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Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften und das Problem der (Un-)Verständlichkeit

Artikel vom 29.05.2019

Übersetzungsleistungen von Wissenschaft und Praxis sind gefordert, wenn Verständlichkeit hergestellt werden soll. Das wachsende Verständnis um die Differenz der jeweils anderen Sphäre wirft auch ein neues Licht auf die eigene Praxis. Von Gunther Hellmann

Unterschiedliche Selbstverständlichkeiten

Das Verhältnis zwischen „Wissenschaft“ und „Praxis“ ist offensichtlich nicht einfach – und schon gar nicht selbstverständlich. Das gilt vor allem für die Gesellschaftswissenschaften auf der einen und die Praxen der Gesellschaft auf der anderen Seite. Dass sich beide (irgendwie) zueinander zu verhalten haben, ist dabei allerdings unstrittig. Dies wurde im Rahmen des Symposiums „Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften“ in vielfältiger Weise beleuchtet. Die Wissenschaft im Allgemeinen und die Gesellschaftswissenschaften im Besonderen, so heißt es etwa, hätten eine „Bringschuld“ gegenüber Gesellschaft und Praxis. Nicht ganz so häufig ist davon die Rede, dass vielleicht auch die „Praxis“ eine „Holschuld“ bei der Wissenschaft haben könnte.1 Aber das zu Bringende (beziehungsweise zu Holende) scheint sich nur in eine Richtung zu bewegen. Wissen soll für die Praxis nutzbar gemacht werden – und das erfordert einen kommunikativen Austausch, in dem die Wissenschaft ihr Wissen zur Verfügung stellt.

Die Forderung, dass dieser „Wissenstransfer“ in verständlicher Form geschehen müsse, ist dann in der Regel nicht weit – einschließlich der Klage, dass die Wissenschaft sich oft nicht hinreichend um Verständlichkeit bemühe, ja an manchen Stellen sogar ein „Recht auf Unverständlichkeit“ einfordere.2 Auf den ersten Blick muten Forderung wie Klage merkwürdig an, ist Verständlichkeit recht eigentlich doch die immer schon unhinterfragte Grundprämisse eines jeden kommunikativen Aktes: wer etwas sagt, will verstanden werden, auch wenn er um die Möglichkeit des Missverständnisses beziehungsweise des Nicht-Verstandenwerdens weiß. Die Prämisse unterstellt im Kontext des Verhältnisses von Wissenschaft und Praxis allerdings eine Kommunikationsbeziehung, die deshalb nicht selbstverständlich ist, weil primärer Adressat wissenschaftlicher Sprechakte die Wissenschaft und eben nicht die Praxis ist. Oder anders formuliert: Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften (im Sinne des objektiven Genitivs) ist wesentlich eine theoretische in dem Sinne, dass es ihr (zunächst) um eine Verständigung innerhalb der Wissenschaft geht – und gehen muss. Umgekehrt ist die primäre Aufgabe der Praxis ja auch, mit vorhandenen Fähigkeiten und verfügbarem praktischen Wissen anstehende praktische Probleme zu lösen (und nicht etwa der Wissenschaft nachzulaufen, was sie denn zur Lösung solcher Probleme anzubieten hat). Dies ist auch der Grund dafür, dass Verständlichkeit zwischen Wissenschaft und Praxis für beide zu einem Problem wird, ja werden muss, wie sie es für jede der beiden für sich genommen gerade nicht ist – eben weil die Wissenschaft der Wissenschaft genauso selbstverständlich ist wie die Praxis der Praxis.

Eine erste Voraussetzung für einen produktiven Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis ist daher zunächst der wechselseitige Respekt für die unterschiedlichen Selbstverständlichkeiten beider Sphären. Auch wenn Wissenschaft nie „Selbstzweck“ sein kann, muss sie, um Friedhelm Neidhardts Plädoyer für das „Recht“ der Wissenschaft auf „Unverständlichkeit“ aufzugreifen, „um leistungsfähig zu sein, ein Spiel nach aparten Regeln vollziehen“. Dazu gehörten „ein hohes Maß an epistemischer Selbstreferenz, eine eigene Zeitökonomie und auch das selbstkritische Wissen um die Unabschließbarkeit aller Erkenntnis.“ Ein „Recht auf Unverständlichkeit“ zu reklamieren heißt nicht, dass man dieses auch dann wahrnimmt, „wenn es zur Selbstverständigung gar nicht gebraucht wird“. Es bedeutet allerdings, dass es „absurd“ wäre, „Forschung generell an die Auflage binden zu wollen, dass Laien sie verstehen können müssen“3 – ganz abgesehen davon, dass sich die Erfolgsbedingungen eines solchen Verständnisses schwerlich in abstrakter Form vorab fixieren ließen.

Wechselseitiges Bemühen um Verstehen

Die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Praxis wird dann zum (lösenswerten und lösbaren) Verständigungsproblem, wenn die Wissenschaft zur Lösung von solchen Problemen beitragen kann und will, die der Praxis wichtig sind und für die sie von sich aus meint, auf Wissenschaft rekurrieren zu sollen. Das sind dann offenkundig praktische und keine „theoretischen“ Probleme – Probleme also, die eine andere Art der Verständigung und des sich Verständlichmachens erfordern als jene, die in der wissenschaftsinternen Verständigung unterstellt werden dürfen. Zudem werden dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Probleme sein, zu denen die Wissenschaft etwas beizutragen hat, das über das vorhandene praktische Wissen der Praxis hinausreicht. Wissenschaft muss für solche praktischen Probleme also mehr als das der Praxis selbstverständliche Problemlösen im Angebot haben, um einen Mehrwert zu bieten – und dieses über das Selbstverständliche hinausreichende Mehr wird vermutlich zumeist in einer (zumindest wissenschaftlich informierten) Sprache präsentiert werden müssen, die beim Adressaten der Praxis Irritationen hervorruft und seine bereitwillige Auseinandersetzung mit neuen Perspektiven erfordert und einfordert.

Neue, über das der Praxis Selbstverständliche hinausreichende Perspektiven aus der Wissenschaft lassen sich auf eine im Suffix des Begriffs der „Verständlichkeit“ transportierte Eigenschaft einer kommunizierten Botschaft4 allerdings nicht reduzieren. Genau darin liegt das Missverständnis der Klage über eine vermeintlich mangelnde Verständlichkeit der Wissenschaft. Sie fixiert Sender und Botschaft, vernachlässigt aber die prozessuale und dialogische Dimension des im Suffix der „Verständigung“ enthaltenen wechselseitigen Bemühens um Verstehen. Sich auf Seiten der Wissenschaft um Verständlichkeit zu bemühen ist notwendig, aber nicht hinreichend, um Verstehen zu ermöglichen. Erst durch die Anstrengung des Verstandes5 (als eines Verstehen-Wollens) auf Seiten der Praxis kann Verständigung gelingen – und dafür ist es notwendig, eine anders geartete Selbstverständlichkeit wissenschaftlicher Kommunikation in Rechnung zu stellen und anzuerkennen. In gelingender Kommunikation sind Übersetzungsleistungen von beiden Seiten, Wissenschaft und Praxis, gefordert, wenn Verständlichkeit hergestellt werden soll. In mancherlei Hinsicht werden gelingende, das heißt Verständigung durch Irritation erzielende Kommunikationen zwischen Wissenschaft und Praxis auch eine „Entselbstverständlichung“6 des für beide Selbstverständlichen mit sich bringen, weil das wachsende Verständnis um die Differenz der jeweils anderen Sphäre auch ein neues Licht auf die eigene Praxis wirft. Genau darin liegt der Reiz, aber auch die Herausforderung des Austauschs zwischen Wissenschaft und Praxis.

In diesem Zusammenhang ist es seit langem ein nicht ganz marginales Problem der Praxis der Gesellschaftswissenschaften (wie auch der Praxis der Praxis), dass zu wenige Räume verfügbar sind, um diese Verständigung als Prozess zu ermöglichen. Christof Eichert hat im Rahmen dieses Symposiums völlig zu Recht angemahnt, dass „Habitus und Ort gewechselt werden müssen“, damit Gesellschaftswissenschaften und Praxis „in einen Dialog treten“ können. Dadurch, dass die Schader-Stiftung seit Jahren solche Räume bereitstellt, leistet sie einen unschätzbaren Beitrag zur besseren Verständlichkeit der Gesellschaftswissenschaften und zur Verständigung zwischen Wissenschaft und Praxis.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der erweiterten Dokumentation des Symposiums „Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften“, das anlässlich des 90. Geburtstags des Stifters Alois M. Schader am 16. Juli 2018 im Schader-Forum stattfand.

Gunther Hellmann: Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften und das Problem der (Un-)Verständlichkeit, in: Alexander Gemeinhardt (Hrsg.): Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften. 30 Jahre Schader-Stiftung, Darmstadt 2018, 178-180.

Der Autor:
Prof. Dr. Gunther Hellmann, geboren 1960, ist seit 1999 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt deutsche und europäische Außenpolitik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

1 So aber etwa Schmidt, Helmut (2011): Wissenschaft und Gesellschaft. Forschung heißt, Verantwortung für die Zukunft zu tragen. In: Die ZEIT, Nr. 3/2011 vom 13.01.2011. Online verfügbar unter www.zeit.de/2011/03/100-Jahre-KWG-Rede (04.10.2018).

2 So etwa im affirmativen Sinne Neidhardt, Friedhelm (2002): Wissenschaft als öffentliche ngelegenheit. WZB-Vorlesungen 3. Berlin: Wissenschaftszentrum, S. 23. Online verfügbar unter nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-110101 (04.10.2018). Kritisch u.a. Selke, Stefan / Treibel, Annette (2018): Relevanz und Dilemmata Öffentlicher Gesellschaftswissenschaften – ein Dialog über Positionen. In: dies. (Hrsg.): Öffentliche Gesellschaftswissenschaften. Grundlagen, Anwendungsfelder und neue Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS, S. 11.

3 Neidhardt, Friedhelm: Wissenschaft als öffentliche Angelegenheit, a.a.O., S. 25.

4 Vgl. hierzu die im Grimm’schen Wörterbuch angebotene Definition von Verständlichkeit als „die eigenschaft, da ein ding, besonders ein wort oder rede, verständlich ist, klare und deutliche begriffe gewähret“. Grimm, Jacob und Wilhelm (1854-1961): Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig: S. Hirzel. Quellenverzeichnis zum Deutschen Wörterbuch, Band 33. (1971). Online verfügbar unter Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier, woerterbuchnetz.de/cgi-in/WBNetz/wbgui_py (04.10.2018).

5 Vgl. hierzu die Diskussion zur etymologischen Wurzel von „Verständlichkeit“ im lateinischen „rationalitas“ bei Asmuth, Bernhard (2009): Der Beitrag der klassischen Rhetorik zum Thema Verständlichkeit. In: Antos, Gerd (Hrsg.): Rhetorik und Verständlichkeit. Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 28. Tübingen: Niemeyer, S. 1–20.

6 Vgl. Blumenberg, Hans (1960): Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für  Begriffsgeschichte 6, S. 49.

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