psychotherapie bislang kaum im Themenfeld Migration präsent ist und die Notwendigkeit von Traumatherapien bislang gar nicht gesehen wird. Zudem bestehen Lücken in der Finanzierung und eine Diskrepanz zwischen Versorgungsbedarf und Versorgungswirklichkeit. Der Zugang vieler Migranten und Geflüchteter zu einer flächendeckenden medizinischen Versorgung ist zur Zeit noch sehr schwierig. Zusätzlich tauchen auch weiterhin Traumatherapien nicht unter den medizinischen Mindeststandards der Grundversorgung in § 4 bzw. 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes auf. 

Ein gleichwertiger Umgang als Grundvoraussetzung

Dazu gab Professor Gerhard Trabert in einem ersten Impulsvortrag zu bedenken, dass wir es zusätzlich auch noch mit einer starken emotionalen Distanz bei dem Reden über das Schicksal dieser Menschen zu tun haben. Gerade der emotionale Bezug ist allerdings notwendig, um die individuellen Lebenslagen nachvollziehen zu können. Diese Geringschätzung in der Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Menschen spiegelt sich auch in der Wortwahl wider. So wurde zunächst oft das Wort „Armutsflüchtlinge“ und dann das Wort „Wirtschaftsflüchtlinge“ verwendet, um Klassifizierungen vorzunehmen. Bedeutet Ersteres schon eine vorgebliche Differenz von Menschen mit „echten“ Fluchtmotiven, spricht Letzteres vollends die legitime Fluchtursache ab. Denn letztlich, so argumentiert Trabert,  sollten eine fehlende ökonomische Perspektive und ein Leben in bitterster Armut nicht gegen Flucht vor politischer Verfolgung ausgespielt werden. Neben der Flucht vor Krieg oder vor politisch motivierter Verfolgung müssen also auch Armut und Umweltkatastrophen als legitime Fluchtursache anerkannt werden.

Gerhard Trabert verdeutlicht an verschiedenen Erzählungen von Geflüchteten, unter welchen lebensbedrohlichen Bedingungen die Flucht nach Europa teilweise stattfindet. Er berichtet aus eigener Anschauung, wie über hundert Menschen stundenlang auf engsten Raum eingepfercht werden. Während das Boot nur langsam vorankommt und immer wieder zu kentern droht, stehen die Passagiere, die größtenteils nicht schwimmen können, in einem Mix aus Meerwasser, Erbrochenem und Fäkalien. Wenn solche konkreten Erfahrungen der Geflüchteten in der Kommunikation mit ihnen nicht beiseitegeschoben, sondern mitgedacht werden, können wir zu einem wertschätzenden, rücksichtsvollen und gleichwertigen Umgang kommen.

Daran anschließend muss Gesundheit als ein soziales Gut verstanden werden. Als ein Zustand also, der von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig ist. In Anlehnung an den Soziologen Pierre Bourdieu bestimmt Trabert Gesundheit in Abhängigkeit von drei Kapitalsorten; dem ökonomischen Kapital als Finanzierungsmöglichkeit von Medikamenten und Arztbesuchen, dem kulturellen Kapital als dem Wissen über die Möglichkeiten, welche Leistungen unter welchen Bedingungen in Anspruch genommen werden können und dem sozialen Kapital als gut ausgeprägtes soziales Netz, um Stress und „Psychohygiene“ betreiben zu können. Gerade letzteres ist entscheidend für die Resilienzentwicklung.

Im weiteren Verlauf der Denkwerkstatt wird die Frage nach der Behandlung von Geflüchteten diskutiert. Dass diese notwendig ist, steht ebenso außer Frage wie die Tatsache, dass die Behandlungen von Geflüchteten nicht auf Basis von ehrenamtlicher Arbeit geleistet werden kann oder sollte. Vielmehr müssen diese Menschen angemessen in das allgemeine Gesundheitssystem integriert werden. Um dies zu erreichen, müssen die Träger der Flüchtlingsunterkünfte sowie die ehrenamtlich engagierten Personen aller Professionen zusammen arbeiten, um Ressourcen optimal einsetzen zu können und auch langfristige Verbesserungen zu schaffen. Es gilt also abzuwägen, wann akute Behandlung vor Ort erforderlich ist und wann mit den Institutionen und Trägern zusammen eine bessere Integration in das Gesundheitssystem zu erreichen ist.

Tertiäre Traumatisierungen

Um die Dringlichkeit der Integration in das Gesundheitssystem zu unterstreichen weist Trabert auf das Problem der tertiären Traumatisierung hin. Dieses von Hans Keilson beschriebene Phänomen bezieht sich auf eine (Re-) Traumatisierung, die nach der eigentlichen (unmittelbaren) primären Traumatisierung stattfinden kann. Die sekundäre oder auch sequentielle Traumatisierung bezeichnet die Traumatisierung durch die (unmittelbare) Zeugenschaft eines schrecklichen Ereignisses. Entscheidend ist, dass die tertiäre Traumatisierung stattfindet, wenn eine Verarbeitung eines primären oder sekundären Traumas nicht ermöglicht wird. Wenn also nach dem unmittelbaren Ereignis eine Entspannungsphase eintritt, etwa durch die Sicherung der grundlegendsten Bedürfnisse in den Erstaufnahmeeinrichtungen, werden Traumatisierungen oft überhaupt erst manifest. Diese müssen dann auch als solche anerkannt und behandelt werden. Bleibt diese Anerkennung und folglich auch die Behandlung aus, so kommt es zu einer weiteren Phase der Traumatisierung. Damit sind die vorher bereits angesprochenen Lücken in der psychosozialen Versorgung kein bloßes Unterlassen von Hilfeleistungen, sondern ein aktives „Mit-Traumatisieren“ der Betroffenen.

Um diesen Tendenzen entgegen zu wirken, muss dort vermehrt Hilfe hingelangen, wo die Menschen ihren derzeitigen Lebensmittelpunkt haben. Das heißt auch, dass in den Sammelunterkünften verstärkt trans- und interdisziplinär Hilfe geleistet werden muss. Vernetzung zwischen den einzelnen Trägern sowie den ehrenamtlichen Organisationen ist dazu die notwendige Bedingung. Außerdem können auch Informationsmaterialien dabei helfen, die Integration in das Gesundheitssystem zu beschleunigen, etwa indem ein Ratgeber auf Arabisch und in Farsi über die Rechte und Behandlungsmöglichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland aufklärt. Dabei sollten Angebote möglichst niedrigschwellig gestaltet werden. In einem weiteren Schritt müssen aber auch Strukturen, die zur Exklusion im Gesundheitssystem führen, benannt, skandalisiert und geändert werden.

Behandlungsangebote für traumatisierte Geflüchtete

Jenny Schellberger berichtete im zweiten Impulsvortrag von der Arbeitsweise und den Erfahrungen des Frankfurter Arbeitskreises Trauma und Exil e.V. (FATRA). Der Verein war zunächst Träger eines aufsuchenden sozialpsychiatrischen Projekts für Flüchtlinge aus dem Krieg in Bosnien und Herzegowina in einer hessischen Flüchtlingsunterkunft. Aus diesem Projekt entwickelte sich 1997 eine Behandlungseinrichtung für traumatisierte Flüchtlinge in Frankfurt am Main. Mittlerweile finanziert sich FATRA unabhängig von festen Zuwendungen aus Projektfördermitteln, um die psychosoziale Versorgung von Geflüchteten in Hessen zu gewährleisten.

Konkret kamen in den letzten sechs Monaten ungefähr 6.000 geflüchtete Menschen nach Hessen, unter denen ein hoher Versorgungsbedarf besteht. In den sechs Monaten davor waren es doppelt so viele Menschen. Die Anfragen an psychotherapeutische Behandlung nehmen deutlich zu:  So wurden im Jahr 2015 insgesamt 150 Personen psychotherapeutisch betreut, 2016 waren es schon knapp 300 Personen und im September 2017  bereits 232 Personen, die einen Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung haben. Der Grund für den Anstieg lässt sich dadurch erklären, dass die Menschen, die 2015 und 2016 angekommen sind, sich etwas eingelebt haben und jetzt dabei sind, sich ihres (anderen) Ballastes anzunehmen. Dieser macht sich meistens erst bemerkbar, wenn die erste Erleichterung über das Überleben der Flucht verflogen ist.

Traumatisierungen werden vor allem dann sichtbar, wenn es zu erneuten Belastungen kommt. Dazu können die langwierigen und für die Betroffenen oft quälenden Asylverfahren selbst zählen, natürlich die Sorge um die Familienangehörigen im Herkunftsland, die sich durch den ausgesetzten Familiennachzug noch verschärft haben, oder auch Probleme, angesichts  der Wohnsitzauflage geeigneten Wohnraum zu finden.

FATRA versucht diesem psychotherapeutischen Behandlungsbedarf mit einem Beratungsangebot nachzukommen, welches sich auf das Tempo und die Mentalität der Betroffenen einlässt. Aus einer solchen Haltung entsteht im besten Fall ein Kennenlernprozess, im Zuge dessen sich die Betroffenen vergegenwärtigen können, dass ihr Leiden behandlungsfähig und -bedürftig ist. Denn häufig können die betroffenen Personen die Symptome nicht einordnen und medizinisch deuten. Der Verein achtet in seinem Ansatz stets darauf, die Angebote so niedrigschwellig und kultursensibel wie möglich zu gestalten. So können Geflüchtete beispielsweise Beratungsangebote per Telefon wahrnehmen oder die seit 2015 eingerichtete psychoanalytische Flüchtlingsambulanz nutzen.

Die häufigsten Krankheitsbilder sind im Komplex posttraumatischer Belastungsstörungen zu verorten. Die häufigsten Symptome sind  Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Nervosität sowie Flashbacks. Eben diese machen eine Behandlung sehr schwierig, da die Betroffenen aus Angst vor Flashbacks oft nicht über ihre Erfahrungen reden möchten.

Beratungsmöglichkeiten sind insbesondere für geflüchtete Menschen, welche sich noch im Asylverfahren befinden, enorm wichtig. Sie benötigen dringend psychosoziale Betreuung, die ihnen außerdem nach den entsprechenden Konventionen zusteht. Völkerrechtlich bestimmt der 1976 in Kraft getretene UN-Sozialpakt, dass medizinische Versorgung zugänglich sein und ärztliche und therapeutische Hilfe gewährleistet werden muss. Mit der Anerkennung dieser Konvention hat sich Deutschland dem Schutz der körperlichen und seelischen Gesundheit der Menschen verpflichtet, die hier leben. Außerdem haben sich die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, besonders schutzbedürftige Menschen auch als solche anzuerkennen. Hierbei handelt es sich beispielsweise um junge Frauen, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge oder Menschen mit schweren traumatischen Erlebnissen. Eine solche Einteilung und die damit verbundene Sonderbehandlung werden in der Realität allerdings nicht konsequent praktiziert. Der völkerrechtliche und europarechtliche Diskurs verdeutlicht die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, zwischen rechtlich bindenden Vorgaben und der praktischen Umsetzung. So stellt Jenny Schellberg die aktuelle Versorgungslage aus Sicht des Vereins als äußerst prekär dar und betont dabei zunächst die Bedeutung von Vernetzung. Vor allem ein Netzwerk aus Ärzten, Therapeutinnen und Sozialarbeitern ist dringend notwendig um die Prozesse zu verbessern, eine dauerhafte und stabilere Versorgung zu gewährleisten und einzelne Einrichtungen in Ballungsgebieten zu entlasten. Dazu wird auch auf das 2003 gegründete psychotherapeutische Behandlungsnetzwerk zurückgegriffen, welches mittlerweile immerhin 160 Therapeutinnen und Therapeuten umfasst. Ein kleiner Erfolg dagegen stellt die Finanzierung von Dolmetschern dar, die mittlerweile vom Sozialamt übernommen wird. Des Weiteren hat das Land Hessen die psychosoziale Versorgung mit vier psychosozialen Zentren ausgebaut. Diese Schritte sind notwendig, um über die Krisenintervention hinaus unterstützende und stabilisierende Behandlungen zu gewährleisten.

Dr. Michael Bohny ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Darmstadt und engagiert sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe. Er ergänzt die bisherigen Betrachtungen um eine lokale Perspektive. In seinen Ausführungen weist Bohny zunächst darauf hin, dass die psychiatrische Versorgung in Darmstadt grundsätzlich nicht ausreichend ausgebaut ist. Dieses Problem bestand bereits vor der Ankunft von geflüchteten Menschen und wurde durch die Entwicklungen der vergangenen zwei Jahre weiter verschärft. Die Behandlung der betroffenen Personen läuft im Grunde über persönlichen Kontakt. Das heißt, dass es keinen institutionalisierten und professionalisierten Verteilungsschlüssel oder gar eine flächendeckende Erfassung psychotherapeutischen Beratungsbedarfs von Geflüchteten gibt. Hinzu kommt, dass die Psychotherapie kaum im öffentlichen Diskurs über den medizinischen Bedarf von Geflüchteten auftaucht. So wurden im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes Gynäkologen, Kinderärzte usw. aufgezählt, allerdings keine Psychiater.

Psychisches Leiden und Herkunft als Einflussfaktor

Für eine präzise Einschätzung des Behandlungsbedarfs ist es weiterhin notwendig zu unterscheiden, welche Menschen unter einem Traumata leiden und welche an einer anderen psychischen Erkrankung leiden, wie etwa Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen oder Schizophrenie. Es ist davon auszugehen, dass einige dieser Menschen bereits in den Herkunftsländern an psychischen Erkrankungen litten. Andere wiederum sind erst auf der Flucht und bedingt durch die dort gemachten Erfahrungen erkrankt. Neben diesen beiden Gruppen gibt es aber eine dritte Gruppe von Erkrankten. Dazu zählen jene, die erst in Deutschland in Folge der besonderen Belastungen erkrankt sind.

Die meisten Patientinnen und Patienten des Psychiaters kommen aus Afghanistan, Irak, Iran und Syrien. Dreiviertel der Behandelten sind Männer. Sind also Männer stärker betroffen als Frauen? Unklar ist, ob Frauen ihre Erkrankung nicht erkennen oder ob sie nicht zur Therapie kommen dürfen. Auch dies ist zumindest teilweise symptombedingt. Während sich die Folgen von Traumata bei Männern häufig in aggressivem Verhalten widerspiegeln, ähneln die Symptome der Frauen eher einer Depression, was deutlich weniger auffällt oder von der Umgebung als weniger problematisch wahrgenommen wird. Knapp zwei Drittel der behandelten Patienten leiden unter Trauma-Störungen. Zudem sind unter den knapp 60 behandelten Männern sieben Opfer von Vergewaltigungen in ihren Heimatländern oder auf der Flucht geworden. In diesem Zusammenhang spielen Scham und Suizidalität eine große Rolle. Viele dieser Menschen brauchen sofort Hilfe. So waren von den 60 Personen bereits zehn aufgrund von Suizidversuchen im Krankenhaus. Auch das Thema der Abschiebung spielt hierbei eine wichtige Rolle. So kündigten bereits sieben Personen einen Suizid im Falle ihrer Abschiebung an. Bohny betont an dieser Stelle allerdings auch, dass solche Suizidandrohungen unterschiedlich zu bewerten sind und immer von Fall zu Fall überprüft werden müssen.

Die Erwartungen an Psychotherapeuten

Da Geflüchtete meist von den Trägern der jeweiligen Einrichtungen geschickt werden, ist mit diesem Entsenden oft auch eine klare Intention verbunden: Die Therapie soll dazu führen, dass sich der Patient beziehungsweise die Patientin besser in den Alltag der Einrichtung einfügt. Deshalb befinden sich vorrangig Menschen, die aggressiv auftreten, Suchtstörungen oder selbstverletzendes Verhalten aufweisen, unter den Patienten. Nur sehr Wenige nehmen das Angebot von sich aus wahr.
Die Erwartung von Seiten der Sozialdienste besteht vor allem darin, dass etwas gemacht wird, damit sich das alltägliche Verhalten der Behandelten verbessert und das Zusammenleben in der Gruppe besser funktioniert, das also im Grunde Abweichungen korrigiert werden.

Auch von Seiten der Geflüchteten gibt es komplexe Erwartungshaltungen. Zunächst ist die Fachrichtung der Psychiatrie vielfach unverständlich. Bei einigen Sozialdiensten wird ein Therapeut daher nicht als Psychiater, sondern als Doktor für die Kopfschmerzen und die Schlaflosigkeit oder das schlechte Bauchgefühl ausgewiesen.

Dr. Bohny weist darauf hin, dass eine Vernetzung der verschiedenen Sozialdienste notwendig ist. Nur so können die beschriebenen Defizite adressiert werden. Eine optimierte Zusammenarbeit wäre notwendig und würde mit einer frühestmöglichen Bereitstellung der Gesundheitskarten deutlich unterstützt. Die Gesundheitskarte erleichtert den Zugang zu dem Regelsystem enorm und ist damit die entscheidende Schnittstelle zu einer verbesserten Handlungsmöglichkeit und Koordination zwischen therapeutischen Maßnahmen und der Betreuung durch die Soziale Arbeit. Erst damit können Behandlungen unmittelbar erfolgen und nicht erst auf Einzelantrag beim Sozialamt.

Diskussion: Kulturelle Differenz als entscheidender Faktor?

Ausgehend von den Impulsvorträgen wird die Frage nach der Bedeutung von kulturellen Differenzen diskutiert. So gibt eine Teilnehmerin zu bedenken, dass Psychotherapie auch deswegen so unbekannt für viele Geflüchtete sein mag, weil in diesen Kulturkreisen möglicherweise ein ganz anderes Bild von Individualität und Innerlichkeit vorherrscht. Sollte das so sein, dann würden wir – trotz bester Absichten – diesen Menschen unsere gewohnte psychische Innenwelt und unseren kulturspezifischen Umgang mit der Psyche nicht anschlussfähig vermitteln können, sondern vielleicht sogar aufzwingen. Dann aber käme eine Therapie keiner Hilfe, sondern vielmehr einer Assimilierung an westliche Gesundheitsvorstellungen und der Rolle der Psyche.

So wie diese Sichtweise die Sensibilität und Reflexivität auf die eigenen Handlungen und Bemühungen schärft, birgt sie doch zugleich die Gefahr, einen Dualismus zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu konstruieren. Eine Teilnehmerin warnt davor, Kulturen als in sich geschlossene totale Entitäten zu begreifen, die Außenstehenden prinzipiell verschlossen und fremd sind.
Es gilt also einerseits, sich auf die Bedürfnisse und Gewohnheiten anderer Menschen einzulassen und den Schlüssel zur menschlichen Psyche nicht bereits in den eigenen Händen zu wissen. Neugierde und Offenheit sind die wichtigsten Voraussetzungen für das Gelingen eines solchen Prozesses, der Menschen nicht vorschnell als „die anderen“ klassifiziert, die nichts mit „uns“ gemeinsam haben und nach eigenen abgeschlossenen sozialen Gesetzen und Bräuchen leben. Das Resultat einer solchen Sichtweise würde „die anderen“ „uns“ unverständlich und unzugänglich machen. Damit wird der Umgang auf Augenhöhe gemieden und Menschen in Identitäten festgelegt.

Explizit wird der Umgang mit Kindern aus geflüchteten Familien thematisiert. Diese lernen häufig schneller als ihre Eltern die Sprache des Ankunftslandes. Viele Sozialdienste und ehrenamtliche Helferinnen und Helfer nutzen daher Kinder gerne als Dolmetscher. Diese Tendenz wird noch dadurch verstärkt, dass gute Dolmetscher schwer zu finden und noch schwerer zu finanzieren sind. Es herrscht Einigkeit im Plenum, dass Kinder dieser Dolmetscher-Position prinzipiell nicht gewachsen sind, schon gar nicht wenn es um die Behandlung von Traumata oder anderen Problemen geht. Fungieren Kinder bei solchen Gesprächen als Dolmetscher, sind sie von der Situation überfordert oder werden gar in Schuldgefühle bezüglich der Lage ihrer Familie gedrängt.

Schlussbetrachtung: Leben und Beruf in einer Migrationsgesellschaft

Vor dem Hintergrund der prekären Versorgungslage von Geflüchteten muss die Frage gestellt werden, wie eine medizinische Ausbildung in der heutigen Migrationsgesellschaft aussehen sollte? Dabei gilt es eine offene und wertschätzende Auseinandersetzung mit anderen Gesundheitskulturen anzustreben ohne diese lediglich als fremd zu klassifizieren. Ambivalente Identitäten und Kulturen sind als Regelfall anzunehmen und Strukturen der Verständigung zu schaffen, die Anschlüsse an Prozesse der Anamnese, Diagnostik und Therapie ermöglichen. Unter dem Gesichtspunkt des Wissenschafts-Praxis-Verhältnisses wäre es wichtig herauszuarbeiten, wie sich die medizinische Ausbildung verändern muss, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Es können nicht alle Helferinnen und Helfer psychotherapeutisch fortgebildet werden, um die Versorgung zu gewährleisten. Denkbar wäre aber eine Art Schneeballsystem, in dem erfahrene Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen Freiwillige  ausbilden, sodass diese zumindest für die Erkennung von Trauma-Störungen sensibilisiert werden.

Langfristig können solche Aufgaben jedoch nur durch institutionalisierte Räume bewältigt werden, in denen Institutionen, Ämter, NGOs und ehrenamtliche Helferinnen und Helfer untereinander  koordiniert und dazu mit den nötigen Ressourcen ausgestattet sind.

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