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Was heißt „Anwendung“ in den Gesellschaftswissenschaften?

Artikel vom 10.05.2007

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Franz-Xaver Kaufmann war 2007 Preisträger des Schader-Preises. Nachfolgend ist seine Rede anlässlich der Verleihung des Schader-Preises in Darmstadt am 10. Mai 2007 dokumentiert.

Was heißt „Anwendung“ in den Gesellschaftswissenschaften?

Die Schader-Stiftung charakterisiert ihr Programm, wie Sie auch der Einladung zur heutigen Preisverleihung entnehmen können, mit der Kürzestformel „gesellschaftswissenschaften < > praxis“. Ich möchte meinen Dank durch eine Kommentierung dieser Kürzestformel ausdrücken. Genauer gesagt, bezieht sich mein Kommentar nicht auf die ganze Kürzestformel, sondern lediglich auf den Zwischenraum zwischen den Worten „Gesellschaftswissenschaften“ und „Praxis“. Es ist ja doch recht bemerkenswert, dass dieser Zwischenraum leer gelassen wird. Diese Leere soll aber sicher nicht die Leere des Weltalls oder diejenige eines des Weines entbehrenden Glases, sondern einen inhaltsreichen, aber sehr komplexen und zudem kontingenten Zusammenhang bezeichnen, der sich eben nicht in einer Kürzestformel ausdrücken lässt. Es wäre wesentlich einfacher, diesen Zusammenhang im Rahmen einer Abhandlung zu explizieren als im Rahmen der mir zugestandenen 20 Minuten. Ich muss deshalb sehr verkürzt, gelegentlich thesenhaft argumentieren und Veranschaulichungen auf die nachfolgende Diskussion verschieben. 

Wissenschaft und alle anderen Formen gesellschaftlicher Praxis sind weitgehend getrennte Handlungssysteme mit eigenen Rationalitäten, eigenen Zielsetzungen und eigenen Belohnungsstrukturen. Wie kann da „Kommunikation und Kooperation“ oder gar eine „praxisorientierte Gesellschaftswissenschaft“ zustande kommen, deren Förderung die Schader-Stiftung bezweckt? 

Der Umstand, dass die Jury des Schader-Preises noch jedes Jahr einen in ihren Augen würdigen Preisträger gefunden hat, deutet darauf hin, dass die Sache irgendwie funktioniert – aber wie? Offenbar zunächst über Personen, genauer Sozialwissenschaftler, deren Publikationen in den Augen der jurierenden Wissenschaftler als originell und zudem in den Augen der jurierenden Praktiker in irgendeiner Weise als interessant oder brauchbar erscheinen. Was aber macht Wissenschaft für Praktiker interessant oder brauchbar? 

Für die Naturwissenschaften ist diese Frage einigermaßen klar zu beantworten. Naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse unterliegen strengen Prüfungsprozessen, und nur wenn experimentelle Versuchsanordnungen wiederholt zu denselben Ergebnissen führen, kann von verlässlichem Wissen gesprochen werden, das dann grundsätzlich dauerhaft für wissenschaftliche und/oder praktische Zwecke zur Verfügung steht. In der Regel wird man von „angewandter Wissenschaft“ dort sprechen, wo Wissen gesucht und gefunden wird, das außerhalb des Wissenschaftssystems anwendbar und verwertbar ist. „Grundlagenforschung“ und „angewandte Forschung“ werden meist in unterschiedlichen Organisationseinheiten betrieben. Das Ergebnis angewandter Forschung besteht in der Regel in Technologien, d.h. konzeptuellen und apparativen Anweisungen, wie bestimmte praktische Probleme gelöst werden können. Diese Technologien gelten als grundsätzlich verlässlich, wenngleich auch ihre Anwendung auf unterschiedliche Probleme oft neue Schwierigkeiten mit sich bringt, die bald ad hoc durch Versuch und Irrtum, bald systematisch durch Fortentwicklung der Technologien gelöst werden.

Sozialwissenschaftliches Wissen ist weniger zeitstabil und kumulativ als naturwissenschaftliches Wissen. Dieser Umstand resultiert in erster Linie aus Eigenschaften des Erfahrungsobjekts. Die Veränderungsrate natürlicher Gegebenheiten ist so niedrig, dass sie für die meisten technologisch relevanten Ergebnisse zu vernachlässigen ist. Die „Natur“, oder was wir darunter wissenschaftlich verstehen, hält sozusagen still und fügt sich einem fest-stellenden Erkenntnisinteresse. Allerdings sind auch die Objekte der Naturwissenschaften nicht einfach gegeben, sondern selbst das Ergebnis wissenschaftlicher Konstruktionen, die sich aufgrund neuer Beobachtungen verändern und in der Regel verbessern lassen. Das liegt aber an der Veränderung wissenschaftlicher Erkenntnis, nicht an der Veränderung der zu erforschenden Naturtatsachen. Ingenieure können die Gesetze der Physik und die Festigkeitsgrade bestimmter Metallegierungen voraussetzen, wenn sie sich an die Konstruktion einer Brücke machen, und Mediziner können noch heute die Krankheiten ägyptischer Pharaonen diagnostizieren. – Die Erfahrungsobjekte der Sozialwissenschaften dagegen verändern sich innerhalb historischer Zeiträume, zum Teil sogar innert weniger Jahre oder – wenn wir etwa politische Meinungsmehrheiten betrachten - innert weniger Tage oder Wochen. Die erkennbaren Regelhaftigkeiten gelten stets nur „ceteris paribus“, unter sonst gleich bleibenden Bedingungen, und die bleiben meistens nicht auf Dauer gleich. Manchmal tragen Ergebnisse der Sozialwissenschaften sogar absichtlich oder unabsichtlich zur sozialen Veränderung selbst bei. 

Die Ergebnisse der Sozialwissenschaften lassen sich nur ausnahmsweise zu Technologien verdichten, also zu Konzepten und Methoden Probleme lösender Praxis. Zwar haben die Wirtschaftswissenschaften mittlerweile einen Grad der paradigmatischen Verfestigung erreicht, der zum mindesten die Möglichkeit ihrer instrumentellen Anwendbarkeit suggeriert. Soziologie und Politikwissenschaft dagegen sind unter den Prämissen einer freiheitlichen Gesellschaft weder in der Lage noch willens, ihre Gegenstände so zu konstruieren, dass sie technologisch handhabbar erscheinen. Das „technologische Defizit“ ist also nicht der Unfähigkeit dieser Sozial- oder Gesellschaftswissenschaften, sondern der Eigenart ihres Gegenstandes und dessen normativen Implikationen geschuldet. Als Konsequenz einer Gesellschaftsordnung mit hohen Freiheitsgraden verändern sich gesellschaftliche Verhältnisse schneller, und wir legitimieren dies sogar durch das Konzept der Modernität. Modernität ist das kulturelle Bewusstsein der Veränderlichkeit aller Dinge, der „Geist der ewigen Revision“, wie mein Landsmann Jacob Burckhardt formuliert hat. Durch ihre Orientierung an einer stets ungewissen Zukunft unterscheiden sich moderne Kulturmuster zentral von traditionalen. Am Erfahrungsobjekt moderner Gesellschaften gibt es daher wenig fest zu stellen. Die Aufgabe der Sozialwissenschaften ist es vielmehr, die Veränderungen ihrer Gegenstände immer wieder neu auf Begriffe zu bringen. Die gesellschaftliche Dauerbeobachtung ist deshalb eine wichtige praktisch relevante Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften. 

Bereits Wilhelm Dilthey hat als Eigenart der Geisteswissenschaften herausgearbeitet, dass der Forscher hier nicht außerhalb seines Erfahrungsobjekts, sondern stets in seinem Horizont steht. Die Konstruktionen seiner Erkenntnisobjekte stehen zwangsläufig in einem unterschwelligen Zusammenhang mit aktuellen geistigen und vielfach auch politischen Strömungen, und das gilt erst recht für die Sozialwissenschaften. Der hermeneutische Zirkel von kulturellen Vorverständnissen, wissenschaftlicher Erkenntnis und deutungsabhängigem Handeln lässt sich nicht sprengen, sondern nur systematisch reflektieren, um auf diese Weise alternative Interpretationen aufzuzeigen und zu diskutieren. Auch wenn es die Sozialwissenschaften nicht allein mit Kulturtatsachen, sondern auch mit massiveren Zusammenhängen wie Macht, Reichtum und Armut, institutionellen Komplexen oder gewaltsamen Konflikten zu tun haben, bleibt jede Feststellung sogenannter Tatsachen eine Interpretation, die auch anders ausfallen könnte. Die Sozialwissenschaften sind deshalb im Sinne des naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals essentiell unzuverlässig. Wer sich allein auf ihre Aussagen im Handeln verlässt, riskiert Enttäuschungen nicht nur als Ausnahme, sondern als Regel. Erfolgreiches soziales Handeln setzt, wie schon Aristoteles wusste, kluges Verständnis konkreter Situationen und nicht bloß allgemeines Wissen voraus.

Joseph A. Schumpeter hat schon vor hundert Jahren das Erkenntnis-Dilemma der Sozialwissenschaften in dem wohl immer noch gültigen Seufzer formuliert: „Jedem Schimmer einer neuen Erkenntnis wird mit einer an Vandalismus grenzenden Energie Geltung verschafft, ohne die geringste Rücksicht darauf, dass im Leben wie in der Wissenschaft fast ebenso selten etwas ganz Falsches, wie etwas ganz Richtiges gesagt wird, dass nahezu jeder Auffassung irgendeine Beobachtung entspricht, irgendeine Berechtigung zukommt.“1

Wozu also sind dann die Sozialwissenschaften nütze, was kann man als Nicht-Wissenschaftler von ihnen erwarten? Diese Frage ist besonders für die Soziologie bedrängend, die im Unterschied zu den übrigen Sozialwissenschaften nicht einmal den Anschein erweckt, für bestimmte Formen gesellschaftlicher Praxis wegleitend zu sein. Allenfalls könnten bestimmte spezielle Soziologien hilfreich sein, etwa die Wirtschafts-, Medizin-, Rechts- oder politische Soziologie. Doch von wenigen, nur schwach verwissenschaftlichten Praxisfeldern wie der Familie oder der Sozialarbeit abgesehen, konkurriert die Soziologie mit Bezug auf die Interpretation solcher Praxisfelder mit anderen Wissenschaften, und es gelingt ihr wegen ihres indirekteren Handlungsbezugs nur selten, die Interpretation eines Handlungsfeldes zu dominieren.

Der besondere Erkenntnisgewinn der soziologischen Perspektive als Gesellschaftswissenschaft bezieht sich überdies nicht auf spezifische Praxisfelder, sondern auf die Zusammenhänge und Wechselwirkungen, die zwischen unterschiedlichen Handlungssystemen bestehen.

Wenn ‚Gesellschaft’ mehr sein soll als eine Allerweltsbezeichnung, wenn dem Wort soziologische Bedeutung zugemessen wird, so geht es ungeachtet verschiedener Theoriesprachen doch stets um die Bezeichnung einer die alltäglichen Erfahrungshorizonte übergreifenden, in gewisser Hinsicht synthetisierenden oder zum mindesten bereichsspezifische Einsichten relativierenden Perspektive. So macht beispielsweise die Wirtschaftssoziologie darauf aufmerksam, dass die heute dominierende Marktwirtschaft und ihre Wissenschaft keineswegs die Gesamtheit der Wohlfahrt produzierenden Vorgänge umfassen, sondern die Haushaltproduktion und ehrenamtliche Tätigkeiten systematisch ausklammern. Vieles was statistisch als Wirtschaftswachstum ausgewiesen wird, ist in Wirklichkeit eine Verschiebung der Produktion aus dem informellen in den formellen Wirtschaftssektor. Vor allem muss die Soziologie gegenüber der marktwirtschaftlichen Ordnungstheorie darauf bestehen, dass diese keine Gesellschaftstheorie, sondern eine normative Theorie für ein bestimmtes gesellschaftliches Teilsystem - Wirtschaft - bleibt.

Daraus folgt allerdings auch, dass Soziologen, die sich diagnostisch mit Feldern gesellschaftlicher Praxis auseinandersetzen wollen, die in diesen Feldern vorherrschenden Wissenschaftssprachen kennen und wenn möglich in etwa beherrschen sollten, dass sie also über ein multidisziplinäres Wissen verfügen sollten. Gerade die Soziologie müsste in der Lage sein, die Voraussetzungen einer Systemgrenzen übergreifenden Kommunikation zu reflektieren. Die Sozialwissenschaften sollten sich nicht nur ihrer theoretischen Grundlagen, sondern auch der pragmatischen Bedingungen ihrer Wirksamkeit vergewissern.2

Ein gutes Beispiel einer wissenschaftlich fundierten Sozialdiagnose stellt das Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ (München 2003) des Ökonomen Hans-Werner Sinn dar. Er zeigte den Mut, die Fachgrenzen zu überschreiten und die Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft, Politik, Sozialstaat und sozialen Mentalitäten im Horizont von Wiedervereinigung, Europäischer Integration und Globalisierung zu thematisieren. Er hat dies in einer leicht fasslichen, bilderreichen und daher auch den Laien zum Lesen motivierenden Sprache getan. Er hat eine Brücke zwischen wissenschaftlicher Analyse und bestimmten gesellschaftlichen Vorverständnissen geschlagen, was ihm nicht nur Anerkennung, sondern auch Kritik eingetragen hat. Sein Zentralproblem, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, ist entgegen dem ersten Anschein kein ausschließlich ökonomisches, sondern ein gesellschaftliches und damit multi- oder interdisziplinär zu bearbeitendes.

Sinns Buch endet mit einem Bündel drastischer Handlungsempfehlungen, die ihre Plausibilität einer individualistischen Sozialtheorie und dem Paradigma der Marktwirtschaft sowie einer großen Vertrautheit mit den bundesdeutschen Verhältnissen verdanken. Das ist für Wirtschaftswissenschaftler typisch, wenn sie sich praktischen Problemen zuwenden. Dem Soziologen ist ein derartig handlungsorientierter Habitus eher fremd. Die Einsicht in die Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge und in die Kontingenz der Verhältnisse zwischen Wissenschaft und Politik machen ihm das Risiko generalisierender Handlungsempfehlungen bewusster. Die Nützlichkeit soziologischer Einsichten für gesellschaftliche Praxis besteht deshalb auch nicht in Handlungsempfehlungen. Worin aber dann?

In seiner Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ hat Karl Marx die zentrale Funktion der Soziologie in folgendes Bild gebracht: „Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.“3 Indem er die politische Ökonomie seiner Zeit als Ideologie der herrschenden bürgerlichen Klasse entlarvte, der kapitalistischen Klassengesellschaft somit „ihre eigene Melodie vorsang“, hat er eben diese Verhältnisse in Bewegung – „zum Tanzen“ – gebracht. Sie wurden zwar nicht, wie er hoffte, durch den historischen Sprung in eine klassenlose Gesellschaft überwunden, aber sie wurden modifiziert durch die sozialstaatliche Entwicklung, durch einen neuen, zuerst von Lorenz von Stein formulierten Klassenkompromiss, demzufolge der Staat auf der Verfassungsebene das Eigentum der Bürger zu schützen, auf der Verwaltungsebene aber die Lebensperspektiven der Arbeiter zu fördern habe.

Die gesellschaftswissenschaftliche Analyse ist geeignet – so lässt sich bündig behaupten – die Reflexivität der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erhöhen. Genau diese Leistung hat sie auch mit anderen Wissenschaften gemeinsam: Verwissenschaftliche Praxis ist zwar keine Praxis der Wissenschaft, aber sie unterscheidet sich vom spontanen, bloß situationsabhängigen Handeln durch ihre Reflexivität, durch ihre argumentative Begründbarkeit gegenüber Dritten. Nicht die Wahrheit ihrer Argumente, die – folgt man dem zitierten Seufzer Schumpeters – ja immer in Frage gestellt werden kann, macht die praktische Leistung der Sozialwissenschaften aus, sondern die Form des Arguments. Die zunehmende soziale Verbindlichkeit, kollektives Handeln gegenüber den Beteiligten und gegenüber Dritten argumentativ zu rechtfertigen, macht den Fortschritt aus, den die Sozialwissenschaften exemplarisch möglich gemacht haben und weiter ermöglichen. 

Praktisch relevant werden sozialwissenschaftliche Einsichten und Argumente, insoweit sie in außerwissenschaftlichen Kontexten rezipiert und argumentativ verwendet werden. Dies gilt insbesondere für öffentliche Diskurse und ihre mediale Verbreitung, aber auch für Prozesse organisationsinterner Beratungen. Nach allem, was wir über den Transfer sozialwissenschaftlichen Wissens in organisierte Entscheidungsprozesse wissen,4 tritt diese Form der Wirksamkeit allerdings stark gegenüber der öffentlichen Verbreitung zurück. Denn die spezifische Selektivität von Organisationen und der in ihnen tätigen Experten führt in der Regel nur zur punktuellen, aus dem Zusammenhang gerissenen Übernahme von Informationen und Argumenten. Natürlich wählen auch die Massenmedien nach unwissenschaftlichen Maßstäben aus, aber die Vielfalt massenmedialer Kommunikation erhöht doch die Wahrscheinlichkeit, dass Befunde und Argumente durch fortgesetzten Gebrauch ihre Deutungskraft im Zusammenhang entfalten können. Typischerweise braucht es deshalb auch längere Zeit, bis sich bestimmte sozialwissenschaftliche Begriffe und Diagnosen durchsetzen. 

Die Konsequenzen dieser Umstände für die Sozialwissenschaftler selbst hat Renate Mayntz (auch eine Trägerin des Schader-Preises) klarsichtig formuliert:

„Als Wissenschaftler auf die Norm der Rationalität verpflichtet, neigen wir dazu, die Verwendung von Wissen als einen rationalen Prozess zu sehen, obwohl uns doch als Soziologen klar sein müsste, dass Wissen im Alltagsleben zunächst und vor allem der Sinndeutung, der Interpretation von Ereignissen und der Definition und Umdefinition von Situationen dient. Das heißt dann auch, dass im Prozess indirekter Beeinflussung weniger das eine Rolle spielt, was wir etwa an gesicherter empirischer Theorie besitzen, als vielmehr die von der Sozialwissenschaft angebotenen wahrnehmungslenkenden Begriffe und weitreichenden spekulativen Deutungen gesellschaftlicher Vorgänge.“5

Die charakteristische Leistung sozialwissenschaftlichen Wissens für gesellschaftliche Praxis liegt in der Beeinflussung handlungsrelevanter Situationsdefinitionen. Nicht die Art und Weise der Problemlösung entspringt sozialwissenschaftlichem Wissen, über das praktisch Mögliche wissen die Praktiker besser Bescheid. Aber häufig wird die Definition des Problems durch sozialwissenschaftliche Informationen, Begriffe und Argumente mit bestimmt, und damit auch der Raum der Suche nach Lösungen. 

Praktisch attraktiv wird sozialwissenschaftliches Wissen somit, wenn es zu einer klareren Wahrnehmung gesellschaftlicher Sachverhalte hilft, sei es durch die Bereitstellung neuer Begriffe oder durch viele Einzelinformationen synthetisierende Diagnosen. Sozialwissenschaftler die der Veränderung gesellschaftlicher Praxis dienen wollen, müssen das Risiko der Diagnose übernehmen, das Risiko der Therapie bleibt bei den Praktikern.Um im Handlungskontext verstanden zu werden, tun sie gut daran, die dort vorherrschenden Auffassungen als Material für ihre Rekonstruktionen mit zu berücksichtigen. Denn alle öffentlichen Argumentationen sind in implizite Plausibilitätsstrukturen eingebettet, welche auch die Rezeption sozialwissenschaftlicher Einsichten steuern. Allerdings können sich derartige Plausibilitäten im Laufe der Zeit ändern, und zwar nicht zuletzt als Folge der Diffusion sozialwissenschaftlicher Begriffe und Deutungsmuster. So trägt deren Verbreitung dazu bei, die öffentliche Aufnahmefähigkeit für konkretere sozialwissenschaftliche Interpretationen zu erhöhen. Dadurch wird die Brücke zwischen Gesellschaftswissenschaften und Praxis allmählich tragfähiger. 

Um dieses Brückenschlages willen wurde die Schader-Stiftung gegründet, und wir Sozialwissenschaftler haben allen Anlass, hierfür dankbar zu sein.

1J.A. Schumpeter: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie. Leipzig 1908, S. 428 f.

2Hierzu ausführlicher Franz-Xaver Kaufmann: Sozialpolitisches Erkenntnisinteresse und Soziologie: Ein Beitrag zur Pragmatik der Sozialwissenschaften (1977) in: Ders.: Sozialpolitik und Sozialstaat: Soziologische Analysen. Wiesbaden 2005, S. 31-68.

3MEW 1, S. 381.

4Vgl. insbesondere Wolfgang Bruder: Sozialwissenschaften und Politikberatung. Zur Nutzung sozialwissenschaftlicher Informationen in der Ministerialorganisation. Opladen 1980. Ferner zahlreiche Hinweise in: Wissenschaftszentrum Berlin (Hrsg.): Interaktion von Wissenschaft und Politik. Frankfurt/New York 1977; Ulrich Beck (Hrsg.): Soziologie und Praxis. Soziale Welt, Sonderheft 1, Göttingen 1982. Bemerkenswerterweise wird das Transferproblem in der neueren soziologischen Literatur kaum mehr thematisiert. Damit verschenkt die Profession eine wesentliche Chance zur Steigerung ihrer eigenen Reflexivität.
5Renate Mayntz: Soziologisches Wissen und politisches Handeln. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie (1980) 309-320, Zitat S. 315 f.

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