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Fragen zur Zukunft der Daseinsvorsorge

Artikel vom 15.08.2001

Mit dem Verfahren der europäischen Kommission wegen angeblich unzulässiger staatlicher Beihilfen zugunsten der WestLB und der Ankündigung weiterer wettbewerbsrechtlicher Überprüfungen der Landesbanken und Sparkassen in Deutschland wurde eine lebhafte Diskussion über das deutsche System der öffentlichen Banken und Sparkassen eingeleitet. Diese hat sich zu einer  generellen Debatte über die Bereitstellung von Dienstleistungen von allgemeinen öffentlichen Interesse durch Unternehmen in öffentlicher Hand entwickelt. Die Schader-Stiftung sieht eine ihrer Aufgaben darin, Überblick und Impulse zur laufenden Debatte zu liefern. Von Christoph Kulenkampff, Kirsten Mensch und Claudia Pfeiff

Zum Begriff „Daseinsvorsorge“

 „Öffentliche Daseinsvorsorge“ beschreibt eine Staatsaufgabe, die bereits seit Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wahrgenommen wurde, nämlich die Versorgung der Bevölkerung und Wirtschaft mit Grundgütern, die nach neuerem Staatsverständnis durch das Gemeinwesen sicherzustellen ist, wie u.a. die Versorgung mit Wasser, Energie, Infrastruktureinrichtungen, Gewährleistung der sozialen Sicherheit.

Auch wenn die Entstehung des Phänomens weiter zurückreicht, geht seine Bezeichnung mit dem Begriff „Daseinsvorsorge“ auf Forsthoff zurück, der ihn in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts einführte.1

Der Begriff „Daseinsvorsorge“ findet heute noch Verwendung und das, was er umfasst, wird als fester und wesentlicher Bestandteil der Sozialstaatlichkeit nach Art. 20 und 28 GG verstanden. Danach müssen u.a. Güter und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge der Gesellschaft diskriminierungsfrei zur Verfügung stehen. Für Post und Telekommunikation bestimmt das Grundgesetz beispielhaft, dass der Bund in diesen Bereichen für flächendeckende, angemessene und ausreichende Dienstleistungen verantwortlich ist (Art. 87f GG).

Bedeutung der Daseinsvorsorge

„Öffentliche Daseinsvorsorge“ bedeutet tendenziell eine Ausweitung staatlichen Handelns. Dabei darf der Staat nach der Lehre von Forsthoff Leistungen auch in privatrechtlicher Form erbringen, ohne dass diese ihren öffentlich-rechtlichen Charakter verlieren. Die Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben wird danach unabhängig von der Art ihrer Organisation als „öffentliche Daseinsvorsorge“ bezeichnet.

Zugleich bedeutet die Lehre von der Daseinsvorsorge eine Begrenzung des privaten Wirtschaftens der öffentlichen Hand. So soll die öffentliche Hand eigene Unternehmen in privater Rechtsform lediglich betreiben, wenn diese Leistungen der Daseinsvorsorge erbringen (vgl. §65 BHO, gleichlautende Ländervorschriften sowie die entsprechenden Vorschriften der Gemeindeordnungen, z.B. §121 HGO). Ferner gelten - heute unbestritten - die Grundrechte auch dann, wenn die öffentliche Hand Leistungen in privater Rechtsform erbringt.

Für die öffentliche Hand ergaben sich daher in der Vergangenheit mehrere Möglichkeiten zur Gewährleistung von Daseinsvorsorge. In dem hier interessierenden Zusammenhang kamen jedenfalls vor Abschluss der EU-Verträge fraglos folgende Modelle in Betracht:

1. Übertragung der Daseinsvorsorge auf öffentliche Monopole (Bsp.: Briefmonopol der Post).

2. Versorgung durch öffentliche Unternehmen in privater Rechtsform, die als Mitbewerber am Markt agieren. (Bsp.: EVU, kommunale Wohnungsunternehmen).

Neuerlich sind folgende Modelle hinzugekommen:

3. Beauftragung von Privatunternehmen mit vertraglichen Auflagen für Mindeststandards (Bsp.: ÖPNV).

4. Versorgung ausschließlich durch Wettbewerb und zugleich dessen (hoheitliche) Regulierung (Bsp.: Telekommunikation).

Variante 1 ist inzwischen problembehaftet. Bei den anderen Varianten muss z.B. bedacht werden, ob die Kontinuierlichkeit der Leistungen und die Einhaltung qualitativer Standards sichergestellt ist (Bsp.: Trinkwasser). Ferner sollten neben Überlegungen zu Effizienz und Preisgestaltung auch Aspekte der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit bedacht werden. Nicht-ökonomische Faktoren wie (lokale oder regionale) Identifikationen und Gewohnheiten könnten ebenfalls zu berücksichtigen sein. Möglicherweise kann lediglich sektorenspezifisch entschieden werden, wie Daseinsvorsorge unter Geltung der Europäischen Verträge sinnvoll zu gewährleisten ist. Bei solchen Überlegungen wird etwa auch von Bedeutung sein, ob für die Versorgung (kapitalintensive) Leitungsnetze erforderlich sind und / oder welches Gewicht Regulierungs- bzw. Qualitätsprobleme haben können.

Begriffliche Abgrenzung

Bis heute bleibt die Frage unbeantwortet, was der Sozialstaat unter dem Aspekt der „allgemeinen öffentlichen Daseinsvorsorge“ zu leisten hat oder (noch) leisten darf. Der Begriff „öffentliche Daseinsvorsorge“ lässt - mit Blick auf sich stetig verändernde gesellschaftliche Verhältnisse möglicherweise zurecht - völlig offen, was denn sein Gegenstand genau ist.

Auch im Kreis der EU-Mitgliedstaaten scheinen unterschiedliche Vorstellungen darüber vorzuliegen, welche Leistungen vom Staat zu gewährleisten und somit unter „Daseinsvorsorge“ bzw. services d'intérêt général oder services of public interest zu verstehen sind.

Die Verwendung des Begriffs in der aktuellen Debatte kann im Übrigen gelegentlich den Verdacht erwecken, dass es hier dem einen oder anderen weniger um das „Gemeinwohl“, sondern eher um politische Machtausübung und Einflussnahme gehen könnte. Hierzu hat zweifellos beigetragen, dass sich viele öffentliche Unternehmen und Anstalten der Daseinsvorsorge über ihre angestammten (reinen Versorgungs-) Aufgaben hinaus weitere Tätigkeitsfelder erschlossen haben und sich dabei zunehmend marktwirtschaftlich und gewinnorientiert gerieren.

Auch die deutschen Ministerpräsidenten, denen der Begriff der „Daseinsvorsorge“ seine aktuelle Renaissance verdankt, verwenden ihn als kompetenzrechtlichen „Kampfbegriff“ bei ihrem Widerstand gegen den der EU-Kommission unterstellten Versuch, unter Berufung auf europäisches Wettbewerbsrecht den öffentlichen Unternehmen in Deutschland den Garaus zu machen. Die vermeintlichen Zugriffe der EU auf die Kompetenzen der Länder und Kommunen in diesem Bereich sollen mit Verweis auf die Daseinsvorsorge abgewehrt werden.

Europäisches Wettbewerbsrecht und öffentliche Daseinsvorsorge

Die wettbewerbsrechtlichen Überprüfungen und Verfahren, die die EU-Kommission gegen die Bundesrepublik durchführt, stützen sich auf Art. 86 und 87 EGV (i. d. F. des Vertrags von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union pp. vom 2. Oktober 1997).

Nach Art. 86 Abs. 2 EGV gilt das Beihilfeverbot grundsätzlich auch für Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse anbieten, es sei denn, die öffentliche Aufgabe würde andernfalls verhindert werden - eine bloße Behinderung reicht demnach nicht aus.

Art. 87 EGV stellt klar, dass staatliche Zuwendungen an Versorgungsunternehmen als Beihilfen zu betrachten und daher nur in Ausnahmefällen mit dem EU-Wettbewerbsrecht vereinbar sind.

Eine neue Hervorhebung erfahren die Dienste von allgemeinen wirtschaftlichen Interesse in dem 1997 durch den Amsterdamer Vertrag eingeführten Art. 16 EGV. Die Vorschrift wird allerdings von einigen eher als Programmnorm verstanden. Welche Rechtswirkung der Art. 16 EGV entfaltet, ist bislang unklar.

In ihrer Mitteilung vom 20. September 2000 - KOM (2000) 580 endgültig -, die sie auf Ersuchen des Europäischen Rats gefertigt hat, verweist die Europäische Kommission ebenfalls auf Art. 16 EGV. Die Mitteilung ist eine aktualisierte Version eines unter gleichem Titel herausgegebenen Kommissionsberichts von 1996. Die Mitteilung erläutert - wenngleich sehr vage - die Anwendung von Wettbewerbs- und Binnenmarktregeln durch die Europäische Kommission und schildert im Übrigen praktische Erfahrungen aus unterschiedlichen Sektoren der öffentlichen Versorgung, die seit 1996 für den Wettbewerb geöffnet wurden. Die Kommission betont die Vereinbarkeit von hohen Standards bei Leistungen der Daseinsvorsorge mit den EU-Wettbewerbs- und Binnenmarktregeln. Sie will Art. 86 EGV nach folgenden Grundsätzen anwenden:

  1. Neutralität in Bezug auf die Eigentumsstruktur von Unternehmen.
  2. Gestaltungsfreiheit der einzelnen Mitgliedstaaten bei der Definition von Leistungen der Daseinsvorsorge; diese werden jedoch durch die Kommission kontrolliert.
  3. Verhältnismäßigkeit soll gewährleisten, dass eine mögliche Einschränkung des Wettbewerbs nicht über das zur Verwirklichung der Ziele erforderliche Maß hinausgeht.

Die Kommission betont, dass Art. 86 EGV lediglich bei wirtschaftlichen Aktivitäten zur Anwendung kommt, die den Binnenmarkt beeinträchtigen können, nicht-wirtschaftliche Aktivitäten demnach vom Wettbewerbsrecht nicht betroffen sind.

Die Mitgliedstaaten sind von der Kommission angehalten, Aufgaben im Rahmen der Daseinsvorsorge auf der lokalen, regionalen und nationalen Ebene eindeutig zu definieren, um größtmögliche Transparenz zu gewährleisten. Dies ist von deutscher Seite bislang nicht geschehen.

Die Zukunft der Daseinsvorsorge?

Aus den bisherigen Überlegungen ergeben sich etwa folgende Fragen:

  1. Welche Vorsorge muss der Sozialstaat gewährleisten und welchem Wandel unterliegt sie?
  2. Kann allgemein bestimmt werden, auf welche Art Daseinsvorsorge am besten zu gewährleisten ist, oder muss eine Abwägung von Fall zu Fall stattfinden?
  3. Welche Vor- bzw. Nachteile weist die Bereitstellung von Gütern der Daseinsvorsorge durch öffentliche bzw. durch private Unternehmen auf?
  4. Welche Rolle sollen und dürfen öffentliche Unternehmen in Bereichen spielen, die immer stärker von Wettbewerbsprinzip und Gewinnstreben charakterisiert sind?
  5. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Organisation von Daseinsvorsorge und Mitsprache- und Teilnahmemöglichkeiten der Bürger?
  6. Wie ist bei der Gewährleistung von Daseinsvorsorge die Kopplung von Liberalisierung mit staatlicher Regulierung zu bewerten?
  7. Welche Kriterien wären bei einer Regulierung ausschlaggebend (Wettbewerb, Gemeinwohl, Kontinuität, Qualität etc.)? Wem steht hierbei die Regelungskompetenz zu?

Die Autoren: Christoph Kulenkampff, Rechtsanwalt und Staatssekretär a.D., war von 2000 bis 2007 Geschäftsführender Vorstand der Schader-Stiftung. Dr. Kirsten Mensch ist Politikwissenschaftlerin und seit 2000 Wissenschaftliche Referentin der Schader Stiftung, Darmstadt. Dipl-Geogr. Claudia Pfeiff war von 2000 bis 2002 Wissenschaftliche Referentin der Schader-Stiftung.

1) Siehe u.a. E. Forsthoff, 1938: Die Verwaltung als Leistungsträger Stuttgart / Berlin: Kohlhammer.

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