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Nord und Süd. Der europäische Himmelsrichtungsstreit

Artikel vom 29.05.2010

„Das zusammenwachsende Europa profitierte entscheidend von der Entwicklung, die das deutsch-französische Verhältnis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahm. Von der Feindschaft zur Aussöhnung und schließlich zur Freundschaft: Eine Erfolgsgeschichte. Die Rede vom deutsch-französischen Motor, der Europa vorangebracht habe, benutzte eine passende Metapher. Diesen Motor müssen wir wieder in Gang setzen, wenn Europa aus seiner gegenwärtigen Krise herausfinden will – im Norden wie im Süden.“ Von Wolf Lepenies

Nord und Süd. Der europäische Himmelsrichtungsstreit

Vortrag anlässlich der Verleihung des Schader-Preises am 29. Mai 2010

In meiner wissenschaftlichen Arbeit und in meinen wissenschaftspolitischen Projekten hat die Kooperation mit Frankreich eine wichtige Rolle gespielt. Angehörige meiner Generation, die das Ende des Zweiten Weltkriegs noch als Kinder miterlebt haben, erinnern sich daran, dass die deutsch-französische Freundschaft unseren Eltern wie ein Wunder vorkam - und dass sie unseren Großeltern als ganz unmöglich und auch nicht als übermäßig erstrebenswert erschien. Nun benutzen bereits seit Jahren Schüler beider Länder ein deutsch-französisches Geschichtsbuch. Das schönste Kompliment dafür stammt von einem Pariser Historiker, der feststellte, dass es für die heutige Jugend selbstverständlich sei, aus einem deutsch-französischen Lehrbuch zu lernen und hinzufügte: "Meine Oma ist entsetzt." Ich weiß nicht, ob die alte Dame noch lebt. Heute jedenfalls brauchte sie sich über ein zu enges deutsch-französisches Verhältnis nicht zu grämen.

Es war ein Amerikaner mit deutschem Akzent, der 1989 prophezeite, Frankreich werde das Hauptopfer des Mauerfalls sein. Henry Kissinger hatte recht: Frankreich musste die Führungsrolle in Europa an das vereinte Deutschland abgeben. Die Zeit der Zurückhaltung war vorbei. Bald erinnerte die selbstbewusste Sprache der Deutschen die Franzosen an den neureichen Bourgeois, der zu seinem Sohn sagte: "Sprich laut, wir sind reich!"

Der drohende Bankrott Griechenlands hat den Euro beschädigt und zu einer Destabilisierung der Europäischen Union geführt. Diese ist nicht nur an den Rändern der Union, sondern in ihrem Zentrum sichtbar. Auch wenn alles getan wird, um sie zu überdecken: Die Dissonanzen im deutsch-französischen Verhältnis wachsen. Schon liegt der Vorschlag auf dem Tisch, die Gemeinschaftswährung zu spalten: In einen Euro-Süd und einen Euro-Nord. Das deutsch-französische Tandem strebt, was die Finanz- und Wirtschaftspolitik angeht, in entgegengesetzte Richtungen. Es steht still.

Europa durchlebt einen Nord-Süd-Konflikt. Neben Irland und Portugal gelten die Mittelmeer-Länder Griechenland, Italien und Spanien als Hauptschuldige der Euro-Krise. Im Februar 2007 verkündete Nicolas Sarkozy in Toulon: "Europas Zukunft liegt im Süden". Und der aus einer marokkanischen Familie stammende Sozialist Dominique Strauss-Kahn, der bald darauf Direktor des Internationalen Währungsfonds wurde, erklärte, Europa werde nur in enger Kooperation mit dem Mittelmeer überleben. Heute naht Unheil vom Mittelmeer. Und so wird ein Konflikt wieder aktuell, der vor zwei Jahren nicht gelöst, sondern nur vertagt wurde. Gegenstand des Konflikts war die sogenannte Mittelmeer-Union. Der Versuch ihrer Gründung erinnerte an innereuropäische Spannungen, die man längst überwunden glaubte.

Am 13. Juli 2008 trafen sich im Pariser Grand Palais die Staats- und Regierungschefs aus 43 Ländern, um die Union pour la Méditerranée zu gründen. Präsident Sarkozy wollte damit die alte Idee einer Koalition der lateinischen Kulturen wiederbeleben - angestiftet von einem Berater (Henri Guaino), der im provençalischen Arles geboren wurde, eine spanische Mutter hat und sich stolz einen "Mann des Midi" nennt. Ziel dieser Koalition sollte es nicht zuletzt sein, unter Führung Frankreichs die Verbindung Südeuropas zu den afrikanischen Anrainern des Mittelmeers zu stärken und die Beziehungen mit der islamischen Welt zu verbessern. Sarkozy hatte es eilig. Sein Vorgehen ähnelte einem Parforce-Ritt à la Bonaparte - und irritierte die deutsche Kanzlerin. Angela Merkel war es, die mit ihrem Machtwort den Plan zur Bildung einer Mittelmeerunion vereitelte, der nur die Anrainerstaaten des "mare nostrum" angehören sollten. Auf deutschen Druck wurde die Mittelmeerunion zum gesamteuropäischen Projekt erklärt. An die Stelle der Union méditerranéenne trat die "Union für das Mittelmeer" mit der Hauptstadt Brüssel. Damit wurde der Nord-Süd-Konflikt innerhalb der Europäischen Union nur vertagt und schließlich verschärft.

Die Gründungsversammlung der Union pour la Méditerranée eröffnete Nicolas Sarkozy mit den Worten: "Davon haben wir geträumt. Die Union für das Mittelmeer ist Wirklichkeit geworden." Niemanden in Frankreich hätte es gewundert, wenn der französische Staatspräsident ausgerufen hätte: "Ich habe das Mittelmeer leidenschaftlich geliebt." Mit diesem Satz beginnt das Meisterwerk des großen französischen Historikers Fernand Braudel aus dem Jahre 1949 "Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II."

Schon als Sarkozy, der damals noch Präsidentschaftskandidat war, am 7. Februar 2007 in Toulon seine künftige Mittelmeerpolitik skizzierte, war anerkennend die Rede davon, dass er "seinen Braudel" gelesen habe. In Frankreich kann man nicht über das Mittelmeer sprechen, ohne Fernand Braudel zu zitieren. Eine 2007 publizierte Studie des französischen Generalstabs, der aus sicherheitspolitischen Gründen seit langem auf eine Mittelmeerunion drängt, beginnt mit dem Kapitel "Auf den Spuren von Braudel". Die Vorliebe ihres Präsidenten für die große Geste ironisierend, forderte die französische Presse die Historiker des Landes auf, ein neues Buch zu schreiben: "Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche des Nicolas Sarkozy". "Le Monde" mahnte seine Leser, jetzt, da sich in Paris die Staatsoberhäupter versammelten, um "das Mittelmeer in eine Region des Friedens und des Wohlstands" zu verwandeln, sei der Augenblick gekommen, um den großen Braudel wiederzulesen – oder ihn endlich zum ersten Mal zu lesen. Es war ein Echo der Worte, die Braudels Lehrer Lucien Febvre dem Buch seines Schülers mit auf den Weg gab, als es 1949 erschien: "Lest, lest wieder und wieder dieses exzellente Buch. Macht es zu Eurem Begleiter.

Vollständig lautet der erste Satz in Braudels Buch: "Ich habe das Mittelmeer leidenschaftlich geliebt, vermutlich weil ich – wie so viele andere und nach so vielen anderen – aus dem Norden kam." Das ist Koketterie, denn Braudels Herkunft aus Lothringen hat ihn weit weniger geprägt als die Jahre, die er – von 1923 bis 1932 – als Lehrer in Algerien verbrachte. Algier, der "weißen Stadt" im Harlekinsgewand, in der zu Anfang des 16. Jahrhunderts "Berber und Andalusier, zum Islam konvertierte Griechen und Türken bunt durcheinander lebten", hat Fernand Braudel in seinem Buch ein Denkmal gesetzt.

"Mare nostrum" nennt Braudel das Mittelmeer immer wieder; seiner "komplexen, sperrigen, außergewöhnlichen Persönlichkeit" gilt seine Leidenschaft. Die drei monotheistischen Religionen, die athenische Demokratie, das römische Recht, die arabische Medizin – sie alle sind Produkte des Mittelmeers. "Von den Olivenpflanzungen bis zu den großen Palmenhainen" erstreckt sich, so Braudel, eine Welt, in der ihr Bewohner, wohin er auch verschlagen wird, sich heimisch fühlt. Ihm wird überall das Glück zuteil, "im Angesicht der gleichen Bäume, der gleichen Pflanzen, der gleichen Landschaften zu leben, das gleiche Essen auf dem Tisch zu haben, den gleichen Himmel zu schauen, den vertrauten Rhythmus der Jahreszeiten wiederzufinden." Braudel leidet mit einem Reisenden des 16. Jahrhunderts, der von seinem Ausflug in den Norden Europas berichtet, wo es weder Lavendel noch Thymian gibt und "wo die Speisen, man sollte es kaum glauben, mit Kuhbutter statt mit Öl angerichtet werden."

Dieses "nördliche Europa jenseits der Olivenhaine" tritt dem Mittelmeer feindlich entgegen. Es ist "ein Europa, das der Reformation offen steht, das Europa der neuen Länder, die mit ihrem aggressiven Auftreten den Anbruch der sogenannten Neuzeit auf eigene Weise charakterisieren". Und der "nordische, atlantische, internationale Kapitalismus" mit "seiner jugendlichen Kraft und seinen scharfen Zähnen" ist verantwortlich dafür, dass das Mittelmeer bald nach dem Tode König Philipps II. am 13. September 1598 "nicht mehr der tosende Mittelpunkt der Welt ist". Die Spannungen zwischen Europa und dem Mittelmeer, so der Historiker Braudel, übertragen sich in die Gegenwart: "Das Mittelmeer, das den Süden Europas schon immer stark beeinflusst hat, hat nicht wenig dazu beigetragen, eine europäische Einheit zu verhindern. Es zieht Europa in seinen Bann, sprengt seinen Zusammenhalt zugunsten eigener Interessen." Stärker als die Sehnsucht nach einem vereinten Europa ist der Wunsch nach einem Europa übergreifenden Zusammenschluss der Mittelmeerländer, "die Herstellung eines immer neuen Gleichgewichts und der unumgängliche Austausch" zwischen ihnen.

Die alte Mittelmeerpolitik Frankreichs wurde nach 1989 wiederbelebt. Sie war eine Reaktion auf die Osterweiterung der EU, die Deutschland in den Mittelpunkt des Kontinents rückte und der Bundesrepublik einen noch größeren politischen Einfluss verschaffte. Innerhalb der Europäischen Union spielte auf einmal die Geopolitik der Einzelstaaten wieder eine Rolle. Die Partnerschaft zwischen Europa und den Mittelmeerländern, 1995 auf der Konferenz von Barcelona beschlossen, war ein Versprechen geblieben. Die von Sarkozy entworfene Mittelmeerunion sollte die euromediterrane Nachbarschaft beleben und ein Gegengewicht zur deutschen Einflusssphäre bilden. Angela Merkels Veto machte der Union méditerranéenne ein Ende.

Die Pläne Sarkozys hatten in einigen Mittelmeerländern und selbst in Frankreich nicht nur Zuspruch gefunden. Die Zeitschrift "Jeune Afrique" verwahrte sich gegen die Ambitionen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Die Jerusalemer Zeitung "Haaretz" hielt Sarkozy vor, den "poetischen Träumereien" eines Fernand Braudel zu folgen; Sarkozys eigener Europastaatssekretär blieb skeptisch, und "Le Monde" war frech genug, nach dem Scheitern der Mittelmeerunion einen Leitartikel mit der Überschrift zu versehen: "Merci, Madame Merkel". Das Misstrauen gegenüber Deutschland wurde dadurch nicht geringer. Warum mussten sämtliche EU-Mitglieder der Union für das Mittelmeer angehören, während nur die fünf nordischen Länder, die Staaten des Baltikums, Polen, Russland und Deutschland den Ostseerat bildeten? In der französischen Presse war vom "Diktat" der deutschen Kanzlerin die Rede und von einem "politischen Verdun", das die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland auf lange Zeit beeinträchtigen werde. Hier liegen die Wurzeln der gegenwärtigen deutsch-französischen Krise.

Die Erinnerung an Braudel und sein Mittelmeerbuch konnte antideutsche Gefühle wachrufen. Braudel gehörte zu einer Historikerschule, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in Strassburg gebildet hatte – am Sitz der ehemaligen deutschen Reichsuniversität, wo Frankreich nunmehr seine kulturelle Überlegenheit gegenüber Deutschland zu beweisen suchte. Im Zweiten Weltkrieg spielte diese Historikergruppe im Widerstand gegen die nationalsozialistischen Besatzer eine wichtige Rolle und hatte große Opfer zu beklagen. Dazu gehörten der Historiker Marc Bloch, der als Mitglied der Résistance 1944 von der Gestapo gefangen, gefoltert und in der Nähe von Lyon erschossen wurde und der Soziologe Maurice Halbwachs, der im März 1945 im KZ Buchenwald starb.

Fernand Braudel erinnerte mich bei unserem ersten Treffen in der Pariser Maison des Sciences de l'Homme am Boulevard Raspail daran, dass im gegenüberliegenden Belle Epoque-Gebäude des Hotels "Lutétia" im Zweiten Weltkrieg das Hauptquartier der Gestapo gewesen war. Nach Kriegsende richtete man dort einen Sammelplatz für überlebende KZHäftlinge ein. Braudel war 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Sein Mittelmeerbuch hatte er unter widrigen Umständen zunächst auf der Zitadelle in Mainz und dann in einem Lager in Lübeck geschrieben. Er sprach von dieser Zeit ohne Ressentiment, doch mit dem berechtigten Stolz, der dem Geist ansteht, wenn er widrige äußere Umstände zu bezwingen in der Lage ist.

In der Auseinandersetzung zwischen Norden und Süden spielte auch für Braudel die "Latinität" eine große Rolle. Dieses Wort zeigt, wie tief die Wurzeln des europäischen Himmelsrichtungsstreits liegen. Nach dem verlorenen Kritik gegen Preußen geriet Frankreich 1870/71 in eine Identitätskrise, die Politik und Geistesleben unserer Nachbarn gleichermaßen umfasste. Der Midi, so klagte man, hatte endgültig gegen den Norden verloren, von nun an würden die protestantischen Länder über das Schicksal Europas entscheiden. Gustave Flaubert sah "das Ende einer Welt" gekommen: "Wie traurig ich bin! Ich fühle es, wie die lateinische Welt stirbt." Ausgerechnet die "Latinität" aber wurde auf dem linken Ufer des Rheins zum Schlagwort der Revanche. Man beschwor die Erinnerung an das römische Imperium; eine "lateinische Renaissance" sollte auf dem Gebiet der Kultur den Boden für den künftigen militärischen Sieg über Deutschland vorbereiten.

Als dieser Sieg 1918 errungen war, durchlebte nunmehr Deutschland eine Krise seines Selbstverständnisses, der gegenüber, so Thomas Mann, die Niederlage Frankreichs 1870/71 wie ein "Kinderspiel" erschien. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs führte nach Kriegsende in Deutschland zu einer aggressiven Abwehr des "lateinischen Geistes" und zur Abkehr vom Westen. "Der Untergang des Abendlandes" erschien 1918; Oswald Spengler prophezeite schadenfroh, dass die lateinischen Völker in Zukunft nur noch eine Komparsenrolle auf der Weltbühne spielen würden. Seine geistigen und politischen Verbündeten suchte Deutschland nunmehr im Osten – der Osten reichte dabei von Russland bis nach Indien und Japan. Die Franzosen erschreckte das "asiatische Denken", das in Deutschland im Feuilleton zur Mode und in der Politik zum Programm wurde. Mode und Programm aber waren kurzlebig. 1922 unterzeichneten der deutsche Außenminister Walther Rathenau und sein russischer Kollege den Rapallo-Pakt. Die Ost-Orientierung des Deutschen Reiches war offenkundig besiegelt. Doch nur drei Jahre später schlossen Stresemann und Briand den Vertrag von Locarno – und teilten sich im Dezember 1926 den Friedensnobelpreis. Die deutsch-französische Aussöhnung schien, wie zur Zeit Karls des Großen, das germanische und das lateinische Europa im Zeichen der Demokratie wieder zusammenzuführen. Tatsächlich sollte diese Zusammenführung im Zeichen der Diktatur geschehen. Die faschistischen Bewegungen in Italien und Frankreich stärkten zunächst die "lateinische Idee". Vor der Machtergreifung Hitlers bezeichnete Mussolini den Faschismus als ein "italienisches Gewächs". Der Franzose sei für den Italiener wie ein Bruder, um den Engländer zu verstehen, müsse er sich anstrengen, mit den Deutschen im Norden aber sei kaum ein Verständnis möglich. Worauf es in Europa ankomme, sei die Schaffung eines "lateinischen Blocks".

 

Dann aber wurden durch die Machtausbreitung des nationalsozialistischen Deutschland Kompromisse notwendig, die aus dem europäischen Nord-Süd-Gegensatz eine germanisch-lateinische Koalition der Diktaturen machten. Nach 1933 änderten sich das Vokabular und die Einstellung Mussolinis. Der Faschismus wurde auf einmal zum "römischen Preußentum". Dabei überlebten Differenzen in Weltanschauungsfragen; der Kern der NS-Doktrin blieb den italienischen Faschisten fremd. Für Mussolini gab es keine "lateinischen Rassen". Es gab nur einen "lateinischen Geist" und eine "lateinische Zivilisation". Die französischen Faschisten spaltete die Frage nach der Bedeutung der "Latinität". Kollaborateure aus der Provence hielten auch gegenüber dem von ihnen bewundertem Nationalsozialismus an ihrer Germanophobie fest. Pariser Mitläufer dagegen setzten dem mediterranen ein "nordisches" Frankreich gegenüber und sahen in der Ile-de-France die Kernregion Europas, in der lateinische und germanische Kultur, das Mittelmeer und der Norden, sich erneut miteinander verbanden.

Schon Walther Rathenau hatte für die Nachbarn jenseits des Rheins, die sich dem Einfluss Deutschlands nicht entziehen konnten, das Wort vom "Kompromissfranzosen" gefunden. Mit den Eroberungszügen des nationalsozialistischen Deutschland wuchs auch in den "lateinischen" Ländern die Zahl der "Kompromisseuropäer". Die Behauptung des Propagandaministers Goebbels, der römische und der preußische Staatsgedanke seien die wirkungsvollsten "Weltideen" und würden nun miteinander verschmelzen, fand in ganz Europa Anhänger. In seinen "Briefen an einen deutschen Freund", die 1943/44 geschrieben wurden, beklagte Albert Camus, dass der Gedanke an ein vereintes Europa durch die Nazis auf unabsehbar lange Zeit vergiftet worden war.

Die Nazis hatten Europa zur Vision eines Kontinents pervertiert, auf dem eine Herde unterwürfiger Nationen von deutschen Herrenmenschen in eine glänzende Zukunft geführt wurde. Das sogenannte "Dritte Reich" hatte sich den römischen Reichsgedanken angeeignet und diesen damit auf immer kontaminiert. Der Begriff der "Latinität" war durch die Allianz von Faschismus und Nationalsozialismus befleckt. Der in Algerien geborene Albert Camus weigerte sich, ihn zu benutzen. An die Stelle der Latinität trat für ihn die "pensée méditerranéenne", das mittelmeerische Denken. Das Mittelmeer war für Camus die Region, die den Ideologien widerstanden hatte. Sie setzte eine die unterschiedlichen Völker miteinander verbindende Lebensart an die Stelle des Rassedenkens, das die Menschen voneinander trennte.

Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich Europa für Camus immer noch in einem Kampf zwischen "Midi und Mitternacht"; Gefahr drohte den Kulturen des Mittelmeers nach wie vor von den Zivilisationen des Nordens. Deutschland spielte dabei eine herausragende Rolle. Erst die Bildung der Montanunion nahm dieser Angst die Grundlage. Kohle und Stahl banden Frankreich und Deutschland bald eng aneinander. Die römischen Verträge besiegelten die Europäische Gemeinschaft; der Nord-Süd-Gegensatz trat jetzt in den Hintergrund. Er spielte erst nach 1989 wieder eine Rolle, als die Osterweiterung der EU das politische Gewicht Deutschlands vergrößerte und Frankreich als Kompensation eine Südschiene aufzubauen versuchte. Die gegenwärtige Krise der Europäischen Union, die mehr ist als eine Finanzkrise - es handelt sich um eine Vertrauenskrise - macht die Wiederbelebung dieses Projekts auf lange Sicht unwahrscheinlich. In Frankreich drohen Ressentiment und Misstrauen gegenüber Deutschland zu wachsen.

1928 macht sich Annette Kolb, femme de lettres, Tochter einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters, auf den Weg nach Paris. Sie will Aristide Briand besuchen, den französischen Außenminister, dessen bevorzugter Partner sein deutscher Kollege Gustav Stresemann ist. Durch langjährige Entfremdung, davon ist Annette Kolb überzeugt, hat sich zwischen Deutschen und Franzosen ein unparadiesischer Zustand der Unschuld ergeben: Sie sind derart verschieden, dass sie es nicht einmal bemerken. Die Schriftstellerin will Politik machen. Und die Politik, so schrieb Annette Kolb, "gipfelte für mich in dem einzigen Problem, dass Deutsche und Franzosen sich vereinigen sollten. Um den Roman dieser Promessi Sposi drehte sich unser Planet; es galt sein gutes Ende, nichts anderes war dringlich. Die anderen Länder spielten nur Nebenrollen, England die des Verwandten. Gab es einen Osten? Den Balkan? Das Russische Reich? Die Donaustaaten? Alle nicht wichtig, sie kamen erst später dran. Erst galt es, das schon einmal unter Karl dem Großen verwirklichte, also verwirklichbare große westliche Reich. Dann war die Welt erlöst." 

Aus den "Promessi Sposi" wurde ein Paar. Die Welt wurde nicht erlöst, aber das zusammenwachsende Europa profitierte entscheidend von der Entwicklung, die das deutsch-französische Verhältnis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahm. Von der Feindschaft zur Aussöhnung und schließlich zur Freundschaft: Eine Erfolgsgeschichte. Die Rede vom deutsch-französischen Motor, der Europa vorangebracht habe, benutzte eine passende Metapher. Diesen Motor müssen wir wieder in Gang setzen, wenn Europa aus seiner gegenwärtigen Krise herausfinden will – im Norden wie im Süden.

Der Autor: Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies war Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin und erhielt 2010 den Schader-Preis.

 

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