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Neue Verantwortungen – Die Koproduktion von Gemeinwohl

Artikel vom 21.12.2012

Wenn Politik und Verwaltung, Unternehmen, die Zivilgesellschaft mit ihren Initiativen, Vereinen, Stiftungen, Kirchengemeinden und Weiteren sowie die Bürger an einem Strang ziehen, um den Herausforderungen vor Ort zu begegnen, dann entstehen Strukturen neuer Verantwortungen. Wie kann die Koproduktion von Gemeinwohl vor Ort gestaltet werden? Von Kirsten Mensch

Neue Verantwortungen – die Koproduktion von Gemeinwohl

Der demographische Wandel, die Anforderungen des Klimawandels sowie der Bildungs- und Arbeitswelt, die Schuldenlast öffentlicher Haushalte bei gleichzeitiger Notwendigkeit, Infrastruktur und lokale Angebote zu erhalten: die Herausforderungen unserer Zeit sind groß. Insbesondere in den Kommunen sind die Effekte und Lasten dieser Herausforderungen zu spüren. Dort wird nach Lösungen gerufen und gerungen, obgleich viele der Probleme nicht lokalen Ursprungs sind.

„Die Dimension der Probleme, die auf uns zu kommen“, so Loring Sittler vom Generali Zukunftsfonds, „sind so groß, dass more of the same uns nicht retten wird.“

Statt mehr dessen, was seit Jahren versucht wird, thematisierte die Tagung „Neue Verantwortungen – Die Koproduktion von Gemeinwohl“ einen neuen Ansatz. Sie fand am 13. und 14. Dezember 2012 im Schader-Forum, Darmstadt, unter intensiver Beteiligung der Teilnehmenden statt. Dieser Bericht fasst Vorträge und Diskussion der Tagung zusammen, stellt die in Arbeitsgruppen entwickelten Leitthesen vor und gibt Ausblicke auf Schritte zur Weiterführung der Debatte. Statt einer chronologischen Berichterstattung folgen diese Aufzeichnungen inhaltlichen Gesichtspunkten. Daher finden sich hier keine Zusammenfassungen einzelner Vorträge, sondern Erkenntnisse, die sich aus den Beiträgen aller Referenten sowie der mitdiskutierenden Tagungsteilnehmer ziehen lassen. Das hier versammelte Wissen stammt somit von den Mitwirkenden im Plenum und in den Arbeitsgruppen sowie den Referentinnen und Referenten:

  • Prof. Dr. Arthur Benz, Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Darmstadt
  • Prof. Dr. Klaus J. Beckmann, Deutsches Institut für Urbanistik, Berlin
  • Prof. Dr. Georg Cremer, Deutscher Caritasverband, Freiburg
  • Dr. Walter Häcker, Arbeit zuerst eG, Stuttgart
  • Prof. Dr. Martin Junkernheinrich, Lehrstuhl für Stadt-, Regional- und Umweltökonomie, Technische Universität Kaiserslautern
  • Matthias Klippel, Agrarunternehmen „Wöllmisse“ Schlöben eG
  • Alexander Künzel, Bremer Heimstiftung / Netzwerk SONG
  • Dr. Kirsten Mensch, Schader-Stiftung, Darmstadt
  • Frank Priebe, Hallenbad Nörten-Hardenberg eG
  • Prof. Dr. Roland Roth, Hochschule Magdeburg-Stendal / DESI Berlin
  • Loring Sittler, Generali Zukunftsfonds, Köln
  • Volker Will, Deutsche Kreditbank AG, Berlin

Die Herausforderungen unserer Zeit

Man benötigt nur wenig Zahlen, um das Ausmaß der auf uns zukommenden Probleme zu verdeutlichen. Bis 2030, so zitiert Loring Sittler derzeitige Schätzungen, wird es in Deutschland 6,3 Millionen weniger Erwerbstätige geben. Im gleichen Zeitraum werden wir hingegen 5,5 Millionen mehr Menschen verzeichnen, die 65 oder älter sind. Wie soll das wirtschaftlich bewältigt werden? Trotz des voraussehbaren Mangels an Erwerbstätigen leistet sich das Land eine Schulabbrecherquote von 8,5%. Zudem gilt ein zu großer Anteil jener, die einen Schulabschluss besitzen als nicht ausbildungsfähig. Ebenso geht die Anpassung an die älter werdende Bevölkerung nur schleppend voran, wie man an Wohnungen und Wohnumfeld sehen kann: Allenfalls 2% der Wohnungen in Deutschland sind alternsgerecht ausgebaut. Neben diesen der Demographie geschuldeten Problemen treten mit dem Klimawandel, der Energiewende sowie der wachsenden sozialen Spaltung weitere Herausforderungen in den Vordergrund, wie Klaus J. Beckmann gleich zu Beginn der Tagung beispielhaft auflistet.

Parallel dazu stehen wir vor einem Staat, der auf allen Ebenen „hoffnungslos überschuldet“ ist. Martin Junkernheinrich verdeutlicht: „Seit 30 Jahren geben wir mehr aus, als wir vereinnahmen.“ Dass Kreditinstitute dies kritisch beäugen, ist verständlich. Der Staat rückt an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Das könnte sich insbesondere im Sozialbereich auswirken, denn die Hälfte der Deckungslücke lässt sich dort verorten. Aber: Wenn der Staat den sozialen Ausgleich nicht mehr finanzieren kann, wer würde, wer könnte an seine Stelle treten?

Zugleich sinkt der Legitimationsglaube, der unserem politischen System entgegengebracht wird. Roland Roth berichtet, dass eine Mehrheit der Bevölkerung davon ausgeht, es sei legitim, von den zuständigen gewählten Gremien beschlossene Infrastrukturprojekte mit Maßnahmen des zivilen Ungehorsams zu überziehen und somit gleichsam zu blockieren. Wenn bindende Entscheidungen nicht mehr als bindend anerkannt werden, bedeutet dies einen enormen Vertrauensverlust, der nicht nur unsere repräsentative Demokratie betrifft, sondern Projekten eine Planungsunsicherheit beschert. Die Wirtschaft im Bereich des Bauwesens hat sich auf diese geänderten Bedingungen eingestellt: Sie fordert bei größeren Vorhaben Bürgerbeteiligungsverfahren ein, um Investitionssicherheit zu erhalten.

Schon auf der Einladung zur Tagung heißt es folgerichtig: „Die Herausforderungen unserer Zeit sind groß. Und die Überforderung derjenigen, die aufgerufen sind, diese Herausforderungen zu meistern, ist offenkundig. Politik und Verwaltung stoßen ebenso an ihre Grenzen wie aktiv werdende Stiftungen, Vereine und andere Akteure der Zivilgesellschaft. Auch Unternehmen, die ihre gesellschaftliche Verantwortung zunehmend spüren und sich mit Abteilungen der Corporate Social Responsibility dieser zu stellen versuchen, sind allein überfordert. Ebenso können individuelle Selbsthilfemaßnahmen und ehrenamtliche Aktivitäten, so wichtig sie im Einzelnen sind, nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein wirken.“

Strukturen neuer Verantwortungen als Lösungsansatz

Allein sind die Akteure überfordert, doch wenn alle an einem Strang ziehen, können sich Lösungswege aufzeigen, die zuvor als unmöglich galten. Das „Ziehen an einem Strang“ ist Ziel und Forderung der Tagung. Gesucht werden Strukturen neuer Verantwortungen, in denen sich Akteure aus den verschiedenen Bereichen – Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Bürger – zusammenschließen, um Probleme vor Ort anzugehen. Gelingt es, solche neuen gemeinsamen Wirkungsstrukturen zu etablieren, dann entwickelt sich eine grundsätzlich andere Art des Umgangs mit kommunalen Herausforderungen. Nicht nur in der gemeinschaftlich getragenen Verantwortung liegt der Unterschied, sondern auch darin, dass das Engagement der Akteure nicht bei kurzzeitigen Projekten endet, sondern sich langfristig entfalten kann. Das Erreichen dieses Ziels ist keineswegs selbstverständlich. Zur Zeit zeigt sich in allen Bereichen eine zunehmende Fragmentierung, wie Loring Sittler betont. Er sieht – auch bei zivilgesellschaftlichen Organisationen – die Tendenz, die eigene Arbeit als ausreichend gut zu bewerten und auf eine Kooperation mit anderen zu verzichten. Die daraus resultierenden Doppelstrukturen und Konkurrenzen entfernen uns noch weiter davon, die ohnehin knappen Mittel möglichst effektiv einzusetzen.

Gemeinsam für das Gemeinwohl zu wirken, lautet die Forderung. Allerdings, so betont Klaus J. Beckmann, handelt es sich bei „Gemeinwohl“ um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Die Unbestimmtheit des Begriffs bestätigt Kirsten Mensch, die den Begriff als zugleich mutig und umstritten kennzeichnet: Umstritten ist bereits, ob man durch Nachdenken, durch sinnierende Einsicht herausfinden kann, was Gemeinwohl ist, oder ob es nur über einen Abwägungs- und Ausgleichsprozess der verschiedenen Gruppierungen und Interessenlagen geht. Mutig ist der Begriff, weil er immerhin besagt, dass es etwas gibt, das bloßen Einzel- oder Klientelinteressen und Machtbedürfnissen gegenüber steht. Ob es für jede Herausforderung eine Lösung gibt, die für alle gut ist, muss man sicherlich bezweifeln. Aber das Streben nach Gemeinwohl und das gemeinsame Ringen um es ist mit Sicherheit die richtige Zielsetzung.

Verantwortung in Kooperationsbeziehungen

Ob kollektives Handeln, wie es im Ansatz der neuen Verantwortungen gefordert wird, zu Gemeinwohl führt, hängt davon ab, ob verantwortlich gehandelt wird, so Arthur Benz. Er zeigt auf, dass Verantwortung grundsätzlich in einer Beziehung zwischen einem handelnden Akteur und einer Instanz oder einem Forum besteht, vor dem der Akteur Rechenschaft ablegen muss. Sich rechtfertigen zu müssen und dafür in einen Dialog einzutreten, ist essentieller Bestandteil der getragenen Verantwortung.

Schwieriger wird es bei komplexen Kooperationsbeziehungen: Für die Zusammenarbeit zwischen Kommunen, Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Organisationen kann man als Modell der Verantwortung nicht die einfache Beziehung zwischen einem Akteur und einer Instanz, gegenüber der er sich zu rechtfertigen hat, zugrunde legen. Es handeln mehrere Akteure gemeinsam, die gegenüber den verschiedenen Instanzen ihrer Herkunft je eigene Verantwortung tragen. Darüber hinaus tragen sie gemeinsam die Verantwortung für die Güte des kooperativen Handelns. „Wenn mehrere Instanzen die Beteiligten zur Verantwortung ziehen können“, so Arthur Benz, „ist damit zu rechnen, dass jede Instanz das Ergebnis der Koproduktion nach eigenen Maßstäben bewertet.“ Da die Akteure diese Maßstäbe zumeist vorab kennen, werden sie sich bereits in ihrem Handeln daran gebunden fühlen. Zu befürchten ist daher, dass sie nur begrenzt in der Lage sind, kompromissfähig mit den Partnern umzugehen. Vor allem bei Vertretern von Kommunen und Verbänden scheint dies zu befürchten zu sein, betont Arthur Benz: „Wenn demokratisch legitimierte Politiker und Verbandsvertreter kooperieren, die sich vor Parlamenten oder Mitgliederversammlungen rechtfertigen müssen, kann die Koproduktion von Gemeinwohl durch ‚gebundene Hände‘ erschwert werden.“

Meistens fehlt die Thematisierung solcher Probleme von Grund auf. Gerade in Kooperationsbeziehungen, die noch wenig institutionalisiert sind, wie es bei den Strukturen neuer Verantwortungen oftmals der Fall ist, liegt weder eine klare Regelung noch ein Prinzip der Verantwortlichkeit vor. Das jedoch können einzelne Akteure strategisch zu Phänomenen wie der Verantwortungsverschiebung oder -diffusion nutzen, was bis zu einer organisierten Unverantwortlichkeit führen kann. 

Es scheint, als stünden wir bei Kooperationsbeziehungen, die sich dem Gemeinwohl widmen, vor dem Dilemma: entweder leidet die Verantwortlichkeit oder es leidet die Kooperationsfähigkeit. Mit Kreativität und praktischer Erfahrung, zugeschnitten auf die jeweils vor Ort bestehenden Kooperationsbeziehungen lassen sich Auswege aus diesem Dilemma finden. Wichtig ist dabei, die Problematik zu erkennen und sie nicht beiseite zu wischen.

Aus der angelsächsischen Tradition der responsibility kann man, wie Roland Roth aufzeigt, einen auch für unseren Diskurs zentralen Aspekt ziehen: Man kann Verantwortung lernen!

Dafür brauchen die handelnden Akteure: 

  • die Vorstellung von Handlungsautonomie
  • Alternativen zum Handeln
  • eine normative Grundlage, die eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch ermöglicht
  • Transparenz in dem Sinne, dass die Akteure in der Lage sind, Voraussetzungen und Folgen ihres Handelns zu beurteilen. 

Der Mangel oder auch Verlust an Verantwortlichkeit in vielen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen beweist die Notwendigkeit eines Lernens von Verantwortung.

Was ist das Neue an den neuen Verantwortungen?

Gleich mehrere Antworten auf die Frage, was das Neue ist an den neuen Verantwortungen, sind auf der Tagung zu hören. Klaus J. Beckmann weist auf zwei Antworten hin: 

  • Das Neue kann sich zum einen auf die Aufgaben beziehen, die im Vergleich zu früheren Jahren oder Jahrzehnten neu sind bzw. eine neue Gewichtung erfahren: Klimawandel, die Energie-wende, die zunehmende soziale Spaltung können stellvertretend für weitere genannt werden. 
  • Zum anderen stellen sich Aufgaben neu, weil der bisherige Verantwortungsträger sich aus der Leistungserbringung zurückzieht. Beispielsweise müssen sich Haushaltssicherungsgemeinden in Nordrhein-Westfalen notgedrungen aus mancher freiwilligen Leistung zurückziehen. Ergänzende Leistungen in der Bildung oder Aufgaben in den Bereichen Kultur, Stadtgestaltung und Naturschutz werden dann von anderen oder eben gar nicht erbracht. 

Damit zusammenhängend, aber nicht explizit an der Art der Aufgaben verortet, sieht Arthur Benz das Neue an den Strukturen neuer Verantwortungen: 

  • Das Neue liegt im Handeln über die Grenzen von Institutionen hinaus: Denn: „Wenn zur Lösung gesellschaftlicher Probleme Kommunen, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen zusammenarbeiten, wirken sie über die durch Institutionen etablierten Verantwortlichkeiten und Verantwortungsbeziehungen hinaus.“ Die Aufgaben decken sich somit nicht mehr mit den bisherigen Zuständigkeiten und verliehenen Kompetenzen. 

Gerade weil die vorgeschlagenen neuen Verantwortungen neu sind, stellen sich zahlreiche Fragen, die Kirsten Mensch zu Beginn der Tagung ausführt. Die zentrale Frage lautet: 

In welchen Bereichen und unter welchen Bedingungen ist es denkbar, dass Politik und Verwaltung vor Ort, Unternehmen sowie andere Akteure der Zivilgesellschaft sich gemeinsam eines Problems annehmen und eine gemeinsame Lösung anstreben?

Weitere Fragen schließen sich an, die zugleich aufzeigen, entlang welcher Linien die Debatte zu neuen Verantwortungen verläuft:

  • Wie lassen sich alle relevanten Akteure an einem Tisch versammeln und dort in konstruktiver Weise halten?
  • Muss jemand die Leitfigur bilden, also einen Weg vorgeben oder zumindest durch moderierende und strukturierende Arbeit den Erhalt der Gruppe ermöglichen?
  • Wie können all jene, die nicht mit am Tisch sitzen, eingebunden und informiert werden?

Welche Grenzen für Strukturen neuer Verantwortungen zeigen sich, etwa im rechtlichen Bereich oder in sprachlichen Barrieren, die nicht nur bei Zuwanderern zu vermuten sind, sondern auch bei Akteuren, die aus unterschiedlichen Bereichen und somit unterschiedlichen Kulturen kommen?

Bei Zusammenschlüssen vieler Akteure ist die folgende Frage eine besonders wichtig:

  • Wer übernimmt letztlich die Verantwortung für getroffene Entscheidungen und deren Wirkungen?

Nicht zuletzt stellt sich die Frage der Legitimation: Wenn wir glauben, dass Strukturen neuer Verantwortungen bessere, effizientere oder überhaupt Lösungen für unsere Probleme bieten, dann setzen wir auf eine „output-Legitimation“. Ob die gegeben ist, wird überprüfbar sein. Doch wie steht es mit der „input-Legitimation“? Wer darf Entscheidungen fällen, die das Gemeinwesen betreffen? In einer repräsentativen Demokratie sind das die gewählten Vertreter des Volkes. In vielen Bereichen, etwa jenen die strikt hoheitlich sein müssen oder unser aller Sicherheit betreffen, wird das auch niemand einschränken wollen. In vielen anderen Bereichen, so die Übernahme von Aufgaben und Leistungen, die vielen nutzen, die aber die öffentliche Hand allein nicht mehr anzubieten weiß – etwa aufgrund der finanziellen Lage einer Kommune – muss man fast schon froh sein, wenn sich jemand findet, der sich der Sache annimmt. Aber: 

  • Reicht Engagement und Geld aus als Legitimation für ein Tätigwerden in öffentlichen Bereichen?

Auch wenn die Fragen wichtig sind, auch wenn vieles gut bedacht sein möchte, sollte uns das Nachdenken über Legitimation nicht davon abhalten, ganz offensichtlich gemeinwohlförderliche Aktivitäten, wie z.B. eine gemeinsame Bildungsinitiative, die die verheerenden Abbruchquoten senkt, mit allen Willigen in Gang zu bringen, warnt Loring Sittler mit dem Spruch: "Just do it!" Wer dabei die „Willigen“, also die Akteure sind, ist eine entscheidende Frage.

Akteure der neuen Verantwortungen

Zu oft dreht sich die derzeitige Debatte bei Gemeinwohlfragen nur um eine Kooperation zwischen Staat und Zivilgesellschaft inklusive ehrenamtlich engagierter Bürger. Übersehen und somit auch zu wenig abgeholt bei ihrer Verantwortung werden die Unternehmen, beklagt Loring Sittler. Dabei wollen die Unternehmen, so betont er, ihrer Verantwortung gerecht werden und „sehen das nicht als Fortsetzung einer Marketingstrategie, sondern als sinnvolle Gestaltungsaufgabe, weil vernünftige gesellschaftliche Bedingungen Voraussetzung für jeden kommerziellen Erfolg sind.“

Ansätze wie Corporate Social Responsibility oder Corporate Citizenship können als Reaktion auf die unerledigten Aufgaben vor Ort angesehen werden.

Die so oft genannte Zivilgesellschaft untergliedert sich in Organisationen unterschiedlicher Art. Da stehen neben den traditionellen Wohlfahrtsverbänden, die wie dicke Tanker in bekannten Gewässern fahren, beispielsweise Stiftungen, Vereine, auch junge Initiativen, die sich in neu gegründeten Genossenschaften niederschlagen. Georg Cremer zeigt auf, dass Kirchen und Wohlfahrtsverbände in besonderer Weise gefordert sind. Um wirken zu können, müssen sie sich auf die Bedingungen einer pluralen Gesellschaft einlassen, somit aus den bekannten Gewässern ein Stück weit hinausfahren. Nicht nur ein Einlassen auf Netzwerke ist nötig, sondern auch genaue Wirkungsanalysen. So ließen sich, nennt er als Beispiel, durch präventive Systeme sowie durch ein Zurückschrauben von Dokumentationspflichten im Pflegebereich Effizienzsteigerungen erzielen, die in ein kostenneutrales Mehr an Pflege fließen könnten. Alexander Künzel stößt in dasselbe Horn: Für die Wohlfahrtspflege kann nicht gelten, je mehr Pflege, umso besser für unser Geschäftsmodell. Eine Neubewertung ist stattdessen notwendig, die wegführt von der Sicht des Marktteilnehmers hin zur Übernahme von mehr Verantwortung – auch gemeinsam mit anderen. Es geht dann nicht mehr um größer werdende Pflegemärkte, sondern um das Vermeiden von Pflege ebenso wie um das Vermeiden von Profi-Einsatz in der Pflege, indem man die Zivilgesellschaft und deren ehrenamtliches Engagement erstarken lässt.

„Gesellschaft funktioniert durch Aufteilen von Zuständigkeiten und damit auch der Verantwortung. Und jetzt sollen wir Bürger noch zuständig werden? Was für ein Gesellschaftsmodell haben wir?“, fragt ein Teilnehmer in die Runde. In der Tat beweist sich hier ein sich änderndes Staats- und Gesellschaftsverständnis. Die öffentliche Hand fordert ebenso mehr Eigenverantwortung wie mehr Mitverantwortung für das Gemeinwesen. Roland Roth zeigt auf, dass eine stärkere Einbindung der Bürger durchaus in deren Sinne ist: Über 80% der Bürger möchte gerne stärker beteiligt sein an Sachentscheidungen. Zugleich bedeutet dies, dass die Bürger in einer anderen Art gefordert, im Zweifelsfall überfordert werden. Wir nähern uns der Norm, ein guter Bürger sei ein aktiver Bürger, an. Zugleich, mahnt Roland Roth, hängt das Bildungssystem hinterher. Unsere Schulen befähigen die Kinder nicht dazu, eine aktive Rolle zu spielen. Wenn man Kinder nach der Einschätzung ihrer Mitwirkungsmöglichkeiten befragt, nennen sie im Bereich der Familie zu 60-75% Mitwirkungsmöglichkeiten, im Bereich der Schule allerdings nur zu 13%. „Zentrale Fähigkeiten der aktiven Bürgerschaft“, urteilt Roland Roth, „können so nicht erworben werden.“

Neben diesen Akteuren spielen Politik und Verwaltung eine zentrale Rolle, auch wenn innerhalb dieses Bereichs die eine oder andere Animosität bestehen sollte. Sehr oft hat Martin Junkernheinrich von Vertretern aus kommunalen Verwaltungen Klagen über die gewählten Gemeinderäte gehört, die als Hemmnis für eine sachorientierte Politik gelten, weil bei ihnen die Bedienung von Klientelinteressen im Vordergrund stehe.

Ein hartes Urteil über die gewählten Vertreter des Volkes auf der Tagung lautet: „Sie können es nicht, sie haben die Mittel nicht und sie haben die Ideen nicht.“ Zurückhaltender formuliert Roland Roth: „Verantwortlichkeit durch Repräsentation scheint nicht mehr zu funktionieren.“ Umso wichtiger ist es sowohl im Sinne der Imageverbesserung, als auch im Interesse lösungsorientierter Politik, Kooperationen zur gemeinsamen Gestaltung des Gemeinwesens einzugehen.

Doch hier zeigt sich ein Hemmnis: die Kultur des Misstrauens zwischen den drei Sektoren. Politik und Verwaltung, die Wirtschaft, die Zivilgesellschaft und die Bürger folgen je einer eigenen Handlungslogik, besitzen je eigene Verfahrensarten, Sprachgebräuche und auch Zeitvorstellungen, was ein miteinander Wirken erschwert. Oft wird das Verfolgen der eigenen Handlungslogik im anderen Sektor fast schon als Übergriff gewertet. Ohne gegenseitiges Verständnis, ohne ein Erlernen der jeweils anderen Logik und Sprache ist eine tragfähige und langfristige Kooperation nicht denkbar. Hierfür brauchen wir, wie Loring Sittler sagt, mehr Grenzgänger zwischen den Bereichen.

Wie gelingt Kooperation zwischen den Akteuren?

Noch bevor sie sich zu einer Kooperation zusammenfinden, sollte, so mahnt Roland Roth, jeder der Sektoren gleichsam vor der eigenen Türe kehren, nämlich die jeweils eigenen Verantwortlichkeitsprobleme lösen. Sonst kann das gemeinsame Agieren nur zu einem System „kollektiver Verantwortungslosigkeit“ führen. So muss zum Beispiel das politische System seine Repräsentativ- und Beteiligungsqualität ausbauen. Dabei kann, da ist sich Roland Roth sicher, nicht ausschließlich auf Partizipation gesetzt werden. Es wird immer sowohl Delegation als auch Partizipation geben müssen. Entscheidend ist eine Gestaltung derart, dass der Legitimationsglaube der Menschen nicht permanent enttäuscht wird. Auch die Wohlfahrtsverbände, bestätigt Alexander Künzel, müssen ihre Hausaufgaben machen und andere Organisationen der Zivilgesellschaft neben sich erstarken lassen und diese als gleichwertige Partner in Kooperationen einbinden. Gleiches gilt für öffentliche Verwaltungen, die nach wie vor lieber mit den großen Wohlfahrtsunternehmen zusammenarbeiten, weil sie dabei von Vorgehensweisen ausgehen, die für sie planbar sind und ihnen die Probleme vom Tisch nehmen. Alexander Künzel drückt die Sichtweise der Sachbearbeiter der Verwaltung plastisch aus: „Jeder, der sich auf Gemeinwesenbeteiligung einlässt, der lässt sich auf Chaos ein, das deutlich weniger leicht zu reglementieren ist.“

Auch die Zuschreibung einer Lückenbüßerfunktion widerspricht einer Kooperation zwischen gleichwertigen Partnern. Das gilt sowohl für das ehrenamtliche Engagement einzelner als auch den Einsatz zivilgesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Organisationen. Sieht die öffentliche Hand die engagierten Akteure als Ausfallbürgen des Staates an, so verkennt sie den Eigenwert des Engagements ebenso wie die dahinter stehende Motivation: nämlich etwas gestalten zu können. Eine etatistisch Herangehensweise im Sinne von „wir lassen die anderen jene Aufgaben erledigen, die wir nicht mehr finanzieren können“ untergräbt jede Kooperation auf Augenhöhe. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis zwischen öffentlicher Hand und den anderen Akteuren, sondern beispielsweise auch im Zusammenspiel der professionellen Fachkräfte eines Wohlfahrtsverbandes mit den ehrenamtlich Aktiven.

Volker Will verweist jedoch darauf, dass sich bereits heute viele positive Beispiele finden lassen, in denen das Engagement wirtschaftlicher oder zivilgesellschaftlicher Akteure durchaus in die Rubrik der „Reparaturkolonne der Daseinsvorsorge“ passt. Insbesondere im Bereich der erneuerbaren Energien entstehen vielerorts Bürgerbeteiligungsvorhaben, oft von der Kommune angestoßen. Vorhaben, bei denen die Bürger vor Ort mitwirken und auch mitverdienen, wie beispielsweise bei Energiegenossenschaften, sind förderwürdige Beispiele, in denen neu initiierte, von Bürgerinnen und Bürgern getragene Genossenschaften ehemals öffentliche Aufgaben übernehmen, ohne dass sie in die Rolle des Lückenbüßers gedrängt werden. Es darf dabei jedoch nicht passieren, dass die öffentliche Verwaltung derlei Ansätze durch leichtfertig geäußerte Skepsis oder durch unnötige Bürokratiehürden gefährdet. Das erschwert die Finanzierung und somit die Realisierbarkeit solch innovativer Vorhaben.

Eine gelingende Kooperation zwischen den verschiedenen Akteuren erfordert eine gute Organisation und Moderation. Diese Aufgabe sieht Kirsten Mensch eher bei intermediären Akteuren aus der Zivilgesellschaft, nicht bei Politik oder Verwaltung. So können zum Beispiel Stiftungen vor Ort zu Strukturen neuer Verantwortungen einladen, sie können als Mittler zwischen den Vertretern der verschiedenen Sektoren auftreten und neben der Moderation auch die Aufgabe übernehmen, alle Akteure bei der Stange zu halten. Politik und Verwaltung sind für eine solche Aufgabe nicht nur wegen der bei ihnen knappen finanziellen und personellen Mittel weniger geeignet, sondern auch, weil es für sie einem Machtverlust gleich kommt, sich ernsthaft auf ein Mitreden und Mitentscheiden weiterer starker Akteure einzulassen. Auch Loring Sittler spricht sich für von privater Hand finanzierte „Rückgratinstitutionen“ aus, die die Akteure zusammenbringen und das Verfahren begleiten. Er sieht hierbei Zivilgesellschaft und Wirtschaft gleichermaßen in der Pflicht.

Zudem könnten diese Institutionen auch dafür sorgen, dass die Beteiligung von Bürgern an Strukturen neuer Verantwortungen kein „Hobby der Mittelschicht“ bleibt. Artikulationsschwä-chere Menschen in Beteiligungsstrukturen zu bringen, erweist sich als ein schwieriges Feld. Hier ist oftmals Hilfe von Gemeinwesenarbeitern nötig. In manchen Bereichen der Selbsthilfe – wie Organisation von Nachhilfe unter Migranten – klappt es mitunter auch ohne professionelle Unterstützung. Doch die Eingliederung dieser Menschen in Netzwerke neuer Verantwortungen wird schwierig werden. Hier könnte man, so schlägt Kirsten Mensch vor, über Fürsprecher oder Anwälte nachdenken, die die Interessen der nicht im Netzwerk mitwirkenden Menschen vertreten.

Aber auch bei der Rolle der zivilgesellschaftlichen Akteure ist Vorsicht geboten. Georg Cremer beklagt, dass manche Stiftungen Themen nur so lange besetzen, solange sie „en vogue“ sind. Wenn der Reiz des Innovativen abfällt, lassen diese Stiftungen auch das Thema fallen. Ähnlich gelagert ist die Frage der medialen Aufmerksamkeit, die nur schlaglichtartig präsent ist. Damit lässt sich kein langfristiges Ergebnis sichern. Eine gewisse Hartnäckigkeit ist vonnöten, wenn wir dauerhaft wirksame Strukturen neuer Verantwortungen aufbauen wollen.

Beispiele aus der Praxis

Drei Praxisbeispiele zeigen auf der Tagung, dass die gemeinschaftliche Übernahme von Verantwortung nicht nur möglich ist, sondern gewinnbringend und effizient vonstattengehen kann. Zudem zeigen diese Beispiele, dass aus unterschiedlichen Sektoren heraus die Initiative ergriffen werden kann: Einerseits organisiert ein Bürgermeister die Gründung einer Genossenschaft zum Erhalt des Hallenbads. Andererseits ist es ein Unternehmer, nämlich der Leiter eines Agrarunternehmens, der gemeinsam mit der Gemeinde und den Bürgern die Energieversorgung eines Dorfs genossenschaftlich organisiert. Das dritte Beispiel findet seinen Ursprung in der Zivilgesellschaft und der Idee des community organizing. Hier setzen von Erwerbslosigkeit getroffene Menschen auf Selbsthilfe und gründen neben einem Verein auch eine Genossenschaft, die Auswege bieten.

„Eine Kommune“, so die überraschende Behauptung zu Beginn des Vortrags von Frank Priebe, „ist nicht in der Lage, ein Unternehmen ‚Hallenbad‘ zu führen.“ Denn: „Es bedeutet mehr, ein Hallenbad zu führen, als die Kommune sich vorstellen kann oder durchführen könnte.“ Frank Priebe war bis 2011 Bürgermeister von Nörten-Hardenberg. In dieser Position hat er sich, nachdem der Haushaltsplan der Gemeinde endgültig keine Möglichkeiten mehr vorsah, das jährliche Defizit des Hallenbads in Höhe von 250.000 € zu tragen, um eine Lösung bemüht. Ergänzend zum Förderverein des Hallenbads entwickelte er eine Genossenschaft. Dafür gewann er Mitstreiter unter den Unternehmern des Orts, warb um Bürger und Bürgerinnen, einerseits als Mitglieder der werdenden Genossenschaft, andererseits als Träger von Kompetenzen, die man in der Genossenschaft nutzen konnte, verhandelte mit den Finanzbehörden um den Erhalt der Vorsteuerabzugsberechtigung und bot schließlich der Gemeinde einen Betreibervertrag an. Neben Mitteln für die notwendigen Sanierungsarbeiten des Bades benötigte das Bad einen jährlichen Zuschuss der Gemeinde in Höhe von 100.000 €.

Die Genossenschaft wurde zu einer Erfolgsgeschichte: Gegründet im Dezember 2004 mit 120 Gründungsmitgliedern zählt sie mittlerweile 300 Genossenschaftsmitglieder. Viele der Genossen und Genossinnen engagieren sich aktiv im Hallenbad, das im September 2005 nach Sanierung wieder eröffnet werden konnte. Während das Bad unter der Regie der Kommune 60.000 € Einnahmen erbrachte, erreicht die Genossenschaft heute einen Betrag von 190.000 €. Im Jahresabschluss 2011 verzeichnete das Hallenbad nur noch ein Defizit von 35.000 €. Die dadurch möglichen Rückzahlungen an die Gemeinde werden als Rücklagen angelegt, die der Zukunft des Hallenbads dienen sollen.

Warum, stellt sich die Frage, soll eine Kommune kein Hallenbad führen können, eine rein auf ehrenamtlicher Arbeit beruhende Genossenschaft schon? In der Kommunalverwaltung, so Frank Priebe, war nur eine Person für das Hallenbad zuständig, die zudem die Bereiche Personal, Kindergärten, Schule u.a. zu bearbeiten hatte. In der Genossenschaft, zeigt er an einem Organigramm, sind es zahlreiche Menschen, die sich um die Finanzen, die Technik, das Personal, die Akquise von Gruppen, die das Bad nutzen, und weitere organisatorische Details kümmern. Es handelt sich dabei um Fachkräfte – Ingenieure, Verwaltungsfachwirte, Unternehmer, Personen in leitenden Funktionen bei Banken, Unternehmen, Politik bzw. Verwaltung – die ihr Knowhow gerne ehrenamtlich einbringen. Eine Person in der Kommunalverwaltung, belastet mit weiteren Aufgabenbereichen, könnte nie für eine vollständige Belegung des Bades sorgen, wie es die für Akquise zuständige engagierte Gruppe der jetzigen Genossenschaft schafft.

Beim community organizing, dem sich Walter Häcker verschrieben hat, geht es darum, dauerhafte Organisationen zu bilden, die sich entweder auf Stadtteile beziehen oder auf Menschen in besonderen Lebenssituationen. Das Entscheidende ist die Dauerhaftigkeit. Bei Bürgerinitiativen handelt es sich im Gegensatz dazu um ein punktuelles Engagement, das mit Erfolg oder Misserfolg der Aktion endet. Zugleich fallen das aufgebaute Sozialkapitel, die entwickelten Beziehungen und die entstandenen Arbeitskontexte brach. Neben der anvisierten Dauerhaftigkeit hebt Walter Häcker ein weiteres Prinzip hervor, nämlich das Prinzip der Selbsthilfe, nach dem Motto: „Tue nie etwas für Menschen, das sie für sich selbst tun können.“ Der von Walter Häcker vorgestellte Verein myself e.V. folgt diesen Prinzipien. Seinen Ursprung fand er, als eine große Stuttgarter Firma 700 Angestellten kündigte. Zumeist handelte es sich um Ingenieure, die teils über Jahrzehnte hinweg bei dieser Firma angestellt waren. Auch nach der auf zwei Jahre angelegten Tätigkeit einer Transfergesellschaft fanden nicht alle der Betroffenen eine neue Stelle. Die Möglichkeiten zu Kontakt und Qualifizierung, die die Transfergesellschaft bot, wollten sie indes nicht missen. Sie schlossen sich zusammen im bereits genannten myself e.V. und unterstützen einander bei der Suche nach einer Arbeitsstelle. Längst hat der Verein, der heute 400 Personen zählt, nicht nur Mitglieder aus jener Kündigungswelle, sondern bietet auch neuen Erwerbslosen neben einem Ort der Ansprache Aufgaben. Zudem gehen die Verantwortlichen noch einen Schritt weiter: Mit weiteren Partnern gründeten sie eine Genossenschaft namens Arbeit zuerst eG, die sich auf dem Gebiet der Zeitarbeit ihr Terrain erobern soll. Statt die eigene Arbeitskraft einer fremden Zeitarbeitsfirma zur Verfügung zu stellen, die an der verliehenen Arbeitskraft mit verdient, soll dieser Mitverdienst der Genossenschaft zugutekommen. 

Zwei Herausforderungen benennt Walter Häcker aus seinen Erfahrungen der aus der Zivilgesellschaft heraus organisierten Selbsthilfe:

Die erste Herausforderung liegt in der notwendigen Verschmelzung der Kulturen. So soll „Geschäftserfolg“ mit „Freiwilligkeit in Selbstorganisation“ sowie „bürgerschaftlichem Engagement“ in Einklang gebracht werden. Die andere Herausforderung zeigt sich im Paradigmenwechsel, der die eigene Rolle ändert, nämlich vom betriebsratsvertretenen Arbeitnehmer zur Unternehmerin der eigenen Arbeit in Form einer solidarischen Genossenschaft.

In Schlöben, einem Dorf in Thüringen, geht es weder um ein Hallenbad noch um die Vermittlung von Arbeit. Dort setzt das Argrarunternehmen Wöllmisse Schlöben eG mit seinem Vorstandsvorsitzenden Matthias Klippel auf eine enge Kooperation mit dem Dorf Schlöben. Im Jahr 2009 gründeten sie gemeinsam die Genossenschaft Bioenergiedorf eG. Das Unternehmen Wöllmisse Schlöben ist Gesellschafter der Genossenschaft, Matthias Klippel auch in dieser Genossenschaft im Vorstand. Die bei der Milchkuhhaltung entstehende Gülle sowie weitere landwirtschaftliche Ezeugnisse werden noch am Hof des Agrarunternehmens in Biogasanlagen verarbeitet. Die Biogasleitungen, die danach zu zwei Blockheizkraftwerken im Ort führen, gehören bereits der Bioenergiedorf eG. Ein Drittel des Gases wird verstromt, zwei Drittel werden per Nahwärmenetz als Wärme den Abnehmern im Ort zur Verfügung gestellt. Es handelt sich um eine win-win-Situation. Die Abnehmer der Wärme werden Mitglied der Genossenschaften, zeichnen hierbei Anteile in Höhe von 2.000 € und erhalten von da ab Nahwärme zu einem Festpreis von 6,6 Cent pro kWh, was nicht nur günstiger ist als eine Ölheizung, sondern auch langfristige Preissicherheit bedeutet. Seit Juni 2012 fährt die Biogasanlage. 70% der Haushalte in Schlöben werden mittlerweile mit Nahwärme versorgt. Für die Kommune ist die Sache lukrativ, weil sich das Baugebiet der Gemeinde schnell gefüllt hat. Die angebotene Bioenergie hat mit dazu beigetragen, dass das Dorf für Zuzügler zu einem attraktiven Wohnort geworden ist. Auch das Agrarunternehmen zieht einen Gewinn aus der Kooperation. Das Vorhaben entspricht nämlich der Zielsetzung, Wertschöpfung und weitere Entwicklung zu generieren. Statt mehr Land zu bewirtschaften oder mehr Tiere zu halten, setzt das Unternehmen mit der Biogasanlage auf einen neuen Produktionszweig. 17% der Anbaufläche des Unternehmens dienen nun der Energieproduktion. Der überwiegende Anteil bleibt hingegen der Ernährung von Mensch und Tier vorbehalten. Trotzdem macht dieser neue Produktionszweig das Unternehmen unabhängiger von Marktverwerfungen, wie man sie etwa bei den Schwankungen des Milchpreises sieht. Ein Agrarunternehmen, das in seinen Produkten breit aufgestellt ist, kann Preisschwankungen in einzelnen Bereichen besser verkraften.

Eine solche Kooperation, so Matthias Klippel, funktioniert nur, wenn Bürgermeister sowie Bürgerinnen und Bürger dahinterstehen. Es darf zum Beispiel keine Bürgerinitiativen gegen neu errichtete Ställe oder die häufigen Dorfdurchfahrten von landwirtschaftlichen Fahrzeugen während der Erntezeiten geben. In Schlöben gibt es das nicht. Dort funktioniert das Miteinander.

Nun kann nicht überall Schlöben sein, sprich: Nicht in allen Gemeinwesen stoßen wir auf günstige Bedingungen wie ein gutes Umgangsklima, aktive Menschen mit Elan und Ideen, die gut miteinander können und einander lange kennen. Wie lassen sich auch andernorts gute Beispiele erzeugen? Wie steht es um die Übertragbarkeit von Strukturen neuer Verantwortungen?

Der zweite Tag der Fachtagung im Dezember 2012 diente der Entwicklung von Leitthesen, die nicht nur die Frage der Realisierbarkeit von Strukturen neuer Verantwortungen aufgreifen, sondern auch eine Basis für die weitere Debatte vorgeben. Die Leitthesen entwickelten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung in Arbeitsgruppen. Im Folgenden werden die entstandenen Thesen wiedergegeben.

Leitthesen zu Strukturen neuer Verantwortungen

Thesen der Arbeitsgruppe „Grenzen: Was muss sich ändern, um Strukturen neuer Verantwortungen zu ermöglichen?“

Moderation:

Dr. Konrad Hummel, Beauftragter des Oberbürgermeisters für die Konversion, Stadt Mannheim

Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht, Cajewitz-Stiftung, Berlin

1.   „Grenzen“ der drei Sektoren haben ihre eigene Logik, es gilt sie zu verstehen.

Gemeint mit den drei Sektoren sind einerseits die Bereiche Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, auch wenn diese in der Realität nicht in jedem Fall klar voneinander abtrennbar sind. Andererseits rücken auch die Grenzen zwischen Gruppen, Klassen, Berufen ins Blickfeld. Verständnis und Akzeptanz für die den Sektoren je eigene Handlungslogik müssen entwickelt werden, bevor neue, gemeinsame Strukturen sich produktiv entfalten können.

2.   Brücken zwischen diesen Sektoren entstehen dort, wo die Ressourcen der Sektoren, einschließlich der jeweiligen Partikularinteressen, aufgegriffen und einer Gemeinwohlproduktion zugeführt werden.

Die Brücken entstehen, wo in gemischten Gruppen am beid- oder mehrseitigen Nutzen im Sinne einer Ressourcenallokation auf Basis von Kennen und Verstehen gearbeitet wird. Dies entspricht den Ansprüchen einer modernen, demokratischen Gesellschaft, die auf die Erwartbarkeit, Vielfalt, Zuverlässigkeit und Nachhaltigkeit von Kooperationsstrukturen zielt.

3.   Neue Kooperationsstrukturen bilden sich subsidiär, dezentral immer wieder. Aber ihr Innovationspotential wird überfordert.

Diese Strukturen bilden sich insbesondere dort, wo große gesellschaftliche Herausforderungen den Leidensdruck einzelner steigen lassen und die Betroffenen heute mehr als früher den empfundenen Druck in Engagement fließen lassen. Allerdings reicht das Innovationspotential, das gute Lösungen in einzelnen, klar begrenzten Fällen bewirkt, nicht für die großen Herausforderungen unserer Zeit.

4.   Es braucht deshalb offene Räume für Innovation, zu deren Ausstattung alle Sektoren beizutragen haben. Auf Transparenz, Risikobewusstsein sowie Risikobegrenzung und insbesondere auf gleichwertige Teilhabechancen haben alle zu achten.

Neue, kreative Formen gemeinsamer Verantwortungsübernahme brauchen entsprechende Finanzausstattung, Rechtsetzung, Infrastruktur etc. Sie sollten sich selbst verpflichten, Transparenz, Teilhabechancen und angemessene Risikobegrenzungen zu sichern. Insbesondere die Gewährleistung von gleichwertigen Teilhabechancen, etwa auch durch anwaltschaftliche Vertretung, stellt eine zentrale Anforderung dar.

Thesen der Arbeitsgruppe „Legitimation: Wie demokratisch sind Strukturen neuer Verantwortungen?“

Moderation:

Prof. Christiane Thalgott, ehemalige Stadtbaurätin, München

Peter Rohland, vhw Bundesverband, Berlin

Ausgangspunkt der Thesen dieser Gruppe sind sowohl die Disfunktionalitäten des derzeitigen politischen Systems, als auch die wachsende Unzufriedenheit mit den Kerninstitutionen der repräsentativen Demokratie – und zwar auf allen Ebenen. Legitimationszweifel machen sich fest an der begrenzten Wahlberechtigung, der bestehenden sozialen Selektion sowie der fehlenden innerparteilichen Demokratie. Die Parteien erfüllen ihre Aufgabe als Vehikel zwischen Volk einerseits und Repräsentanz andererseits derzeit nur unzureichend.

1.   Ziel einer neuen Form der Verantwortungsteilung bei der Produktion von Gemeinwohl / Stadtnutzen sind Gerechtigkeit und Gleichheit.

Somit sind es die Versprechen der Demokratie auf politische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, die die neue Form der gemeinschaftlichen Verantwortungsübernahme erfüllen soll. Der erwähnte Stadtnutzen kann analog für Regionen, Landkreise und Dörfer gelten.

2.   Strukturen neuer Verantwortungen sind über ein Mehr an partizipativen Demokratiekonzepten im Rahmen der repräsentativen Demokratie sicherzustellen.

Die Legitimität neuer Strukturen in allen Akteursgruppen setzt voraus:

•Transparenz und Verlässlichkeit

•Schaffung von aktivierenden Strukturen

•Raumbezug

•Kompetenzausbau bei Akteuren

Dazu gehört, dass partikulare Interessen nicht verschwiegen, sondern ehrlich kommuniziert werden. Zudem müssen alle Akteursgruppen bedacht werden: nicht nur Politik und Verwaltung, nicht nur einflussreiche Unternehmen, sondern auch die Gruppierungen der Zivilgesellschaft. Insbesondere für sie, aber auch für die anderen sind die aktivierenden Strukturen und der geforderte Kompetenzausbau relevant. 

3.   Stadtnutzen / Gemeinwohl ergibt sich aus dem Diskurs.

Das Gemeinwohl kann also nicht vorausgesetzt, sozusagen a priori gefunden werden, sondern entsteht in gemeinsamen Verhandlungsprozessen.

Thesen der Arbeitsgruppe „Einbindung: Wie lassen sich alle relevanten Akteure für Strukturen neuer Verantwortungen gewinnen“

Moderation der Arbeitsgruppe:

Rainer Bohne, SRL – Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung, Berlin

Reinhard Thies, Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband, Berlin

1.   Sinnvoll ist die Sicherung und Entwicklung erfolgreicher bestehender Strukturen.

Die These geht davon aus, dass zwar auch neue Strukturen gefragt sind, allerdings bestehende erfolgreiche Strukturen gesichert und weiterentwickelt werden sollten. Der Vorteil bestehender Strukturen liegt darin, dass sie bereits Menschen gewonnen, dass sie Ressourcen, Schlagkraft und Vertrauen erworben haben. Sie besitzen somit die Basis, teilweise langwierige Prozesse zu gestalten und durchzustehen. Es wäre nicht sinnvoll, bestehende erfolgreiche Strukturen aufzugeben. Trotzdem reichen sie nicht aus, sondern müssen im Sinne der Strukturen neuer Verantwortungen weiter entwickelt und angepasst werden.

2.   Verantwortungspartnerschaft ist räumlich und thematisch zu verorten.

Beide Aspekte erscheinen gleich wichtig und müssen in gegenseitiger Abwägung gefunden werden. Je kleiner der räumliche Bezug ausfällt, umso leichter ist es, Identifikation und Motivation zu bewirken und somit alle relevanten Akteure einzubinden. Dabei sollte eine sowohl horizontale als auch vertikale Vernetzung erfolgen.

3.   Eine präzise Herausarbeitung der Herausforderung ist notwendig.

Mit einer räumlich und thematisch klar abgegrenzten Aufgabe beginnt ein Vertrauensnetzwerk zu arbeiten, geht über in eine Entwicklungspartnerschaft, um schließlich als Verbundstruktur die Arbeit zu leisten und zu beenden.

Thesen der Arbeitsgruppen „Prozesssteuerung: Wer hat die führende Rolle? Was sind dessen Aufgaben?“ und „Transparenz: Wie können Entscheidungsprozesse offen und öffentlich gestaltet werden?“

Moderation:

Prof. Dr. Jürgen Aring, Büro für Angewandte Geographie, Meckenheim

Michèle Bernhard, Schader-Stiftung, Darmstadt

Uwe Lübking, Deutscher Städte- und Gemeindebund, Berlin

Karin Vorhoff, Deutscher Caritasverband, Freiburg

1.   Gelingende Prozesse der bürgerschaftlichen Verantwortungsübernahme sind bislang besonders günstigen Konstellationen zu verdanken.

Die Fähigkeit zur Selbstorganisation und Selbststeuerung der meisten zivilgesellschaftlichen Initiativen reicht bezogen auf die großen Herausforderungen nicht aus, es sei denn es herrschen günstige Konstellationen, die sich auch in engagierten Persönlichkeiten und besonders gut funktionierenden Netzwerken zeigen können. Daher sind die guten Beispiele nicht ohne weiteres reproduzier- und übertragbar.

2.   Prozesse gemeinschaftlicher Verantwortungsübernahme brauchen unterstützende Patenschaftsorganisationen.

Diese dienen als kompensatorische Unterstützung. Es kann sich um Unterstützung in organisatorischer, in wirtschaftlicher, in rechtlicher Hinsicht handeln. Gedacht ist dabei an Paten im besten Sinne des Wortes: ein Pate, der unterstützt, aber nicht bevormundet, sondern befähigt zur Selbstständigkeit und in diesem Sinne Wirkung erzielt. Diese Rolle könnte von Wohlfahrtsverbänden, von Stiftungen, von engagierten Unternehmen oder anderen übernommen werden.

3.   Gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme braucht eine Ermöglichungshaltung bei institutionellen Partnern.

In vielen Bereichen ist es entscheidend, dass die vorhandenen öffentlichen Institutionen nicht als Verhinderer, sondern als Ermöglicher auftreten. Das erfordert auf den verschiedenen Ebenen eine entsprechende Haltung von der Spitze einer Behörde bis zum Mitarbeiter, der konkret mit Prozessen befasst ist.

4.   Prozesse gemeinschaftlicher Verantwortungsübernahme brauchen Ermöglichungsplattformen, um sich auf Augenhöhe zu begegnen.

Die unterschiedlichen Akteure brauchen Räume und Gelegenheiten, um sich auf Augenhöhe zu begegnen und in einen Austausch- und Aushandlungsprozess eintreten zu können. Zudem bedarf es der Entwicklung eines gegenseitigen Vertrauens.

5.   Gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme braucht als Basis des Handelns eine weitgehende Offenheit über grundlegende Werte, Orientierungen, Interessen.

Die, die sich in Strukturen neuer Verantwortung begegnen, brauchen eine weitgehende Offenheit untereinander, eine Art Binnentransparenz. Gemeinsame Grundorientierung und Zielorientierung sind zu entwickeln und darüber ist Transparenz herstellen. Über die Außentransparenz, nämlich die Kommunikation nach außen, muss gemeinsam entschieden werden. Als Motto gilt demnach: hohe Innentransparenz, gesteuerte Außentransparenz.

Weitere Schritte

Auf der Tagung wurde erörtert, dass es zur Lösung gesellschaftlicher Probleme notwendig ist, die Kräfte zu bündeln. „Nicht nur der Einzelne soll Verantwortung übernehmen, sondern eine Vielzahl von Akteuren gemeinsam, möglichst aus mehreren Bereichen unserer Gesellschaft stammend. Sie sollen tragfähige Strukturen neuer Verantwortungsgemeinschaften bilden und zu zufriedenstellenden und effizienten Problemlösungen führen“, so Dr. Kirsten Mensch von der Schader-Stiftung.

Die Tagung im Dezember 2012 gilt als Auftakt. Die Schader-Stiftung will den „neuen Verantwortungen“ auf der Spur bleiben. So diskutiert sie in der Veranstaltungsreihe „Impulse: Engagementkultur und Demokratie“ monatlich Teilbereiche der Debatte. Darüber hinaus soll es Workshops und Expertenrunden geben, die einzelne Aspekte vertiefend betrachten. Zu beantworten ist etwa die Frage, welche konkreten Schritte zur Entwicklung von Strukturen neuer Verantwortungen führen. Dabei geht es um Themen wie Prozesssteuerung sowie die Notwendigkeit von Organisationshilfen. Auch die Rolle der Unternehmen und die Leistungsfähigkeit von Corporate Social Responsibility-Ansätzen lohnt eine tiefergehende Betrachtung. Für Anregungen und Vorschläge zu weiteren Themen ist die Stiftung offen. Insofern liegt diesem Bericht die Hoffnung zugrunde, dass er genau wie Tagung selbst zu einem weiteren Austausch anregt.

Die Autorin: Dr. Kirsten Mensch ist Politikwissenschaftlerin und seit 2000 Wissenschaftliche Referentin der Schader-Stiftung.

Kooperationspartner / Fachliche Begleitung

Fachliche Begleitung:           

Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung; Cajewitz-Stiftung; Deutsches Institut für Urbanistik; Deutsche Kreditbank AG; Deutscher Caritasverband; Deutscher Städte- und Gemeindebund; Diakonisches Werk der EKD; Generali Deutschland Holding AG, Zukunftsfonds; Netzwerk: Soziales neu gestalten (SONG); SRL Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung; vhw Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung

Hier finden Sie Impressionen der Tagung.

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