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Nachbarschaft wieder entdeckt

Artikel vom 07.06.2006

Komplementär zur Individualisierung ist eine neue Gemeinschaftssehnsucht entstanden. Dieser Wunsch nach Gemeinschaft erfüllt sich heute weniger im Verein, einer Partei oder einer Kirche, sondern im Nachbarschaftlichen.

Nachbarschaft als Abgrenzung nach außen und Einheit nach innen

Was im herkömmlichen Wohnungsbau - bei Miete und Eigentum gleichermaßen - mangels Teilhabemöglichkeiten nicht erkennbar werden kann, wird bei den so genannten neuen Wohnformen offenkundig. Es besteht der Wunsch nach der kleinen überschaubaren Einheit, nach Verinselung, Heimat, Rückzug, weitgehender Sicherheit und unmittelbarer persönlicher Fürsorge sowie nach Teilhabe. Die den neuen Wohnformen zuzurechnenden Projekte suchen deshalb nach Abgrenzung und Einheit. Sie streben nicht nach Verallgemeinerung und entsprechender äußerer Präsentation, sondern nach Teilhabe an den unmittelbaren alltäglichen Belangen. Sie stellen auch keine soziale Utopie dar und sie betreiben nicht die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Teilhabe im Wohnungsbau

Die Teilhabe- und Kommunikationswünsche werden beim Wohnungsbau und der Bestandserhaltung noch oft als eine einseitige Information angesehen. Partizipation bedeutet aber mehr. Teilhabe ist:

  1. eine Methode, um die Kompetenz der Nutzer in die Planung einzubeziehen,
  2. eine Methode zur Balancefindung zwischen öffentlichen und privaten Interessen und der Konstituierung wechselseitiger Verantwortung,
  3. eine Methode zum Ausgleich unterschiedlicher nachbarschaftlicher Interessen und somit
  4. gleichsam immanent, also nicht instrumentell eingesetzt, ein gemeinschaftskonstituierendes Mittel.

Gemeinschaftliche Beziehungen und familiale Unterstützung als Gründungsmotiv

In den neuen Wohnformen, die immer wieder als Referenz für neue Lebensstile herhalten müssen, weil im herkömmlichen Wohnungsbau keine Experimentierfelder geboten werden, ist als Tendenz die Entwicklung bzw. bewusste Organisation nachbarschaftlicher sozialer Netze bei den neuen Wohnformen schon in den 80er Jahren vorhanden gewesen; gemeinschaftliche Beziehungen und Aktivitäten im Rahmen einer Gruppe über die jeweilige Wohnung hinaus waren oft wesentliches Gründungsmotiv von Wohnprojekten.

Die Bandbreite von Ansprüchen und ihrer Umsetzung war hierbei groß - und keineswegs immer an explizit "alternativen Lebensweisen" ausgerichtet. Die gesellschaftlich relevanten Funktionen der neuen Wohnformen richten sich bis heute hauptsächlich nach innen auf die abgegrenzte Gruppe, ähnlich wie die Kleinfamilie ihre Unterstützungsfunktion auf sich und einen kleinen engeren Freundeskreis beschränkt. Es ist kein Wunder, dass unter den neuen Wohnformen die klein-familialen dominieren. Diese Wohnform ist noch immer die erstrebenswerteste. Aber die mit dem gesellschaftlichen Strukturwandel mehr und mehr überforderte Familie bedarf einer Entlastung. Die gemeinschaftliche Organisation von Haushaltsfunktionen (Einkaufen, Kochen, Gartenpflege usw.) soll Arbeitsentlastung einerseits, soziale Beziehungen andererseits bieten, die dem familialen Zusammenleben größere Flexibilität und Stabilität zugleich ermöglichen.

Solche Lebensformen führen zu komplizierteren Definitionen und Abgrenzungen der privaten Bereiche gegenüber denen der Nachbarschafts-Öffentlichkeit als im herkömmlichen Wohnungsbau.

Genossenschaften als traditionelle Form gemeinschaftlichen Wohnens

Traditionell entwickelte sich die räumliche und soziale Figuration der Städte segregativ entsprechend den sozialen Schichten und Einkommensklassen. Innerhalb dieser haben sich bestimmte Baukulturen entwickelt, z.B. das genossenschaftliche Bauen, das explizit die soziale Gemeinschaft in den Mittelpunkt der Bemühungen stellte.

Die Urkunden und die Gruppenfotos aus der Gründerzeit Ende des 19. Jahrhunderts sind stolze Beispiele des Gemeinsinns innerhalb der Gruppe. Das gute genossenschaftliche Bauen zeichnete sich gerade dadurch aus, dass es die Segregation der Genossen betonte, und viele Siedlungen weisen bauliche Elemente und Konfigurationen auf, wie z.B. Hofbildungen und Tore, die das Schützende der Gemeinschaft unterstreichen - so wie auch heute der Wohnhof die beliebteste Bauform der Wohngruppen darstellen würde - ließen die Bebauungspläne das zu.

Soziale Distinktion versus soziale Mischung

Der Wunsch nach Segregation wird in der Stadtplanung und beim Wohnungsbau oft zu wenig beachtet. Noch immer besteht die Meinung, soziale Mischung sei anzustreben und könne gesteuert werden. Selbst bei Pilotprojekten im Wohnungsbau werden idealtypische soziale Konstellationen am Plantisch entworfen. Gerade diejenigen Projekte erweisen sich in der Praxis oft als mangelhaft, die sich sozial besonders engagiert wähnten, indem soziale Heterogenität baulich und organisatorisch durchgesetzt wurde. So wird z.B. die undifferenzierte bauliche Integration von Eigentumswohnungen und Mietwohnungen von den Bauträgern inzwischen als gescheitertes Experiment betrachtet. Sie war einmal aus ideologischen Gründen - zur Herstellung der "sozialen Mischung" - propagiert worden. Die Käufer wünschen ihren sozialen Status darzustellen. Selbst in einem mit hohem Aufwand realisierten Projekt wie dem Integrierten Wohnen in Kempten standen jahrelang die Eigentumswohnungen leer, weil zu wenig Abgrenzungsmöglichkeiten geboten wurden.

Im gesellschaftlichen Wandel wird für die soziale Egalisierung das Fundament schmaler und zugleich entsteht das Bedürfnis nach schützender Gemeinschaft neu. Diese speist sich jetzt aber nicht mehr aus der Welt der Arbeit, sondern aus städtischen Milieus. Dabei sind die sozialen Einheiten sehr klein und umfassen nach dem Idealbild nicht mehr als 20 Haushalte.

Wer am Wohnen in einer solchen Gemeinschaft interessiert ist, muss mit Gleichgesinnten eine neue Gemeinschaft gründen. Dabei finden sich diese Gleichgesinnten nicht mehr am Arbeitsplatz, sondern in Kindergruppen, Selbsthilfegruppen, in Kirchengemeinden, in esoterischen Gruppen oder bei "Projekttagen", die von Professionellen veranstaltet werden. Auch die Bauträger, die neue Wohnformen zur Miete anbieten - oft sind es kirchliche -, halten sich an diese Grundsätze bei der Aus-wahl der Bewohner, denen sie ausreichend Gelegenheit geben, sich kennen zu lernen, um bewusste Entscheidungen für ihre neuen Nachbarn zu treffen.

Voraussetzungen für "neue Nachbarschaften"

Auf die "neuen Nachbarschaften" oder auch nur ihre Neuinszenierung richten sich heute Hoffnungen und Erwartungen. Planerische Bemühungen, nachbarschaftliche Beziehungen durch bestimmte Siedlungsformen zu erzeugen, sind gescheitert. Aber gute nachbarschaftliche Beziehungen sind praktisch überall möglich.

Es gibt eine Reihe von Faktoren, die nachbarschaftliche Beziehungen begünstigen und die bei der Siedlungsplanung beachtet werden können. In einer abgegrenzten Siedlung gibt es mehrere Stufen der Nachbarschaft:

  1. die Nachbarschaft von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung,
  2. die Nachbarschaft in einer Straße, einem Wohnhof,
  3. die weitere Nachbarschaft in der Siedlung.

Die unmittelbaren nachbarschaftlichen Beziehungen von Haus zu Haus sind unprätentiös und pragmatisch. Die Mehrzahl der Bevölkerung pflegt solche nachbarschaftliche Beziehungen. Sie beruhen auf Sympathie, sind mehr oder weniger eng. Die Wohnform müsste aber - auch im Freiraum - Distanzierung erlauben. Die engeren "Hofnachbarschaften" oder "Straßennachbarschaften" erfordern bereits ein gemeinsames Interesse, Kinder in gleichem Alter z.B., und damit eine bestimmte soziale Homogenität der Bewohner.

Was heißt heute Siedlung?

Die Grenze ist ein Faktor für die Identität einer Siedlung. In jedem Fall, im positiven wie im negativen, ist mit "Siedlung" immer eine Abgrenzung verbunden im Unterschied zur grenzenlosen und "zusammenhanglosen" Zersiedelung von Landschaft. Nur durch die Grenzziehung kann eine Siedlung letztlich Identität bekommen, die für die Bewohner sehr wichtig ist. Es handelt sich um eine räumliche und soziale Grenzziehung gleichermaßen. Die Grenze ist somit auch ein Schutz.

Anstelle von Grenze könnte man auch von Zugang sprechen. Zugang kennzeichnet die Schwelle zwischen drinnen und draußen; Zugang zu Bildung, Wissen und Informationen; zum Arbeitsmarkt, zum Wohnungsmarkt; zum Gesundheitssystem; zu bestimmten Lebensweisen, zu Vereinen. Kennzeichen einer demokratischen offenen Gesellschaft ist es, jedem die Chance zu geben, freien Zugang zu finden. Wo aber Zugang ist, ist auch Begrenzung.

In der Geschichte des Siedlungsbaus hat der Zugang eine große Bedeutung. Ihm wurde oft größte Aufmerksamkeit gewidmet. Genossenschaftssiedlungen mit Torbogen im Eingangsbereich signalisierten den Beginn eines halbprivaten Raums, die Grenze eines gruppenbezogenen Territoriums. Beispiele dafür sind die Höfe-Architektur in Wien oder die Borstei in München.

Zugangsbegrenzungen sind heute wieder aktuell. Gerade bei den so genannten alternativen Wohngruppenprojekten ist der Wohnhof Metapher für eine geschlossene Gemeinschaft. Wer Zugang finden möchte, muss die religiösen, politischen, kommunitären o.a. Neigungen der Bewohner teilen.

Literatur

Harloff, Hans J.; Christiaanse, Kees; Dienel, Hans-Liudger; Wendorf, Gabriele; Zillich, Klaus (Hg.): Nachhaltiges Wohnen. Befunde und Konzepte für zukunftsfähige Stadtquartiere. Heidelberg 2002

Hondrich, Karl Otto: Ende oder Wandel der Industriegesellschaft. In: Merkur 1/1996

Plate, Achim: Wohnen und Arbeiten im 21. Jahrhundert. Das telematische Stadtquartier "Klosterforst" in Itzehoe. In: Schader-Stiftung (Hg.): wohn:wandel. Szenarien, Prognosen, Optionen zur Zukunft des Wohnens. Darmstadt 2001. S. 149-158

Überforderte Nachbarschaften. Zwei sozialwissenschaftliche Studien über Wohnquartiere in den alten und den neuen Bundesländern. GdW Schriften 48 aus der Reihe GdW Schriften des GdW Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen e.V. Köln und Berlin 1998


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